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Zu Pferd durchs Gebirge – das erfordert viel Erfahrung und Disziplin, straffe Zügel und große Ernsthaftigkeit. Glaubten wir, aber wir hatten uns geirrt. In einem abgelegenen Nest im schwedischen Fjäll haust eine Horde struppiger Islandpferde, die abenteuerlustigen Hobbyreitern jeden Wunsch erfüllt.
In diesem Dorf kann man sich leicht wie der einzige Tourist vorkommen. Es heißt Jormvattnet und liegt im Norden Jämtlands, 900 Kilometer von Stockholm entfernt, auf einer Lichtung mitten in der Wildnis. Hier passierte es uns im letzten Jahr, dass wir den Schlüssel zu unserem Ferienhaus von demselben Mann ausgehändigt bekamen, der uns wenig später im Restaurant das Entrecôte servierte. Am Tag darauf saß er im Dorfladen an der Kasse. Abends begegneten wir ihm wieder – am Einlass zum Dorffest. Dieses Erlebnis ist typisch für viele kleine Touristenorte im schwedischen Fjäll. Es erinnert an den Anfang eines Kriminalromans oder einer Gruselgeschichte.
In Jormvattnet denkt man eher an einen von isländischen Sagas inspirierten Abenteuerfilm, mit großartigen Landschaftsaufnahmen und atemberaubenden Actionszenen. Die Hauptdarsteller tragen Namen wie Nös, Nattar, Menja, Hröfn und Elding. Die meisten von ihnen sind Isländer in doppelter Hinsicht: Sie gehören nicht nur zu der besonderen Pferderasse, die sich in tausendjähriger Isolation auf der kargen Insel im Nordatlantik entwickelt hat, sondern sie stammen auch direkt von dort. »Es macht Spaß, nach Island zu fahren und Pferde zu kaufen«, sagt unser Guide Ola Sundquist, und er erzählt uns, wie er an Kùri geraten ist, einen widerspenstigen Wallach, dem die lange, grau gesprenkelte Mähne über die Augen fällt.
Die Geschichte geht so: Auf Island, einige Jahre zuvor, hatte Kùri einem eingewanderten Finnen gehört, der das Pferd angeblich auf seinen eigenen Namen getauft hatte. Irgendwann wollte er Kùri verkaufen. Bei dem erstklassigen Stammbaum des Wallachs war es nicht schwer, einen Interessenten zu finden. Aber der Eigentümer stellte eine Bedingung. Das Pferd sollte unter keinen Umständen an Joha weiterverkauft werden, einen streitsüchtigen Nachbarn mit ausgeprägter Vorliebe für starke Getränke. Kùri wurde von einem isländischer Pferdehändler erworben, der schlau genug war, ein gutes Geschäft zu wittern, und Joha direkt anbot, sich den Wallach unter den Nagel zu reißen. Joha schlug zu, und den Namen Kùri fand er durchaus passend. Wenn er gefeiert hatte, kam es vor, dass er am Nachbarhaus vorbeiritt und lautstark sein Pferd antrieb, um den früheren Besitzer noch mehr zu ärgern. Nach einer Weile war Schluss mit lustig. Joha brauchte Geld, und Kùri, also das Pferd, landete bei einem Veranstalter von Reittouren. Und zwar in Schweden, bei den Wildnis-Pfadfindern von »Rid i Jorm«.
