Zwei Freunde mit grünem Daumen, ein stillgelegter Bahndamm und jede Menge Enthusiasmus waren die Zutaten für ein Projekt der etwas anderen Art. Seit April wachsen auf den Schienen im Stockholmer Süden Zwiebeln und Zucchinis.
Es gibt Orte, die gibt es eigentlich gar nicht. Wie dieses verlassene Bahngelände im Süden der Stockholmer Insel Södermalm. Ein Niemandsland zwischen Schwimmstadion und Schrebergärten, zugänglich nur über eine steile Böschung, eingegrenzt durch ein Baumateriallager auf der einen und ein mit Graffiti verziertes Tor auf der anderen Seite. Und doch haben sich hier an diesem sonnigen Dienstagabend rund zwanzig Menschen versammelt. Auf dem Gleisbett neben den rostigen Schienen stehen auf Europaletten hundert hölzerne Kisten, randvoll gefüllt mit Erde, in der allerlei essbares Grünzeug wuchert und wächst. Willkommen im »Trädgård på Spåret«, dem Garten auf Schienen.
Freude an Ort und Gemeinschaft
Anfang 2012 konnte ich mit meinem deutschen Freund und Architekten Max Zinnecker die Stadt Stockholm überzeugen, uns das ungenutzte Areal für ein urbanes Gartenprojekt zeitweise zu vermieten. Wir gründeten einen Verein und fanden schnell Sponsoren für Paletten und Kisten, Gartengeräte, Erde und Samen. Mit den ersten der inzwischen rund dreihundert Mitglieder des Gleisgarten befreiten wir im Hier wächst was.schneeregenreichen April das Gleisbett von Müll und Gestrüpp. Wir bauten Kisten, konstruierten eine Treppe aus Europaletten und schleppten säckeweise Erde hinab. Wer zu Hause Fenster nach Süden hatte, zog Tomaten-, Kürbis- und Salatpflänzchen heran. Ab Anfang Mai wurde gesetzt und gesät. Nun, im warmen Spätsommer, fahren wir die Ernte ein. Und damit meine ich nicht nur die Tüte mit Gemüse, vor allem auch die Freude an Ort und Gemeinschaft. Hier wächst was.
Stockholmer Syndrom
»Nach einem Tag vor dem Computer tut es einfach gut, die Finger in die Erde zu stecken«, sagt Gründungsmitglied Lisa und zieht ein Radieschen aus der Kiste. Sie arbeitet sonst in einer Werbeagentur. Trotz Sommerhaus an der Westküste und Balkon auf Södermalm hat sie erst auf der Schiene so richtig mit dem Gärtnern begonnen. »Entweder fehlt die Zeit oder der Platz – oder das Know-how«, beschreibt sie ein »Viele sehnen sich nach einer Möglichkeit, wohnungsnah ein bisschen zu buddeln und zu pflanzen.«typisches Stockholmer Syndrom. Viele sehnen sich nach einer Möglichkeit, wohnungsnah ein bisschen zu buddeln und zu pflanzen. Die Nachfrage und entsprechend die Wartezeit für zentrale Schrebergärten in der Stadt ist enorm. »Wer bei uns einen Platz haben will, bewirbt sich meist mit Anfang dreißig und bekommt ihn dann kurz vor der Rente«, sagt Calle Malmgren, unser Nachbar und Vorsitzender des Kleingartenvereins Eriksdalslund. Die Schrebergartenkolonie am Årstaviken, die uns freundlicherweise mit Wasser versorgt, ist eine der größten Stockholms – und eine der begehrtesten, wie Calles Warteliste zeigt.
Gärtnern wie Gott in Schweden
Es ist ein idyllisches Bild, das sich bietet, wenn man die Uferpromenade zwischen Skanstull nach Hornstull entlangspaziert: Holzhäuschen hinter roten Zäunen, zwischen Obstäumen, Johannisbeersträuchern und Gemüsebeeten. Gärtnern wie Gott in Stockholm, mag man denken. »Die Zeit hier ist heilsam«, meint Calle und dass es wichtig für Großstädter sei, die Nähe zur Natur zu erleben. Das bestätigt auch Tin-Tin Jerskilt, Chefin von Rosendals Trädgård. Der öffentliche Garten auf der beliebten Insel »Die Zeit hier ist heilsam«Djurgården in Stockholm hat königliche Wurzeln, die ins 17. Jahrhundert zurückreichen und ist seit 1982 in Besitz einer Stiftung. »Es gibt wenige Orte in der Stadt, an denen wir erleben können, wie die Pflanzen in unseren Supermärkten und Gartencentern eigentlich entstehen«, sagt Tin-Tin. Rosendals Trädgård ist in dem Sinne nicht nur ein sehenswertes Stück Gartenkultur, sondern hat auch einen pädagogischen Wert. Hier gibt es Wissen zum Anfassen, das sich bei Bedarf noch durch einen biodynamischen Gärtner- oder Kochkurs erweitern lässt. Die Resonanz ist groß.
Bee urban – das öko start-up
Für Karolina Lisslö sind urbane Gärten zentraler Bestandteil einer nachhaltigen Stadtentwicklung. »Sie sind wichtig für die biologische Vielfalt in der Stadt«, so die Biologin und Mitgründerin von Bee Urban. Das Öko-Start-up stellt im Auftrag von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen künstlerisch gestaltete »Bienen haben eine Schlüsselstelle im Ökosystem«Bienenkörbe im Zentrum Stockholms auf. »Bienen haben eine Schlüsselstelle im Ökosystem und sind unverzichtbar für unsere Lebensmittelproduktion.« Dafür will Bee Urban ein größeres Bewusstsein schaffen. In der Stadt gehe es Bienen oft gut, weil sie hier auf eine größere Variation an Pflanzen treffen als in den Monokulturen auf dem Land und weniger Schädlingsbekämpfungsmitteln ausgesetzt sind.
Die Hipster-Bauern
Auch am Rande der Schiene steht – Mitglied und Imkerin Sigrid sei Dank – seit Kurzem ein Bienenkorb. Nicht ganz so schick wie die von Bee Urban, aber die Bewohner fühlen sich wohl hier zwischen Kisten und »Kolonieparzellen«, wie die Kleingärten auf Schwedisch genannt werden. Genauso wie wir. Der »Trädgård på Spåret« scheint jedenfalls den grünen Nerv der Einwohner Södermalms getroffen zu haben. Weil er zeigt, wie schön, einfach und entspannt Gärtnern in der Stadt sein kann. »Den grünen Nerv der Einwohner Södermalms getroffen«Weil er mitten im Stadtzentrum demonstriert, wie Obst und Gemüse wachsen. Und weil er ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringt. »Hipsterbönder«, zu Deutsch Hipster-Bauern, hat uns die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter neulich in einem Artikel genannt. Mit dem Stempel muss man wohl leben, denke ich und beiße in die selbstgebackene Zimtschnecke von Wiola. Sie ist mit 87 Jahren unsere älteste Hipster-Bäuerin. ▲