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Jim Danielsson ist durch Stürme, Nebelbänke und Sonnentage gepaddelt. Vor anderthalb Jahren erreichte er die magische Zehntausend-Meilen-Grenze. Aber seine Fahrt durch die nordischen Gewässer geht weiter. Wir begegnen einem legendären schwedischen Kajakfahrer, der sich am wohlsten fühlt, wenn er auf See ist.
Am 25. November 2005 hatte es in Stockholm noch nicht geschneit, das Wetter war trist und stürmisch. Wer eben konnte, blieb im Haus. Aber auf dem östlichen Teil des Mälarsees, in den Gewässern um Schloss Drottningholm, paddelte ein 72-jähriger Mann in seinem gelben Meerkajak stetig geradeaus. Jim Danielsson war unterwegs zur Verbindung zwischen Mälaren und Lillsjön bei Sundbyberg, zu dem Ort also, wo er so oft seine Kajakfahrten begonnen und beendet hatte. Dort war er mit seiner Frau Gun verabredet. »Wir sehen uns in einer halben Stunde an der Biberhütte«, hatte er ihr über sein Mobiltelefon mitgeteilt. Als der Kajak an Land glitt, wartete Gun schon mit einer Thermosflasche Kaffee, zwei Törtchen und einem handgeschriebenen kleinen Schild: »100 000 Kilometer. 25.11.2005, 14.35 Uhr«. Es wurde später in der Garage aufgehängt, in der Jim seine fünf Kajaks aufbewahrt. Jim und Gun tranken Kaffee und ließen sich die Törtchen schmecken. Dann radelte Gun im Regen nach Hause, während Jim weiter paddelte.
In der Chronik des schwedischen Outdoor-Lebens war das ein historisches Datum. Aber das einzige, was man davon bemerkte, waren ein paar Kuchenkrümel vor der Biberhütte. Nach 2 225 Tagen im Kajak, auf 24 Jahre verteilt, hatte Jim Danielsson als erster Schwede und als einer von wenigen Wassersportlern in der ganzen Welt insgesamt 100 000 Kilometer paddelnd zurückgelegt. »Eigentlich waren es an dem Tag schon 100 004 Kilometer«, erklärt Jim mit schüchternem Lächeln, als wir uns später treffen. Dass Jim irgendwann gegen Ende des Jahres 2005 diese magische Grenze überschreiten würde, war unter Outdoor-Journalisten nicht ganz unbekannt. Die Story war offensichtlich interessant und wichtig genug für mehrere Zeitungen – eindrucksvoller als viele der Expeditionen, von denen selbst die Abendzeitungen Notiz nehmen.
Jim Danielsson war der erste, der an Norwegens ungeschützter, stürmischer Nordküste entlang gepaddelt ist – und dann weiter nach Süden, an Norwegen vorbei, über die schwedische Westküste nach Dänemark, um Seeland herum, parallel zu den Küstenlinien von Götaland und Svealand, über die Åland-Inseln nach Finnland, weiter bis zur finnisch-russischen Grenze und dann zurück zur Biberhütte an der Einmündung von Lillsjön. Er ist der Mann, der das »Blaue Band der Meerpaddler« erfand, also die Paddeltour entlang der ganzen schwedischen Küste, und er schaff te die Strecke zweimal, bevor es ihm jemand nachmachte. Er umrundete auch die fi nnische Küste – »Blauweißes Band der Meerpaddler« – und paddelte außerdem auf unzähligen Seen, Flüssen, Kanälen, Fjorden der nordischen Länder, durch Stürme, Strömungen und Nebelbänke, mit dem Fernziel, eines Tages 100 000 Kilometer im Kajak zurückgelegt
zu haben. Der 25. November wäre die ideale Gelegenheit gewesen, wenigstens eine Meldung zum Th ema zu bringen. Aber weder ich noch andere Journalisten waren zur Stelle.
