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400 Kilometer in zwei Wochen mit lauter Unbekannten. Nur das Ziel ist klar: von Kalmar nach Varberg wandern, zu Fuß. Jeder muss für sich alleine den richtigen Weg finden. Johanna Straub hat sich für NORR auf den Weg ins Ungewisse begeben. Und erstaunliche Erfahrungen gemacht.
Varberg, im Mai. Es ist warm, fast heiß, ein früher Sommertag. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen, als wir vorbeiziehen, sie sehen uns an und lächeln. Nur wenige fragen, was wir machen. Die Rucksäcke sind so leicht, als gehörten sie zum Körper dazu. Die Beine laufen wie von selbst. Wir kommen auf viele Beine, wenn wir alle zählen. 36 bringen wir insgesamt zusammen: Zwölf Wandernde, die Hündinnen Wilda und Lycka und Allan, das Pferd. Wie eine Zirkustruppe müssen wir aussehen, denke ich. Wie eine Karawane. Wir sprechen nicht viel miteinander, genießen den Moment, so lange er dauert. Einmal zeigt Jörgen auf ein Haus, und wir verlangsamen für einen Augenblick unsere Schritte. Da habe ich früher gewohnt, sagt er. Am Brunnen halten wir an, damit die Tiere trinken können. Meine Wasserflasche ist leer. Das macht nichts. Wir sind da.
Wenn man einen Weg zu Fuß zurückgelegt hat, entsteht eine besondere Form der Erinnerung. Wenn man nicht bleibt, sondern sich voran bewegt, vermehren sich die Erinnerungsbilder mit der zurückgelegten Strecke. Es sind nicht nur die Erlebnisse und Begegnungen, die in der Erinnerung bleiben, sondern es sind, wie verschiedene Bühnen, auf denen die Eindrücke sich halten, die Bilder der Orte, die man durchquert, der Landschaften, die man gesehen hat. So wird der Zeitraum der Reise zu einer mehrdimensionalen, körperlichen Erinnerung mit einer Fülle an lebendigen Bildern – und tatsächlich zu einem Zeit-Raum. Wenn man diesen mit anderen teilen kann, ist es umso schöner.
Wir gehen zu Fuß nach Varberg hinein. Ans Schloss, ans Meer, ins Meer hinein, hinterher auch in die Burg hinein, zu einem fulminanten Abschlussessen in den »Fästningsterrassen«. Startpunkt der Wanderung, zwölf Tage vorher, ist Kalmar. An einem anderen Meer und einer anderen Festung. Und zu einer anderen Jahreszeit. In diesen zwölf Tagen kommt der Mai nach Schweden und die Bäume schlagen aus. Wir sehen zu, wie alles grün wird.
Alles ist erlaubt
Kalmar. Startpunkt der Wanderung und Ort der Anfänge: Der Abend vor dem Start, an dem sich viele Menschen in atmungsaktiver Kleidung in bunten Farben im Restaurant zusammenfinden, die alle das gleiche Vorhaben verbindet. Das Frühstück im Schlosshotel, das zu einem gemeinsamen wird. Das allmähliche Eintreffen der Teilnehmer am vereinbarten Treffpunkt an der Burg, ein erster Ausrüstungsvergleich, das Warten auf Pferd Allan, Star des Teams vom ersten Auftritt an, die letzten Nachzügler, das offizielle Startfoto der um die vierzig Teilnehmer, die sich von Kalmar aus auf dem schmalen Betonweg in Richtung Westen aufmachen. Die ersten Schritte, zwei Hände voll Ostseewasser im Gesicht, Reality Check und Initiation in einem. Und dann, einige Kilometer weiter, eine erste Pause, alle sind noch da, später eine zweite – und ein vager Plan, am ersten Übernachtungspunkt anzukommen.
So wie viele Anfänge, gibt es auch viele mögliche Abschiede. Wir starten als eine Gruppe, die keine ist, die Entwicklung ist ungewiss. Alle brechen gemeinsam auf, mit demselben Ziel und mit der Devise »hike your own hike« was bedeutet, dass Streckenverlauf, Tempo sowie die Option, Etappen auszulassen oder abzukürzen, dem Einzelnen überlassen sind. Bis auf das Ziel ist alles andere offen. Fast. Jörgen hat eine Liste veröffentlicht, in der er seine angepeilte Route aufgeschlüsselt hat. Fixpunkte sind Übernachtungsplätze mit Koordinaten. GPS-Daten für den Weg gibt es auch.
