»Ist es das hier?«, frage ich, während ich in einem am Feldrand gelegenen Hain am Fuße einer Grube stehe. Die Wände des etwa einen Meter tiefen, beinahe quadratischen Erdlochs sind mit Steinen ausgekleidet. Wurden sie dort von Menschenhand eingesetzt? Gemeinsam mit meinem guten Freund Matti aus Armeezeiten will ich drei Tage lang durch den Nationalpark Sipoonkorpi wandern. Wir befinden uns in Hindsby am Rande des Parks. Bei der Grube, auf die wir blicken, handelt es sich um eine steinzeitliche Behausung. Oder das wollen wir zumindest glauben.
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Vor ein paar Wochen war ich bei meinen Schwiegereltern in Porvoo am Finnischen Meerbusen zu Besuch und fand dort ein Buch über die alte Geschichte der benachbarten Gemeinde Sipoo. Da ich mit meiner Familie vor ein paar Jahren dorthin gezogen war, fand ich das Thema ganz interessant. Das Buch behandelte unter anderem das steinzeitliche Leben in der Region und ich lernte etwas über altertümliche Wohnstätten, Steinzeitgräber, Jahrhunderte alte Festungen, chinesische Kriegsgefangene und Landstriche, die früher noch von Wasser überflutet waren.
Beim Stöbern kam mir die kuriose Zeichnung einer Trojaburg in den Sinn, die mir vor einiger Zeit an der Wand der alten Kirche von Sipoo aufgefallen war. Trojaburgen sind Steinsetzungen in Labyrinthform, die unter anderem an den finnischen Küsten zu finden sind. Zu welchen Zwecken sie ursprünglich dienten, ist nicht bekannt. Einer Theorie zufolge wurden darin Fruchtbarkeitsrituale abgehalten. Stimmt es wirklich, dass die Spuren des alten Finnlands und seiner Bewohner noch heute in seinen Wäldern, auf den Feldern, Felsen und Inseln sichtbar sind? Stecken unsere Wälder voller Geschichten? Wir beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Kulturlandschaften wie in Lappland
Die Grube, die wir begutachten, liegt am nordöstlichen Rand des Nationalparks Sipoonkorpi neben einem Feld in einem kleinen Hain. Der offiziellen Erklärung der finnischen Altertumsbehörde zufolge wurde diese Grube in der Steinzeit, das heißt vor ungefähr siebentausend Jahren, als Wohnstätte genutzt. Nach der Eiszeit sah Finnland noch ganz anders aus als heute: Vor allem viele Gebiete entlang der Küste waren damals noch von Wasser bedeckt. So auch Sipoo. Der kleine Wald, in dem wir gerade stehen, war nichts weiter als eine kleine Landzunge. Vielleicht saß genau hier, am Strand, vor siebentausend Jahren tatsächlich ein steinzeitlicher Sipooaner. Wie mag er wohl ausgesehen haben? Was ging in seinem Kopf vor?
Vielleicht saß genau hier, am Strand, vor siebentausend Jahren tatsächlich ein steinzeitlicher Sipooaner.
Wir lassen die Grube hinter uns und setzen unsere Wanderung fort. Wenn sich hier wirklich Relikte aus der Steinzeit finden lassen, wollen wir sie nicht mit unseren eigenen Spuren überdecken. In Hindsby treten wir in das Gelände des Nationalparks Sipoonkorpi ein. Durch das Feld vor uns fließt der Bach Byabäcken, in dem trotz seiner geringen Größe Lachse schwimmen. Aus dem gewöhnlichen Mischwald mit seinen Fichten, Kiefern und Heidelbeersträuchern wird ein trockener, reiner Kiefernwald. Es ist, als ob wir von einem Moment auf den nächsten an einem völlig anderen Ort wären. Wirklich beeindruckend, wie schnell sich der Wald und die Natur um einen herum wandeln können.
Eine leichte Note von Sumpfporst liegt in der Luft. Vor uns eröffnet sich ein Aapamoor, wie man es eigentlich nur aus Lappland kennt. Überraschen würde es uns nicht, wenn uns gleich auch ein paar Rentiere über den Weg laufen würden. Rentiere gibt es in Sipoo aber keine. Wölfe dafür umso mehr, immerhin ist das Gemeindemaskottchen ein Wolf und der örtliche Fußballverein nennt sich »Sibbo vargar«, die Sipooer Wölfe. Ob dieser schwedische Name im Ursprung tatsächlich den Wolf meinte oder sich doch vielleicht vom altertümlichen Wort »varjäger« für Wikinger ableitete? Wir treffen zum Glück weder Wikinger noch Wolf an.
