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Der Stockholmer Schärengarten lässt sich nicht nur an Deck eines Ausflugsdampfers erkunden. Im Winter sind die Inseln auch ein ausgezeichnetes Terrain für Langläufer. NORR hat es ausprobiert.
Als wir die Ostseite von Utö erreichen und sich die Ostsee vor uns ausbreitet, kommt ein Gefühl von Abenteuer in uns auf. Die Skispitzen verschwinden unter dem Schnee und auf unseren Wangen landen eisige Wassertropfen der Wellen, die vom Wind durch die Luft getragen werden. Nur ein paar vereiste Felsinseln sind zu sehen. Die Horizontlinie wird durch nichts unterbrochen. Ich hoffe, dass das Abenteuergefühl nur eine Illusion ist, denn dieser Ausflug hier sollte eigentlich kein Sicherheitsexperiment werden. In unseren Schlitten liegen nämlich zwei schlafende Kinder, beide erst ein halbes Jahr alt: unsere Tochter Simone und Fredrik und Lottas Sohn Kalle. Die Ostsee wirkt aber den noch so groß und dunkel, dass meine Gedanken unweigerlich hinaus aufs Meer und zu abenteuerlichen Augenblicken wandern. Bis ein quakendes Baby mich wieder in die Wirklichkeit zurück holt. Kalle hat die Windel voll. »Wir sind ja schon fast eine Stunde unterwegs, da ist es vielleicht sowieso Zeit für einen Kaffee?«, schlägt Cecilia vor, die mit ihrem Lebensgefährten Jonas ebenfalls mit von der Partie ist. Mit einigen Booten als Rückenstütze lassen wir uns in einer kleinen Bucht nieder. Nach einem schnellen Wickeldurchgang – es sind minus zehn Grad – wird Kalle wieder in seinen Schlitten zurückgelegt und schläft wieder ein. Wir anderen wenden unsere Gesichter der Sonne zu, die über der Bucht scheint. Das Abenteuer kann warten.
STOCKHOLMS lieblingsINSEL
Utö ist bei vielen Touristen ein wohlbekannter Name. Die Insel, so heißt es, ist nach Sandhamn die beliebteste des Stockholmer Schärengartens. Und das ist verständlich. Utö ist sehr gut zu erreichen – mit der Fähre von Årsta Havsbad Dalarö oder Stockholm. Die große Fahrrinne nördlich von Utö ist so etwas wie die E4 des Schärengartens – hier kommen im Sommer Tausende Segel- und Motorboote vorbei. Auf der Insel gibt es Kneipen, Cafés, unzählige schöne Badeplätze und Spazierwege und natürlich das Restaurant Uto Värdshus mit seinem mehrfach ausgezeichneten Essen. Doch all das gibt es natürlich nur im Sommer.
APFELSINENTOUR
Für die meisten Touristen ist die Saison im Schärengarten dann zu Ende, wenn die Boote an Land gezogen werden. Doch tatsächlich haben viele Hotels und Jugendherbergen das ganze Jahr über geöffnet. Und in der letzen Zeit ist in Stockholm sehr viel Schnee gefallen. Deshalb habe ich ausgiebig die Karten studiert – auf der Jagd Die Dame an der Rezeption verstand erst nicht, wovon ich redete – meine Idee war wohl ein wenig ungewöhnlich.nach Gebieten, die sich für Skitouren eignen und wo man mit breiten Langlaufskiern seine eigenen Spuren durch den Schnee ziehen kann. Jemand gab mir den Tipp, es doch in den Wäldern von Huddinge zu probieren. Oder im Nationalpark von Tyresta oder in Södertörn. Doch ziemlich schnell fiel mein Blick auf die großen Schäreninseln. Besonders auf diejenigen, die nahe am offenen Meer liegen und dennoch leicht zu erreichen sind – wie zum Beispiel Utö. Im nördlichen Teil der Insel befindet sich ein Naturreservat, direkt neben dem Utö Värdshus. Ich rief das Restaurant an und fragte, ob man dort mit Skiern unterwegs sein kann. Die Dame an der Rezeption verstand erst nicht, wovon ich redete – meine Idee war wohl ein wenig ungewöhnlich – bis sie in bester Servicelaune verlauten ließ, dass das sicher gar kein Problem sei. Wie sich später zeigen sollte, war das sowohl richtig als auch falsch. Das Naturreservat ist etwas zu klein und zu zivilisiert als das sich dort richtiges Wildnisgefühl einstellt. Und eine Runde entlang Reservatsgrenzen wäre höchstens zehn Kilometer lang. Eine eher kurze Tour. Doch das passte uns eigentlich ganz gut. Skiwandern mit Kind und Kegel, oder besser: Kindern und Schlitten, ist ja kein Extremsport, sondern einfach ein schöner Ausflug. Oder wie man früher auf Schwedisch zu sagen pflegte: eine Apfelsinentour. Der Ausdruck stammt aus der Zeit als Apfelsinen in Schweden noch sehr exotisch waren und man auf Skitouren mit der Familie eine kleine Grube in den Schnee buddelte, dort die Rentierfelle ausbreitete, heiße Schokolade trank und jeder als absoluten Höhepunkt des Ausflugs eine Apfelsine bekam. Diese schmackhafte Tradition gibt es übrigens auch heute noch.