Eine kurze Presseankündigung verbreitet sich im Winter über die Outdoorblogs. Jörgen Johansson, bekannt als Buchautor der ultraleichten Wanderszene und seinen Blog »fjäderlätt« (dt. federleicht) und Journalist Jonas Hållén laden 2013 zur Premiere von »Coast to Coast Sweden« ein. Eine Wanderung vom Kalmarer Schloss bis zur Varberger Festung. Am ersten Sonntag im Mai soll es losgehen und etwa 400 Kilometer und zwei Wochen später ist Schluss. Es gibt keine Gruppenstruktur, keine vorgegebene Strecke, keine Startgebühren, keine Auflagen. Es gibt nur diese Einladung. Und bald darauf eine Internetseite, eine Facebook-Gruppe. Die Mitgliederzahl wächst schnell. Ich melde mich an.
Warum, fragt die Journalistin, die mich in Moheda für die örtliche Zeitung interviewt. Warum laufe ich im Frühjahr einmal quer durch Südschweden von Kalmar an der Ostküste bis nach Varberg an der Westküste? Ich habe keine kurze Antwort parat, es gibt viele Antworten darauf.
Aufbruch ins Ungewisse
Nybro. Der erste Tag ist lang, aber der Ehrgeiz, den Zielpunkt zu erreichen wächst. Es ist die letzte Chance, die anderen einzuholen. Danach ist es vorbei. Doch abends finden sich so viele Wanderer im Naturreservat ein, dass wir ein richtiges Lager haben. Zwanzig Zelte stehen auf der Wiese. Zwei schlafen in der Saunahütte. Keiner will den Anschluss verlieren, keiner will, dass es aufhört. Der Kern dieser Unternehmung ist, dass man den Weg teilt. Von Anfang an ist das zu spüren.
Ich bin hier, weil ich herausfinden will, wie es ist, gemeinsam zu laufen. Ich bin schon oft alleine gewandert und auch zu zweit, kenne die Extreme des Solo-Hiking und des Wanderns mit einem festen Teampartner. Herauszufinden, wie es sich in einer lockeren Gemeinschaft läuft, in der jeder auf sich selbst gestellt ist und alle zusammen das Ziel teilen, ist neu für mich. Es ist ein Experiment, nicht nur für mich. Dass die Gruppe tatsächlich eine Gruppe werden würde, war nicht abzusehen.
Jonas Hållén ist der Mann, für den Facebook erfunden wurde. Er hat das besondere Talent, Dinge zu veröffentlichen, kurz bevor sie Wirklichkeit werden. Es ist erstaunlich, was das ausmacht. Die digitale Wolke wächst, die Facebook-Gruppe wird täglich größer, es gibt Anteilnahme und Ermutigung, es gibt Kommentare – viele, die nicht mitwandern können, sind trotzdem dabei. Und die Anteilnahme bleibt. Nicht nur über Facebook, auch unterwegs gibt es viele »Likes«. Auch die Tiere, an denen wir vorbeilaufen, sehen uns. Wenn Allan an eingezäunten Pferden vorbeikommt, bricht bei ihnen beinahe die Revolution aus, als hätten sie geahnt, dass es eine Welt gibt, jenseits der Begrenzung. Da läuft einer, der ist frei!
Wanderlust und Schnarchkonzert
Gullaskruv. Schotter. Eine Linie, so gerade wie mit dem Lot gezogen. Monotonie. Der Eisenbahndamm führt geradeaus, unerbittlich, keine Kurve verheißt Gnade, das Ende der Etappe. Wir ziehen das Tempo an. Endlich, zur Rechten das Fußballfeld, wo schon die ersten Zelte stehen. Beim Nachbarn, einem Ex-Berliner, gibt es Wasser. Der Hahn ist hinter dem Haus, wir sollen uns bedienen. Das Entgegenkommen und die Hilfsbereitschaft von unerwarteter Seite sind groß. Wer nicht selbst läuft, kann auf diese Weise Anteil nehmen, kann Teil der Expedition werden. Wanderlust ist ansteckend.
Es gibt viel Asphalt auf dieser Strecke, und die Füße melden sich nicht erst abends, sondern schon nach den ersten Kilometern. Trotzdem fühlt es sich richtig an. Wir vergleichen Asphaltsorten und bewerten die unterschiedlichen Härtegrade. Die Wahrnehmung wird geschärft, wenn man draußen unterwegs ist. Der Humor bleibt. »Concrete to Concrete Sweden« (dt. von Beton zu Beton), scherzen wir mit schmerzenden Füßen.
Hedasjön. Den Rucksack absetzen, die Kleider von sich werfen, die Schuhe. Ins Wasser. Es ist warm genug. Einer macht die Runde mit Salami und einem Flachmann mit Whiskey, bietet jedem von uns etwas an. Auf die ersten 100 Kilometer, sagt er. Gute Kerle gibt es viele in dieser Gruppe, wenn man welche kennenlernen will, gute Frauen auch, der Frauenanteil steigt proportional zum Ende der Wanderung, von den wenigen Frauen, die in Kalmar gestartet sind, kommen fast alle in Varberg an. Der Schwund an Kerlen ist größer.