DER EIGENSINN DES PADDLERS
Was mich betrifft, so hatte ich Jim im Sommer desselben Jahres angerufen und ihm gesagt, dass ich über das Ereignis schreiben wollte. Damals war Jim noch ein wenig unsicher, was den Zeitpunkt betraf, und wir verabredeten, dass wir in Kontakt bleiben würden. Einmal, als ich wieder anrief, war er gerade auf einer kleinen Felsinsel in den Åland-Schären und meldete, es sei noch nicht soweit. Ende Oktober bekam ich eine
seiner selbstgebastelten Ansichtskarten, die er ab und zu verschickt. Die Vorderseite besteht aus einem abfotografierten Ausschnitt einer seiner rund 500 See- und Landkarten im Maßstab 1: 50 000. Seit er im Jahr 1981 mit der Paddelei anfing, hat er jede seiner Fahrten genau dokumentiert, in Logbüchern und mit Einzeichnungen auf den Karten. Auf der Rückseite stand: »Hej Gabriel, jetzt noch 99 339 Kilometer – also 661 Kilometer bis 100 000. Grüße, Jim«. Als wir das nächste Mal voneinander hörten, hatte er sein Ziel schon erreicht. Und eigentlich schien er froh darüber zu sein, dass weder ich noch ein anderer Journalist dort an der Biberhütte war. Falls Jim Danielsson früher einmal ein großes Ego hatte – was ich bezweifle – , dann ist dieses Ego während der Tage, Monate und Jahre, in denen er einsam in einem Kajak saß und ein paar Seevögel seine einzige Gesellschaft waren, einfach weggeweht worden. Jim ist ein Herr, der so bescheiden wirkt, dass man als Journalist fast enttäuscht ist. Keine schlagfertigen Zitate, keine wilden Anekdoten, nur ein ruhiger, sachlicher Bericht über ein Vierteljahrhundert auf See. Als ich wissen möchte, welche Gegend im Stockholmer Schärengebiet ihm am besten gefällt, sagt er, so habe er die Sache noch nie betrachtet. »Es gibt vielleicht gewisse Orte, die ich besonders gern mag, zum Beispiel einen Zeltplatz, von dem ich weiß, dass mein Zelt dort zwischen zwei kleine Birken passt und dass man von dort eine perfekte Aussicht auf eine wunderschöne Bucht ganz ohne Segelboote hat. Aber eine Lieblingsgegend im Stockholmer Schärengebiet…nein, die könnte ich nicht nennen. Es hängt auch sehr von der Jahreszeit ab, von der Windrichtung, von meiner Stimmung«, sagt er. Ähnlich ist es beim Thema Ausrüstung. Jim ist Perfektionist, und er kann sehr detailliert erklären, wie er die Seekarte exakt so unter seine Beine legt, dass sie leicht zu lesen ist. Aber andere beraten, was die Ausrüstung betrifft – so weit würde er nie gehen: »Das muss doch individuell angepasst werden.« Lieber erzählt er davon, wie schön es ist, mit dem Kajak ins Schilfdickicht zu gleiten, zwei Schilfhalme umzuknicken und unter die Tampen zu stecken, um so das Boot notdürftig zu vertäuen. Und dann dort hinter dem Schilf zu sitzen, Kaffee zu trinken, dem Wind und der Brandung zu lauschen.
Man kann nicht sagen, dass Jim schüchtern sei. Im Gegenteil, er ist ein fröhlicher, geradliniger Typ, wenn auch eher leise und zurückhaltend. Aber da ist etwas schwer Fassbares in seinen Erzählungen. So als ob er fände, dass es gar nicht der Mühe wert sei, von seinen Erlebnissen zu reden, wenn der Gesprächspartner (also ich) das sowieso nicht richtig nachvollziehen kann. Während eines halben Jahres treffen wir uns einige Male, unter anderem bei einer von Jims »Nachtpaddeltouren« rund um die Mälarinseln. »Ich bin dort so oft gepaddelt, dass ich mich im Dunkeln zurechtfinde, ohne Seekarte. Ich kann sogar am besten nachts paddeln, wenn es ganz still ist. Das Licht der Sterne reicht vollkommen aus.« Jim beantwortet geduldig meine Fragen, aber er scheint doch sehr erleichtert zu sein, als er endlich in seinen Kajak schlüpfen und über den See entschwinden kann.
WENIG ADJEKTIVE, VIELE ABENTEUER
Zum Glück – aus journalistischer Sicht – hat Jim seine Erlebnisse in zwei Büchern zusammengefasst. Das eine handelt von seinem größten Abenteuer, also davon, wie er vom norwegisch-russischen Grenzfluss Jakobselv um die skandinavische Halbinsel bis Stockholm und von dort weiter zur finnisch-russischen Grenze paddelte. Das Buch heißt »48 Tage im Meerkajak« und ist in seinem Genre eine kleines Meisterwerk. Jim
erzählt nicht nur von seinen Paddelerlebnissen, sondern auch von Begegnungen mit Menschen, lässt wunderbare Naturschilderungen abwechseln mit Berichten von den not wendigen Vorbereitungen (unter anderem übte er im Winter vor dem Start 895 Mal die Eskimo-Rolle). Die Sprache überzeugt ebenso wie der Erzählfluss. Es gelingt ihm, Spannung zu erzeugen, ohne in Adjektiven zu schwelgen, besonders bei seiner Schilderung der Paddeltour entlang der norwegischen Küste. Sie führte ihn durch einsame, stürmische Fahrgewässer mit nur wenigen sicheren Häfen und Ankerplätzen. Oft hatte er ein ganzes Eismeer zur Rechten und zur Linken hohe, karge Felshänge. Diese fünfhundert Kilometer lange Etappe absolvierte er bei Minusgraden, ständig um sein Leben