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Eisige Zeiten: Paddeln in Grönland

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Grönland. Blendend weiße Eisberge, in jeder Größe, in jeder Form. Viel Wasser, klare Luft, blauer Himmel, kühle, kurze und intensive Sommer. Und an der Westküste, etwa auf halber Strecke zwischen Nord- und Südspitze der größten Insel der Erde, die Diskobucht. Ein Traumziel für Küstenpaddler.

Das Lagerfeuer knistert. Flammen züngeln an Treibholzbrocken. Langsam werden Füße, Hände, Brust und Bauch wieder warm. Am Hintern weht ein nasser Wind vorbei, der Rücken ist kalt, trotz dicker Kunstfaserjacke. Das Thermometer zeigt 5,5 Grad Celsius. Wolken streifen über das Wasser des Langesunds, haben die niedrigen Gipfel an beiden Ufern längst verschluckt. Auch den großen Eisberg, draußen im Sund, sieht man nicht mehr. Ein Sommertag in Grönland. Es ist schön hier. Es ist der erste Abend unserer Tour durch die Diskobucht im Westen Grönlands. Am Nachmittag waren mein Kumpel Jens und ich im nahen Aasiaat gestartet. Dort hatten wir ein paar öde Tage vergeblich auf die Auslieferung unserer Faltboote gewartet, die wir einen Monat zuvor von Hamburg aus verschifft hatten. Ein kaputter Containerkran in Nuuk, einen Hafen zuvor, hatte ihre Reise an Bord eines Frachters der Royal Arctic Line ein wenig verzögert. Zwar wärmt das Lagerfeuer von vorn, doch erst ein heißer Tee sorgt für wirklich wohlige Wärme. Noch haben wir uns nicht an das feuchtkalte, für die Diskobucht untypische Klima gewöhnt, das die letzten Tage vorherrschte. Im Sommer kennt man die Bucht als »Haltestelle der Hochs«. Das bedeutet zwar keine hohen Temperaturen – auch im Juli liegen sie durchschnittlich nicht über 10 Grad Celsius – , aber normalerweise wenigstens blauer Himmel und Sonne.

DER GESANG DER INUIT

Zum zweiten Mal die Boote beladen. Noch passen die wasserdichten Säcke mit Lebensmitteln, Kleidung, Zelt, Schlafsäcken und Isomatte auch mit Geduld nur teilweise unter Deck, der Rest wird außen verschnürt. Doch Morgen für Morgen verbessern wir unsere Technik, Tag um Tag schrumpfen auch die Vorräte – sechs Kilo Nudeln, fünf Kilo Müsli, viel Milchpulver, und auch der große Berg an Schokolade wird immer kleiner. Es dauert bis zum späten Nachmittag, bis wir das östliche Ende des langen Wassergrabens zwischen zwei Inseln erreicht haben und Kurs auf die Insel Qerqertamiut nehmen können, unseren geplanten Übernachtungsplatz, noch fünf Kilometer entfernt. Auf halber Strecke kommt ein kleines Motorboot längsseits, ein vom Wetter gegerbter Inuit am Außenborder, seine Frau, in einen Winteranorak gehüllt, am Bug sitzend. Wir sprechen kein Grönländisch, sie kein Englisch. Die Frage nach dem »woher« und »wohin« können wir mit Handzeichen und etwas Dänisch klären. Dann, bevor der Fischer wieder an der Leine seines Motors zieht, zeigt er mit verklärtem Blick auf die kleine Grönland-Fahne, die wir am Heck von Jens’ Boot angebracht haben, und stimmt einen Singsang an. Später, viel später, im Souvenirshop auf der Rückreise, hören wir die Nationalhymne Grönlands und erinnern uns an den Gesang.

EISBERGE ZUM FRÜHSTÜCK

Ikamiut. Die erste Siedlung von dreien auf unserem Weg nach Ilulissat. 80 Menschen leben hier in bunt gestrichenen Holzhäusern auf einer kargen Felszunge. Als wir an einem kleinen Strand auf der Rückseite des Hafens anlegen, um unsere Wassersäcke Ihr könnt ja die Eisberge schon beim Frühstück vorbeitreiben sehen.«aufzufüllen und einen Liter frische Milch zu kaufen, erwarten uns schon ein Dutzend Kinder. Aufgeregt rufen sie durcheinander, drängeln sich in die erste Reihe. Jeder möchte ein Boot an Land ziehen. Als auch der Stärkste merkt, dass er es allein nicht schaffen kann, wird das Projekt gemeinschaftlich gelöst. »Hello, helloooo, hello! Wos yu name?«, probieren die mutigsten ihr Schulenglisch aus. Wir erfahren einige Namen: Hans, Jonas, Karl. Ein junges Paar, der Mann trägt ein kleines Mädchen auf den Schultern, kommt zum Strand hinunter, die Frau heißt uns mit einem feierlichen Händedruck willkommen. Sie heißt Annisarah und spricht exzellentes Englisch. Aus Sisimiut, einer der größeren Städte weiter im Süden, ist sie hierher zu ihrem Mann gezogen. Er ist Jäger und Fischer. »Ihr seid die ersten Paddler in diesem Jahr.« Sie erklärt uns auch, dass der kleine Dorfladen bereits geschlossen sei, und hilft uns, unsere Wassersäcke aufzufüllen. Als sie damit zurückkommt, aus ihrem roten Haus ganz an der Spitze der Landzunge, knapp über der Wasserlinie, hat sie auch einen Liter Milch dabei, den sie uns schenken will. »Behaltet unser Dorf in guter Erinnerung.« Als wir uns im Gejohle von mittlerweile fast dreißig Kinderkehlen verabschieden und unterhalb von Annisarahs Zuhause vorbeipaddeln, kann ich mir ihren Ausblick aus dem Wohnzimmer noch besser vorstellen. »Ihr könnt ja die Eisberge schon beim Frühstück vorbeitreiben sehen«, hatte ich zu ihr gesagt. »Ja. Und die Wale! Fast jeden Tag.«

