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Manchmal wird das Fantastische möglich. NORR-Chefredakteur Gabriel Arthur konnte sich einen Traum erfüllen: eine Tour auf Langlaufschlittschuhen im Schatten des höchsten schwedischen Berges Kebnekaise.
Ein blanker Parkettboden aus Bergsee-Eis breitet sich vor den Schlittschuhen aus. Zur Rechten und zur Linken fallen hohe, grauschwarze, eisbedeckte Flanken jäh zum Ufer des Ladtjotaure ab. Jenseits des Sees erstrecken sich Moorflächen, die in Berge übergehen. Nicht irgendwelche Berge. Es sind Kebnekaise, Tolpagorni und Singitjokka. »Ihr seid wahrscheinlich die ersten, die jemals auf Schlittschuhen über den Ladtjotaure gelaufen sind«, hatte Nisse Sarri gesagt, der am Ostufer des Sees damit beschäftigt war, einen Vorbau für seine Kaff eehütte zu konstruieren.
Wir hatten uns angeschaut und gelächelt. Ladtjotaure ist einer der am schönsten gelegenen Bergseen Schwedens. Mit dem ersten Schneefall im Herbst wird es in dieser Gegend richtig kalt. Deshalb müsste man am Übergang zwischen Herbst und Winter dort Schlittschuh laufen können, hatten wir uns gedacht, bevor wir anreisten, um zur »Kebnekaise fjällstation« hinaufzuradeln. Aber wir wagten kaum zu hoffen, dass das Eis noch während unseres Aufenthalts fest werden würde. Es war immerhin erst Oktober.
Vor zwei Tagen hatte Nisse dann gemeldet, der Ladtjotaure müsse »jetzt eigentlich tragen«. Die Gelegenheit, in unmittelbarer Nähe des höchsten schwedischen Bergs Kebnekaise Schlittschuh zu laufen, durfte man nicht verpassen. Voller Erwartung kamen wir mit unseren Mountainbikes von der Übernachtungshütte in Nikkaluokta herauf. Und nun stehen wir hier. Vor einem hauchdünn wirkenden, aber durchaus tiefgefrorenen Schlittschuhparadies.
NUR NOCH EINE KURVE
Trotzdem sind wir am Anfang ein wenig nervös. Wir laufen am rechten Ufer entlang. Die Fläche ist hart wie Marmor, man sieht kaum eine Luftblase in der etwa zehn Zentimeter
An mehreren Stellen wird die Eisdecke dünner, und wir müssen uns
sichere Passagen suchedicken Eisschicht. Als wir uns einer Halbinsel nähern, können wir den Seegrund einige Meter unter uns erkennen. Es knackt unter den Schlittschuhen, im Eis bilden sich weiße Risse. Wir biegen ab und laufen auf den See hinaus, nehmen uns jedoch in acht vor der Strömung, die es dort irgendwo in der Mitte geben soll.
Der Kebnekaise und seine weißen Nachbarn baden im Sonnenschein, aber unseren Krater hier unten erreicht die Sonne höchstens für eine Stunde. Auf den Mooren sind Gräser, Ried und Gebüsch von einer dicken Rauhreifschicht umhüllt. Die Luft kühlt ab, doch das Licht ist mehr herbstlich als winterlich, vielleicht weil es noch nicht richtig geschneit hat.
Es ist eine einsame und großartige Landschaft, in der wir uns bewegen. An mehreren Stellen wird die Eisdecke dünner, und wir müssen uns sichere Passagen suchen. Wir erreichen die letzte Bucht des Sees um die Mittagszeit und machen eine Kaffeepause.
Die Temperatur ist schnell auf minus zehn Grad gesunken. Es ist angenehmer, sich zu bewegen, und so laufen wir bald weiter. Wir beschließen, dem Bach zu folgen, der von den westlichen Bergen herunterkommt. Bei dem niedrigen Wasserstand dürfte es keine starke Strömung geben. Der Bach ist etwa zehn Meter breit. Auf dem Eis liegen ein paar Zentimeter Schnee. Der Wasserlauf windet sich durch den gefrorenen Sumpfboden, und bald haben wir die Schneedecke hinter uns gelassen. Wir laufen immer weiter, vorsichtig und langsam, durch die Moore, in Richtung der hohen Berge im Westen.
Das Eis wird unebener. Bald wird die Sonne untergehen. Wir sollten rechtzeitig umkehren, damit wir die riskanten Partien des Sees überwinden können, bevor es dunkel wird. Aber immer wieder sagen wir uns: nur noch eine Kurve… Es ist spannend, und das Gefühl, dass wir vielleicht die allerersten sind, die hier auf Schlittschuhen entlanglaufen, treibt uns weiter. Wie weit könnte man wohl kommen? Schließlich sind wir uns einig: nach der nächsten Krümmung müssen wir umkehren. Schon kriecht die Dämmerung über die Berge herein.
EISLAUFEN IM SCHEIN DER STIRNLAMPE
Im Sommer kann man auf den Booten der Brüder Sarris über den Ladtjotaure fahren. Die Wanderer, die von Nikkaluokta heraufkommen, können am Ostufer des Sees einsteigen, bei der Kaffeehütte, und sich bis zum Landungssteg mitnehmen lassen, der einige Kilometer stromaufwärts am Ladtjojåkkå liegt. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass wir genau dort ankommen, nachdem wir um die nächste Kurve gebogen sind. Etwa 75 Meter von uns entfernt liegt der Steg, und dann – noch ein Zufall – hört das Eis auf, und man sieht das Wasser unter ihm hervorfl ießen. Wir haben das Ende der Eisfläche erreicht.
Hier ist sie gerade erst fest geworden, noch ganz blank und schneefrei. Diese Strecke von 75 Metern ist das wunderbarste Eis, auf dem ich je gelaufen bin. Meine Gedanken wandern zurück in die Kindheit, zum Hockeytraining in der Eishalle von Piteå. Wenn das Eis frisch abgespült war, war es selbst für einen wackligen Achtjährigen leicht, auf den Schlittschuhen Halt zu finden. Hier ist das Eis ganz ähnlich – weiß, mit einem Schleier von Feuchtigkeit überzogen, so dass die Kufen wie auf unsichtbaren Schienen laufen. Wir trinken beide eine Tasse Tee am Landungssteg, ich drehe noch ungefähr zehn Runden auf dem magischen Eis, und dann laufen wir zum See zurück. Unsere Entdeckerlust hat uns das Tageslicht gekostet, wir müssen den Ladtjojaure im Licht unserer Stirnlampen überqueren. Ich verliere unsere Spur und gerate zu nahe ans Ufer. Es knackt unter meinen Schlittschuhen, aber ich kann gerade noch wieder auf den See
hinauslaufen, bevor das Eis splittert. Wir gehen an Land, und durchdrungen von einem tiefen Glücksgefühl, von dem Bewusstsein, etwas Einzigartiges, Unvergleichliches erlebt zu haben, radeln wir zur Übernachtungshütte in Nikkaluokta zurück. Am Himmel über uns tanzt ein Nordlicht. Zwei Tage später fällt der Schnee, der liegen bleiben wird, bis das Eis im Mai aufbricht.