fürchtend. Und damals waren Satellitentelefone auf Expeditionen noch nicht obligatorisch. Wenn er verunglückt wäre, hätten nur die Wellen etwas davon gemerkt. Wahrscheinlich war es eines der riskantesten Abenteuer, die je ein Schwede unternommen hat. Und die Fahrt wurde nicht viel einfacher, als er drei Monate später auf Südschweden und Dänemark zusteuerte. Das zweite Buch heißt »100 000 Kilometer im Meerkajak« und ist ein 423 Seiten langes Resümee seines Lebens als Paddler, inklusive einiger Kapitel aus dem Leben davor. In diesen Büchern erfährt man eine ganze Menge über Jim Danielsson. Über seine Kindheit in einem kleinen småländischen Dorf, über die Sehnsucht nach Ruhe und Natur, die sein ganzes Leben bestimmte. Als er erwachsen war, ließ er sich zum Immobilienmakler ausbilden und betrieb schon bald eine erfolgreiche Agentur in Stockholm, zusammen mit einem Kompagnon. Jim erzählt von Sitzungen auf den Vorstandsetagen der Großbanken, Geschäftsreisen nach London und New York und Verhandlungen über Millionenbeträge. Als er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte, sehnte er sich nach einer anderen Existenz. Mit 48 hatte er der Kajak gekauft und war diesem Sport schon bald verfallen. Mit 55 hatte er genug Geld zusammengespart, um sich frühpensionieren zu lassen. Gut gelaunt beschreibt er seinen letzten Arbeitstag, der mit einem teuren Essen im Luxusrestaurant »Operakällaren« endete. Und wie er dann in der Gewissheit heimging, dass jetzt nur noch das Meer auf ihn wartete. Dieses Kapitel möchte man vielen stressgeschädigten Karrieremenschen in die Hände legen: Es ist also möglich, einen anderen Weg zu wählen. Kurz darauf unternahm er seine Fahrt um die skandinavische Halbinsel. Zu Hause warteten vier erwachsene Kinder und Gun, der er gerade erst begegnet war. »Wenn ihnen klar gewesen wäre, was mir bevorstand, hätten sie sich noch mehr Sorgen gemacht«, kommentiert Jim. Aber die Fahrt glückte, auch wenn er ein paarmal nahe daran war, Schiff bruch zu erleiden, und dann ging es weiter über die Gewässer des Nordens, auf einem ständig sich ausweitenden Streckennetz.
EINE RÄTSELHAFTE ODYSSEE
Jede Fahrt wird sorgfältig dokumentiert. In den Logbüchern kann man nachlesen, dass sein Tagesrekord bei 150 Kilometern liegt, oder dass er Ende des Jahres 2006 an insgesamt 1454 Leuchttürmen vorbeigepaddelt war (auch das ist eines seiner Spezialgebiete). Damit eine Paddeltour »zählt«, muss sie mit einer früheren Tour in Verbindung stehen. Jim kann also nicht einfach den Kajak aufs Autodach laden und zu einem anderen Schärengebiet fahren. In seinem enormen Netzwerk, das an der Einmündung von Lillesjön bei Sundbyberg seinen Ausgangspunkt hat, muss alles miteinander zusammenhängen. Wie ein Forschungsreisender hat er so ziemlich alle nordischen Wasserläufe kartiert, die über eine paddelbare Passage verfügen. Dennoch bleibt, wenn man die beiden Bücher gelesen hat, ein Gefühl der Verwunderung zurück. Trotz der vielen Texte über das Paddeln, die Natur und das Meer ist schwer zu erkennen, was Jim eigentlich über so lange Zeit und über so weite Strecken angetrieben hat. Woran dachte er während all dieser Tage auf dem Meer? Wonach sehnte er sich, wovor war er vielleicht sogar auf der Flucht? Allein für die Tour von der norwegisch-russischen zur finnisch-russischen Grenze brauchte er fünf Monate, die er fast vollständig allein verbrachte, ein Eremit mit Geschmack am Abenteuer. (Wer weiß, vielleicht stellt Jim sich die umgekehrte Frage – was treibt uns, es ihm nicht nachzumachen?) Es heißt, das Ernest Hemingways Erzählung »Der alte Mann und das Meer« steht symbolisch für den Kampf des Autoren gegen eine tiefe Depression war. Der alte Fischer Santiago gilt bei seinen Kollegen als erledigt, am Ende. Als er dann den größten Fisch an den Haken bekommt, den er jemals gesehen hat, kämpft er anderthalb Tage mit seiner Beute, bis er schließlich gesiegt hat. Dann bindet er den Fisch an die Reling und segelt heimwärts. Aber bevor er ankommt, haben die Haie schon das Fischfleisch bis auf den letzten Brocken abgefressen, und als er den Hafen erreicht, ist nur noch das Skelett übrig. Obwohl die anderen Fischer das Skelett sehen, können sie nicht richtig begreifen, was da draußen auf dem Meer geschehen ist – und auch wenn wir Hemingways Buch lesen, können wir den Kampf, den er gegen sich selbst führte, nicht vollkommen verstehen. Nachdem ich Jims Berichte von seinen Paddel-Erfahrungen gehört und gelesen hatte, stellte sich bei mir das deutliche Gefühl ein, dass er da draußen etwas entdeckt haben muss, was man nicht richtig erklären kann. Ein Zusammensein mit der Natur nach den Gesetzen der Natur, einen Zustand, in den man nicht leicht hineinfindet und aus dem man genauso schwer wieder herauskommt. Die Antwort auf solche Fragen liegt wohl da draußen, auf dem Meer.