IM SCHATTEN DES GIGANTEN

Über eine bleischwere, stille See paddeln wir in einer Flaute auf die Insel Eqerqoq zu. Östlich und auch weiter im Süden liegen kolossale Eisberge, gestrandet in Untiefen zwischen 100 und 200 Metern. Wind und Strömung haben sie aus dem Norden der Diskobucht hinausgespült, wo die größten Eisberge weitum geboren werden. »Haltet zu Eisbergen mindestens einen Abstand ihrer dreifachen Höhe. Sonst kommt ihr in große Schwierigkeiten, wenn Eis abbricht und eine Flutwelle entsteht« – in Aasiaat hatte uns eine Paddlerin gewarnt. Wie plötzlich das geschehen kann, erleben wir noch am selben Abend, als wir auf den Hügel hinter unserem Camp am Nordrand von Eqerqoq steigen, um die Mitternachtssonne zu bewundern, die auch um ein Uhr morgens noch glutrot eine Hand breit über dem Horizont steht. Direkt vor unserem Kiesstrand im flachen Wasser liegt ein gestrandeter Eisberg mit Zacken und Zinnen, in alle Himmelsrichtungen ragend, am höchsten Punkt vielleicht drei Meter über der Wasserlinie. Plötzlich knackt es laut und kracht und knirscht, ein Geräusch wie zerberstendes Holz, dann zerbricht der Eisberg erst in zwei, dann in viele Teile. Schäumend stürzen sie ins Wasser, es gischtet weiß, eine kleine Welle breitet sich ringförmig aus. Beeindruckend. Beängstigend, wenn man sich dazu einen 40, 60 oder 100 Meter hohen Brocken vorstellt.

WALE, WIND UND WOLKEN

Ich sehe die Wale zuerst. Wir haben uns die Insel Tinn.ssaraq für die Nacht ausgesucht und halten an Land gerade Ausschau nach dem besten Platz fürs Zelt, als ich hinter einem Felsen hervortrete und wieder freien Blick aufs Meer habe. Im Lärm des Windes und der ans Ufer schlagenden Wellen geräuschlos, schlägt ein massiger, schwarzer Körper auf die Wasseroberfläche, einen guten Kilometer entfernt. Eine enorme Gischtwolke steigt auf. Der Rücken eines zweiten Wals durchschneidet das Wasser, reckt seine Schwanzflosse in die Luft, bevor er abtaucht. »Waaaale! Wale! Da! Da, da.« Wir stürmen zurück zu den Booten, holen das Fernglas und eilen auf den höchsten Punkt der Insel. Für einen Moment bleiben die Tiere von einem Eisberg verdeckt, dann sehen wir noch einmal ihre glänzenden Rücken und zwei Blaswolken, die der Wind ein Stück mitnimmt. Dann verschwinden die Wale hinter einer Landzunge. Die nächste Etappe führt über die Mündung des Kangersuneq-Fjords, acht Kilometer übers offene Wasser. Dafür hätten wir gern halbwegs gutes Wetter. Zu allem Überfluss ist plötzlich meine Isomatte kaputt, verliert ungeniert Luft, ohne zu zeigen wo. Das macht eine Reparatur schwer.

Wir schlafen trotzdem fast den ganzen Tag. Eine durch die ewige Helligkeit bislang ungekannte Müdigkeit hat uns plötzlich erfasst. Als wir das nächste Mal aus dem Zelt schauen, hat sich die Szenerie geändert: Beim Anlanden vor zwei Tagen war das Wasser vor unserer Landspitze fast frei gewesen von Eisbergen, doch der Sturm hat uns über Nacht einige Brocken in den Weg gelegt. Wohin man auch blickt, weiße Blöcke auf dunklem Wasser. »Immerhin«, meint Jens. Da wird die Überfahrt nicht ganz so eintönig.