Växjö. Die Strecke zieht sich. Der Ort ist groß und der Asphalt unnachgiebig. Während einen lockerer Waldboden das eigene Gewicht vergessen lässt und die Natur von der Anstrengung ablenkt, wirft einen die Stadt hart auf die Frage nach dem Warum zurück. Warum da laufen, wo Autos fahren? Das Vandrarhem ist ein Lazarett. Wunden werden vorgeführt, Blasen verglichen. Die Wanderung fordert ihren Tribut, die Gruppe wird sich am nächsten Tag deutlich verkleinern. Nachts wird im Schlafsaal ein Schnarchkonzert gegeben. Ich schlafe trotzdem so fest wie der Boden unter meinen Füßen.
Die Frage nach dem Warum
Warum diese Wanderung, frage ich Jörgen, der sonst gerne alleine in der Einsamkeit unterwegs ist, und erfahre, dass es ihm darum geht, zu vermitteln, wie es sich anfühlt draußen zu sein, und dass die Natur schon vor der eigenen Haustür anfängt.
Moheda. Der Wolkenbruch: Der gesamte Regen, der insgesamt auf diese zwei Wochen im Mai verteilt fallen könnte, kommt auf einmal herunter. Gewaltig. Wir flüchten auf einen Hof unter einen Unterstand aus Wellblech für Landmaschinen. Das Wasser steigt und umspült unsere Füße. Im Hof bildet sich ein See, über dem einzigen Abfluss ein riesiger Strudel. Im Supermarkt, wo wir unsere Vorräte auffüllen, ist der Boden nass. Am Lagerplatz begrüßt uns ein hilfsbereiter Mensch mit Kaffee und »Kanelbulle«, echtem schwedischem Kaffeegebäck.
Skuggebo. Der Platz liegt direkt am See. Unsere Helfer schrauben ein paar Latten zusammen, spannen Plastikfolie und heizen ein. Ein langer Tag liegt hinter uns, mehr als 35 Kilometer. Ich würde am liebsten direkt in den Schlafsack kriechen. Aber die Sauna ist unwiderstehlich. Und Luxus für die müden Gelenke. Wir trinken Rum und schwimmen im kalten See. Ich stelle fest, dass das Essen draußen viel besser schmeckt. »Fika« wird zum wichtigsten schwedischen Wort und »Kanelbulle« zum Schlachtruf.
Flahultasjön. Ein langgestreckter Strand. Jeder bekommt einen Zeltplatz in der ersten Reihe. Oder zwei Bäume für seine Hängematte. Ein Lagerfeuer am Wasser. Zeitlosigkeit. Als wären wir ewig unterwegs.
Spabo. Ein Holzunterstand zum Schlafen, passend zum Nieselregen. Der Nebel über dem Wasser am Morgen. Selbstgebackene Zimtschnecken. Die Hilfsbereitschaft begleitet uns. Wo wir auch hinkommen.
Gunnarp. Ein Hügel mitten in einem Feld. Kein Wasser. Ein unspektakulärer Platz an dem wir bleiben, weil wir da sind. Käsekuchen wird über dem Feuer erhitzt. Ein Weinkarton macht die Runde. Es riecht nach Abschied.
Fegen. Ein Restaurant macht für uns auf. Wir haben mehr als genug Proviant für die letzte Etappe. Trotzdem kommt keiner an dem Restaurant vorbei. Wir sitzen in der Sonne, sehen auf den Fegen-See und genießen es, uns nicht zu bewegen.
Åkulla. Der plötzliche Übergang vom Nadelwald zum Buchenlaub. Das helle Grün der Blätter. Die Vorahnung, dass wir tatsächlich ankommen werden. Dass dieser Weg am Wasser tatsächlich nicht weiter geht. Die letzte Nacht im Zelt. Und dann Varberg: Das Licht über dem Meer und die Stille.
Und die Frage nach dem Warum? Es gibt viele Antworten darauf: Weil man unterwegs lernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Weil dieser Weg so vielfältig ist. Weil er von Bullerbülandschaft über militärisches Sperrgebiet über gerodete Wälder über Gebirge aus Sägespänen über Hochmoore und Buchenwälder und Shoppingcenter der Superlative bis hin zu acht verschiedenen Asphaltsorten so vieles zu bieten hat. Weil man an Grenzen kommt. Weil es keinen Grund gibt, es nicht zu tun.
In diesem Jahr wird es wieder eine Coast to Coast-Wanderung durch Schweden geben. Die Strecke wurde leicht verändert, es wird weniger Asphalt geben, mehr Übernachtungen an Seen. Gerüchte kursieren, dass ein Pferd teilnehmen wird und zwei Kleinkinder in einem Doppelkinderwagen. Vieles ist offen, aber eins steht fest: Es wird anders.