Eine Wildnis vor den Toren der Hauptstadt
Sipoonkorpi ist alles andere als ein einfaches Terrain für mehrtägige Wanderungen. Es gibt zwar viele Wege, aber nur die wenigsten davon sind in Landkarten verzeichnet. Wir lassen den sumpfigen Duft hinter uns. Die Kiefernlandschaft wird wieder zum vertrauten Mischwald, aber schon bald erinnert der trockene Pfad eher an einen feuchten Graben. Besser, wir wandern neben dem Weg weiter. Die Erde ist feucht und wem trockene Wanderschuhe ein Bedürfnis sind, der sollte genau hinsehen, wohin er tritt. Lange Wanderungen sind hier schon alleine deshalb beschwerlich, weil es nur wenige Zeltplätze gibt. Neben dem in Ängesböle an unserem Startpunkt Hindsby gibt es noch einen im südlichen Teil des Nationalparks. Eine Alternative wäre natürlich, unter Berufung auf das Jedermannsrecht außerhalb des Parks zu zelten, aber wenn es schon Campingmöglichkeiten hier in Sipoonkorpi gibt, sollte man die auch nutzen.
Unser nächstes Ziel ist das Sumpfgebiet bei Myyras im westlichen Teil des Nationalparks. Inmitten des Waldes liegt ein kleines, vergessenes Feld. Hier wurde schon jahrelang nichts mehr angebaut. Aus Weiden wird Ackerland, aus Ackerland wird Wald, wenn es nicht mehr bestellt wird. Auf diese Weise erobert sich die Natur das vom Menschen aufgegebene Land zurück. Die Erde wird zunehmend weicher und feuchter. Auf den Sümpfen sind noch Überreste eines alten Holzstegs zu finden, der seine besten Tage schon hinter sich hat. Zwischen Gehölz und Moor führen aber glücklicherweise Wege, die unsere Füße halbwegs trocken halten – bis sich vor uns ein Sumpf auftut, der zwar schmal, aber unumgehbar breit ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als durchzuwaten. Spätestens jetzt sind die Schuhe durchnässt.
Wir sehen vor uns einen breiten Pfad. Wir sind am Dorf Viirilä am westlichen Rand des Nationalparks angelangt. An der Kreuzung zur Vanha Porvoontie steht eine schlanke Gestalt in orangefarbener Jacke. Rolf Törrönen ist ein waschechter Sipooaner, der seine Rente mit Natur- und Wanderführungen aufbessert. Rolf hat sich bereit erklärt, uns durch den Nationalpark zu führen.
Historische Scherben
Die Vanha Porvoontie ist auch als »Königsstraße« bekannt. Was diese Landstraße so besonders macht, ist ihre Geschichte: Sie beginnt im 14. Jahrhundert, als sie die östlichen und westlichen Teile der Großmacht Schweden verband. Über die Königsstraße gelangte man vom norwegischen Bergen bis hinunter in das heute russische Wyborg. Damals war dies der bedeutendste Verkehrsweg in ganz Finnland.
Wir stehen zu dritt am Rande eines Feldes neben der Königsstraße. Das Feld sieht aus, wie Felder in Finnland eben aussehen und neben uns steht eine gewöhnliche, leicht verwitterte Scheune. Es muss ein Bild für Götter sein, wie wir alle abwechselnd immer mal erneut in die Hocke gehen, um dann wieder aufzustehen. Aber dies nicht ohne Grund, denn wir suchen etwas ganz Bestimmtes. Die Stelle, an der wir uns gerade befinden, ist ein ehemaliges Fabrikgelände. Hier errichtete der Helsinkier Kaufmann Johan Sederholm 1779 ein Glaswerk. Dem Erfolg der hochwertigen Produkte der Marke Mariendal zum Trotz sollte die Fabrik nicht lange währen: Sie wurde im Jahr 1824, also vor fast 200 Jahren, stillgelegt. Vom eigentlichen Fabrikgebäude ist heute nichts mehr übrig. Aber wenn man die Erde an dieser Stelle mit den Fingern durchkämmt, findet man Dutzende kleiner grünlicher Glasscherben. Kaum zu glauben, wie viele Überreste auch heute noch im Boden zu finden sind. In unseren Händen funkeln die unterschiedlich geformten und verschieden großen Scherben wie ungeschliffene Smaragde.
Gletschertöpfe im Regenwald
Wir begeben uns zurück in das Gelände von Sipoonkorpi. Die Vegetation in den Wäldern des Nationalparks ist stellenweise richtig verwildert, die Bäume sind alt und hoch. Bei feuchtem Wetter bildet sich hier ein regenwaldähnliches Mikroklima und die Farne am Boden machen das tropische Bild perfekt. Rolf, der sein ganzes Leben in den Wäldern von Sipoo verbracht hat, führt uns sicher dem nächsten Ziel entgegen: Irgendwo im Nationalpark soll es sogenannte Gletschertöpfe geben, Aushöhlungen, die das Wasser der schmelzenden Gletscher am Ende der Eiszeit in das Gestein gefressen hatte.