IN DEN SCHLAF GESCHAUKELT
Nach der Kaffeepause in unserer Bucht fahren wir wieder in Richtung Wald und gleiten gemächlich weiter. Im Naturreservat gibt es einige Pfade, die sich als sehr skitauglich erweisen. Unter den Tannen hängen die Flechten wie dicke Spinnenweben. Der Wind rauscht in den Baumkronen. Der Schnee und die Skibindung knirschen um die Wette. Und Simone schläft ihren bisher tiefsten Schlaf wie sie da in ihrem kleinen Schlafsack liegt. Stockholm, eigentlich ja gar nicht weit weg, fühlt sich angenehm entfernt an. Nach der Skitour gehen wir in die Sauna und essen dann ein vorzügliches Abendessen im Restaurant des Utö Värdshus. Wir machen noch zwei weitere Skiausflüge während unseres Wochenendes auf Utö. Eine etwas anstrengendere Morgentour ohne Kinder und Schlitten bei der ich, Cecilia, Jonas uns Fredrik bis zu einer kleinen Insel weiter draußen fahren. Von dort geht es am felsigen Strand entlang zurück – über Stock, Stein und Schnee – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Wasser, das sonst über die Klippen schwappt, ist zu dicken, meterhohen Eisblöcken gefroren, die die Felsen umschließen. Auch an diesem Tag kommt der Wind von der Seeseite und es duftet leicht nach Meer. Die niedrigen und krummen Kiefern wiegen sich im Wind und ein Seeadler zieht hoch über uns seine Kreise. Später packen wir die Kinder wie der in die Schlitten und fahren auf der schmalen Straße nach Norden – durch Fichtenwälder und an kleinen Hütten vorbei. Auch dieses Mal schlafen die Kinder tief und fest in ihren Schlitten. So tief, dass wir regelmäßig anhalten, um nachzuschauen, ob sie noch atmen und es warm genug haben.
VOM BERGBAU, STRINDBERG UND GARBO
Utö ist nicht nur ein Naturparadies, sondern hat auch einiges an Kultur zu bieten. Auf dem Rückweg schauen wir uns die Lurgatan mit ihren kleinen und schiefen roten Holzhütten an, die hier Seite an Seite stehen. Diese alten Bergarbeiterhütten, die ältesten Häuser auf Utö, stammen aus dem 18. Jahrhundert. Heute machen sie einen Sogar etliche Berühmtheiten wie August Strindberg, Greta Garbo und Evert Taube waren schon auf Utö zu Gast.romantischen Eindruck, doch so war das nicht immer. Glaubt man gewissen Historikern, wurde auf Utö bereits im 12. Jahrhundert Eisenerz abgebaut. Im 17. Jahrhundert machte man Ernst mit der Eisenerzgewinnung und viele Menschen zogen deswegen auf die Insel – mehr oder weniger freiwillig. Viele der Grubenarbeiter waren nämlich Landstreicher, die zu ihrem Umzug gezwungen wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten 446 Personen auf Utö. Das Dorf, das um die Grube herum entstanden war, bekam einen Laden, eine Schule und einen Arzt. Auch die Kirche, die ungewöhnlich groß für eine Inselkirche ist, stammt aus dieser Erfolgsepoche. Doch dann änderten sich die Zeiten. Der Bergbau lohnte sich nicht länger. Die letzte Grube wurde 1879 geschlossen. Doch nach einer kleinen Pause kamen neue Einkommensquellen auf die Insel – die Sommergäste. Sogar etliche Berühmtheiten wie August Strindberg, Greta Garbo und Evert Taube waren schon auf Utö zu Gast. Im Winter ist die Insel ein friedlicher und stiller Ort. Weit und breit sind keine Berühmtheiten in Sicht. In vielen Fenstern scheint ein hei- meliges Licht. Ungefähr 200 Personen wohnen das ganze Jahr hier draußen.
FRISCHES UTÖ-BROT
Nach unserem Ausflug zum nördlichen Ende der Insel fahre ich auf Skiern zur Bäckerei von Utö. Ich möchte gerne noch ein saftiges Brot, einen Utölaib, kaufen. Diese Sorte ist dafür bekannt, dass sie wochenlang hält – dank eines speziellen Rezeptes mit Roggenmehl, das vor dem Backen kurz in kochendes Wasser getaucht wird. Ich hatte Rauch aus dem Schornstein aufsteigen sehen, aber als ich ankomme, ist geschlossen. Doch da sehe ich plötzlich Hasse Andersson, den Bäcker, der gerade auf dem Weg nach Hause ist. »Du kannst durch den Hintereingang gehen und dir ein Brot aussuchen. Das Geld kannst du in die weiße Plastikdose legen«, sagt er und fügt hinzu: »Hier klaut keiner. Nur einmal war die Dose leer. Eine ältere Dame war ein bisschen beunruhigt, dass da soviel Geld drin war. Sie rief mich an, um mir zu sagen, dass sie das Geld vorsichtshalber unter einer Tischdecke in der Bäckerei in Sicherheit gebracht hatte.« Als ich zurück zu unserer Hütte fahre, die wir für das Wochenende gemietet haben, denke ich darüber nach, ob wir vielleicht nach Utö ziehen sollten. Das wird natürlich nichts. Aber alleine die Tatsache, dass mir ein solcher Gedanke kommt, spricht für die Ruhe dieser verschneiten und friedvollen Schäreninsel im äußersten Meer.