Fast geräuschlos zieht eine Schlange von 14 Leuten durch den regennassen ostfinnischen Kiefernwald. Ab und zu patscht eine flache Hand nach einer der zahlreichen Mücken, die sich gierig auf die Wanderer stürzen. Es ist Anfang Juli. Wir bewegen uns auf einem uralten, ausgetretenen Bärenpfad. Aber nur relativ selten sind Zeichen von Bärenaktivität zu sehen.
Unser Begleiter Michael, ein österreichischer Schlittenhundeführer, der in Finnland lebt, zeigt uns, wo ein Bär seine Krallen an der Borke einer Kiefer geschärft, wo er in einem Ameisenhaufen gegraben und wo er Losung hinterlassen hat. Dann weist er auf einige Bärenhaare hin, die an einem harzigen Stamm kleben geblieben sind. Keiner spricht. Vielleicht hemmt die Erwartung, jederzeit auf einen Bären stoßen zu können, jeden Redefluss. Vielleicht ist auch die Tatsache, dass die russische Grenze nur 500 Meter weiter östlich verläuft, für einige noch unheimlicher. Unsere Gruppe ist unterwegs zu einem der berühmten finnischen Verstecke, von denen man Bären fotografieren kann – wenn sie sich zeigen.
Aufregung vor dem ersten Date
Nach einem halbstündigen Fußmarsch haben wir unser Ziel erreicht: eine geräumige Hütte für zwei Personen mitten im Wald. Nun geht alles ganz schnell: Michael öffnet die verschraubten Fenster und die Tür mit Hilfe eines Akkuschraubers, wir verstauen unsere Ausrüstung im Inneren, verteilen einen Sack Hundefutter vor der Hütte. Dann schiebt uns Michael wieder ins Versteck und schließt die Tür von außen. Es ist nun etwa sechs Uhr. Wir öffnen die Stoffgardinen unserer Sichtluken. Zum ersten Mal haben wir Gelegenheit, in Ruhe unsere Umgebung zu betrachten und bringen unsere Fotoausrüstungen in Stellung.
Sofort wird mir wieder einmal schmerzhaft klar, dass die Brennweite der Wahl hier ein Zoomobjektiv mit 200-400/500 mm ist. Genau das packt mein Begleiter nun aus. Weil mein System so etwas nicht bietet, lege ich 500er, 300er, 70-200er sowie einen Telekonverter bereit und – man kann ja nie wissen – für alle Fälle ein Weitwinkelzoom. Wir brauchen nicht lange zu warten. Eine Bärin mit drei Jungen betritt die Lichtung. Die Tiere fangen sofort an zu fressen. Nach vielleicht zwanzig Minuten verschwinden sie wieder im Wald. Vor der Hütte steht nun ein riesiger hellbrauner Bär mit erstaunlichem Fettpolster und kahlen Stellen an der Rückseite: Bodari, der Alpha-Bär. Wie wir später herausfinden haben die alten Bären hier alle einen Namen. Seit zwei Jahren ist er nicht mehr das Leittier. Und seitdem prügelt er sich weniger, fängt früher im Jahr mit dem Fressen an und ist deshalb jetzt schon ziemlich fett.
Wie wir später herausfinden haben die alten Bären hier alle einen Namen.
Im Laufe des Abends erscheinen weitere Bären. Sie kommen tatsächlich bis auf weniger als fünf Meter ans Versteck heran. Sie wissen, dass wir in der Hütte sind, hören und riechen uns. Doch sie verraten mit keiner Reaktion, dass sie uns wahrgenommen haben. Inzwischen warten wir darauf, dass die Sonne verschwindet, denn ein wunderbar flaches, warmes nordisches Seitenlicht ist im Wald eine fotografische Katastrophe: überall harte Kontraste zwischen hellen Lichtpartien und konturlosen Schatten. Am nächsten Morgen wartet in der ehemaligen finnisch-russischen Grenzstation »Martinselkosen Eräkeskus« ein reichhaltiges Frühstück auf uns.
Bären, Vielfrasse und Königsadler
Das Naturschutzgebiet Martinselkosen im Osten Finnlands ist bekannt für seine guten Bedingungen für Bärenbeobachtungen. Seit 1996 werden hier »Bärensafaris« organisiert, mit immer mehr Erfolg. Sobald die Bären Mitte April ihre Winterquartiere verlassen haben, kann man sie hier fotografieren. Die Saison dauert offiziell vom 1. Mai bis zum 10. August. Am 11. August wechseln alle Bären auf die russische Seite, wird uns berichtet. Denn nur wenige Tage später beginnt die Jagdsaison in Finnland. Hundert Kilometer südlich von Martinselkosen befindet sich ein weiteres Naturschutzgebiet mit guten Bedingungen für die Tierfotografie. Außer Bären kann man in Juortanansalo-Lapinsuoo Königsadler und Vielfraße vor die Linse kriegen. 14 Beobachter-Verstecke für Fotografen gibt es in dieser Gegend.
Am zweiten Abend sitzen wir in der sogenannten »Sumpfhütte«, einem Versteck mitten auf einem wunderschönen kleinen Moor. Aus dem Wald erscheint ein riesengroßer Bär. Doch statt die Moorfläche zu betreten, hält er sich furchtsam im Hintergrund.
Er weiß noch nicht um seine Kraft. Wegen seiner sehr breitbeinigen Art zu gehen, haben die Ranger ihn »John Wayne« genannt. Kurze Zeit später streicht ein Seeadler am Waldrand entlang. Er hat sich seinen Teil der ausgelegten Lachse geholt und sitzt nun am Rande des Moores mit seiner Beute auf einer hohen Kiefer. Es wird langsam dunkel. Insgesamt fünf Nächte haben wir auf Bären gewartet. Und jedes Mal hat sich das Warten gelohnt. Finnland, und besonders das Gebiet um Martinselkosen, scheint tatsächlich eine der besten Stellen der Welt zu sein, um Bären zu fotografieren.