Nach dem finnischen Volksglauben sind Gletschertöpfe heilige Orte, die vom Troll Hiisi aufgesucht werden, der von den Menschen früher sowohl angebetet als auch gefürchtet wurde. Legten die Bewohner des steinzeitlichen Sipoo hier ihre Opfergaben ab oder wurden die Gletschertöpfe gefürchtet und gemieden? Wir setzen unseren Marsch durch Sipoonkorpi fort. Stellenweise ist das Gelände so schwer zugänglich, dass wir am liebsten umkehren würden. Aber dann erspähen wir durch die Bäume und die hochgewachsenen Sträucher endlich ein Feld und daneben einen Bauernhof. Wir haben es wahrhaftig geschafft, Sipoonkorpi zu durchqueren! Wir danken Rolf Törrönen für die Führung und die nette Gesellschaft und machen uns allein auf den Rückweg, zurück durch den Nationalpark.
Festungen und die Wiege der Menschheit
Auch wenn die Wälder von Sipoo an manchen Stellen an einen Primärwald erinnern, war ihr Zustand nicht immer so unangetastet. Denn vor etwa einhundert Jahren waren diese Wälder voll von chinesischen Kriegsgefangenen und wurden weitläufig abgeholzt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges brachte der russische Zar Tausende mandschurische Gefangene für Holzfällarbeiten in die Wälder des Großfürstentums Finnland. Mit dem gefällten Holz sollten überall im Land Festungen gebaut werden. Die Gefangenen wurden von den Einheimischen »Rotbärte« genannt und sie wurden gefürchtet, so wie der Mensch auch heute leider noch oft Angst vor dem Fremden hat.
Am letzten Tag unserer Wanderung schreiten wir hauptsächlich auf kleinen Schotterwegen durch die alte Landschaft. Es ist schwer zu begreifen, dass wir keine zwanzig Minuten von Helsinkis Zentrum entfernt sind. Am südlichen Teil der Straße Uusi Porvoontie liegt ein Feld, an das ein größerer Hügel angrenzt. Bei näherem Hinsehen hebt sich dieser Hügel von der Natur ab und es wird klar, dass hier der Mensch am Werk war. Wir sind an der Burg Sibbesborg angelangt.
Bei näherem Hinsehen hebt sich dieser Hügel von der Natur ab und es wird klar, dass hier der Mensch am Werk war.
Einer alten örtlichen Legende zufolge wurde die Sibbesborg von einem Wikinger namens Sibbe erbaut, nach dem später auch die gesamte Gemeinde benannt wurde. Seine Brüder, Helsing und Borg, bauten ihre eigenen Burgen im heutigen Helsinki und Porvoo. Von der Burg selbst ist heute nichts weiter übrig als der um den Hügel verlaufende stattliche Burggraben, auf dem hohe Eichen wachsen.
In Luftlinie gemessen ist die Tour, die wir an diesem Wochenende bewältigt haben, nur gute zwanzig Kilometer lang, die sich aufgrund des schwierigen Geländes aber nach mehr als doppelt so viel anfühlen. Wir laufen weiter in das Dorf Gumbostrand. Spätestens jetzt sind die vom Sumpf durchnässten, ledernen Wanderschuhe schwere Klötze an unseren Fü.en. Zum Glück ist es nicht mehr weit. Vor uns zeichnet sich ein mit Geröll bedeckter steiler Fels ab, der Kyypelinvuori.
Wir haben die Ausgrabungsstellen des exzentrischen Lebenskünstlers Ior Bock erreicht. Bock war überzeugt, dass hier, tief im Kyypelinvuori, die Wiege der Menschheit versteckt liegt, woraufhin er es sich zur Aufgabe machte, in der heute von Wasser durchfluteten Höhle den Tempel von Lemminkäinen zu finden. Lemminkäinen ist einer der Helden des finnischen Nationalepos Kalevala und die überlieferte Familiensaga von Bock besagt, dass in den 987 verschlossenen Kammern des Tempels das Gold der früheren Herrscher aufbewahrt ist. Bock starb im Jahr 2010 und mit seinem Tod nahmen auch die Ausgrabungen ein Ende.
Auf einem schmalen, schluchtartigen Steig klettern wir an die Spitze des Kyypelinvuori. Was käme unter dem ganzen Wasser in der Höhle wohl zum Vorschein? Ohne diese Geschichte wäre auch dieser Ort ein ganz gewöhnlicher Felsen inmitten eines gewöhnlichen Waldes. Vom Gipfel aus erblicke ich dann aber eine mir bekannte labyrinthartige Formation aus Steinen: eine Trojaburg, wie sie im Buche steht.