EIN UNGEZÄHMTES PARADIES

Das direkte Einzugsgebiet des Kangia, des Ilulissat-Eisfjords, liegt nun noch eine Tagesreise weit entfernt, die Spannung steigt. Wie wird es wirklich sein, in unseren kleinen Faltbooten zwischen den großen Eisbergen, wie ist es dort, wo Eisblöcke mit den Abmessungen von Häuserblocks ins Meer geschleudert werden? Ein wenig Furcht vermischt sich mit dem Geschmack des Abenteuers. Wie gefährlich wird es sein, jenen Fjord zu überqueren, zehn Kilometer breit an der Mündung in die Diskobucht, Abfluss des mit 30 Millionen Tonnen im Jahr produktivsten Gletschers der nördlichen Hemisphäre? Gibt es eine einfache Route vom Südufer durch das Gewirr und Gewusel gigantischer Eiswürfel nach Ilulissat, unserem Ziel am Nordufer? Immerhin: auch der Eisberg, der die Titanic vor Neufundland für immer auf den Meeresgrund schickte, kam aus diesem Fjord.

Den unvergesslichen Anblick, als wir auf der Suche nach einem Zeltplatz die letzte Landzunge umrunden, die uns bisher die freie Sicht auf das Gebiet unmittelbar vor dem Kangia genommen hat, werten wir als gutes Omen für unser Vorhaben: Bis zum letzten Augenblick versteckt, ragt plötzlich ein weiß strahlender Torbogen vor uns aus dem Wasser in den Himmel. 40, vielleicht 50 Meter hoch, eine Skulptur der Natur, geschaffen aus vor Jahrtausenden gefallenem Schnee, gepresst, gewalkt, modelliert auf dem Weg vom Inlandeis hinab zum Meer. Sturmböen und dampfende Boote Am vierten Tag müssen wir weiter nach Ilulissat, noch ein Tag bleibt uns bis zum Heimflug. Am Morgen hatte der Kangia noch eisblau vor einem Pastellhimmel geleuchtet, als wir mittags kurz vor dem Höchststand der Flut die ersten Paddelschläge machen, bricht ohne große Warnung das schlechteste Wetter der ganzen Tour über uns herein. Regen peitscht, dann Hagel, dazu Sturmböen, die die nassen Hände binnen kurzem taub und funktionslos machen. Wir überlassen uns einem plötzlichen Wasserstrom, der zermahlenes Eis vom Kangia zwischen den Eisbergen fortträgt, geraten aber schon nach kurzem in große Kehrwässer, die strudeln und kreisen, die Richtung plötzlich ändern, uns auf der Stelle drehen und zurückschieben. Dabei schlackert das zerkleinerte Eis umher, reibt sich an den Booten, klimpert und mahlt geräuschvoll. Also doch paddeln, der Sonne entgegen, die in der Ferne schon wieder regennasse Berghänge zum Funkeln bringt. »Hier ändert sich jede Stunde das Wetter«, hatte man uns immer wieder stolz erzählt, also hoffen wir, dass es diesmal auch so sein wird … und werden schon nach 40 Minuten erhört. Die Sonne bricht durch, der Wind ist noch mit den ostwärts strebenden Regenwolken beschäftigt und behelligt uns nicht weiter, es wird urplötzlich angenehm warm. Die Boote dampfen, das Wasser leuchtet karibisch grün vor dem Eis, das wir mit gebührendem Abstand umzirkeln, den günstigsten Weg nach Ilulissat suchend. Lange sehen wir das Land nicht mehr, richten uns grob nach dem Kompass und vorbeifahrenden Booten, um unseren Weg zwischen den Eisriesen zu finden. »Eine schönere letzte Etappe kann es doch nicht geben, oder?«, fragt mich Jens nach langem Schweigen. Ich nicke nur, denke an unser Ziel, die erste Dusche seit fast 20 Tagen und ein weiches Bett – will aber gleichzeitig gar nicht weg hier. »Bloß nicht zu schnell paddeln!«

Eine Devise, die wir kurze Zeit später ändern, als sich in unserem Rücken eine neue Unwetterfront zusammenbraut, eine bald nachtschwarze Wand, die den Himmel von West nach Ost, vom Wasser bis hoch über unseren Köpfen einnimmt. Kurze Zeit später verschlingt sie auch die Sonne, die für eine kurze Weile ein surreales Licht über das Eis und uns, ganz klein dazwischen, geworfen hat. So getrieben von Nässe und Kälte im Nacken, erlösendes Land voraus, ziehen wir durch das Eisfeld nordwärts, nehmen schmale Passagen zwischen grotesk zerbröckelnden Eisbergen, Hexenburgen und Geisterschlössern hindurch, bis wir irgendwann die ersten Häuser von Ilulissat vor uns sehen. In weichem und goldenem Licht treiben wir an bunt gewürfelten Häusern vorbei, hören Schlittenhunde bellen und winken am Wasser spielenden Kindern zu. Bis der Regen doch noch kommt, heftig und ungnädig, und wir den Hafen nur schemenhaft unter dem Rand unserer Kapuzen hervor erkennen.

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