Sinn der Sache ist das Durcheinander
Unser Guide Ola, 45 Jahre alt und in Jormvattnet geboren, ermuntert uns von Anfang an dazu, eigene Pfade zu entdecken. »Der Sinn der Sache ist das Durcheinander, nicht das Reiten auf vorgeschriebenen Wegen«, erklärt er und beschleunigt das Tempo. Wir, die Gäste, sind kurz im Zweifel, ob der Guide uns auf den Arm nehmen will. Dann folgen wir ihm, schon etwas mutiger als vorher. Bald können wir uns kaum noch vorstellen, dass wir morgens ein wenig geniert unter dem Schirm unserer Schutzhelme hervorgeguckt und von unseren Reit-Erfahrungen geredet haben, während wir eines der Pferde verkehrt herum sattelten. Jetzt, nur wenige Stunden später, springen wir über liegende Baumstämme und ducken uns unter Bergbirkenzweigen. »Viele Touristenführer finden es am einfachsten, die Gruppen auf festgelegten Wegen reiten zu lassen. Ich glaube aber, für eure Sicherheit ist es besser, wenn ihr lernt, mit den Pferden zu kommunizieren. Dann kriegt ihr riskante Situationen selbst in den Griff «, sagt Ola.
Er betreibt »Rid i Jorm« seit etwa zehn Jahren. Damals war er nach längerem Aufenthalt auf Island in seine Heimat zurückgekehrt und hatte das Unternehmen gegründet, das er jetzt zusammen mit seiner Freundin Elin Eriksson leitet. Es will Kunden ansprechen, die mehr an Ausritten als an Sitzungen interessiert sind, und hat sich im Laufe der Jahre viele Stammgäste erworben. Die Reitstrecken befinden sich zum großen Teil oberhalb der Baumgrenze. Ende September leuchtet das Fjäll in allen Herbstfarben, vor allem dann, wenn die Sonne hervorkommt. Aber selbst bei guten Wetterverhältnissen ist das Gebirgsklima hart. Die Temperatur liegt bei etwa fünf Grad, und der Wind lässt nie nach. Von der norwegischen Grenze aus sieht man einen Berg, dessen Gipfel schon schneebedeckt ist und weiß leuchtet: Es ist der 1 700 Meter hohe Kvigtind im Naturreservat Börgefjell.
Für die Pferde ist die Umgebung ideal. Auch im Winter, bei extremen Minustemperaturen, suchen die Tiere keinen Schutz, sondern bleiben lieber draußen, dicht aneinander gedrängt und das Hinterteil gegen den Wind gekehrt. Die Islandpferde von Jorm gehen das ganze Jahr nicht in den Stall. Sie sind ein ganz besonderes Beförderungsmittel, das nicht viel Service braucht. Während der Reittouren begnügen sie sich mit den nährstoffarmen Gräsern, die auf den Mooren wachsen. Wenn die Gruppe ihren Lagerplatz erreicht hat, baut Ola ein Gehege, in dem die Pferde fressen können. Das ist alles: kein Stall, kein Striegeln, kein Füttern. Janne Strömstedt, so etwas wie ein Stammkunde hier oben, sinniert über sein Pferd Hröfn.
»Wenn ein Bach kommt, scheint er zu denken: Da müsste man drüberspringen können. Es ist eigentlich mehr guter Wille als Kompetenz.« Es liegt an der Duldsamkeit der Islandpferde, dass sie sich den Bedingungen im schwedischen Fjällgebiet so gut anpassen können. Außerdem sind sie relativ leicht und sinken deshalb nicht in die tückischen Moorböden ein, wie es bei schwereren Pferden der Fall wäre. Vielleicht ist es nicht so erstaunlich, dass die Tiere sich in dieser Gegend wohlfühlen, wenn man bedenkt, dass die Rasse hier ihre Wurzeln hat. Ole erklärt: »Das Islandpferd ist verwandt mit den Pferden, auf denen die Wikinger vor mehr als tausend Jahren über das Fjäll ritten. Die Isländer haben diese Rasse als Lasttier erhalten und veredelt. Hier bei uns züchtete man größere und schwerere Pferde, die geeignet waren, Baumstämme durch den Wald zu ziehen.«
Pause am Lagerfeuer
Einige der Aktivitäten von »Rid i Jorm« wurden mit dem Qualitätssiegel »Naturens Bästa« ausgezeichnet. Das Schlüsselwort heißt Ökotourismus. Man könnte es auf den Nenner bringen: Habt Spaß in der Natur, ohne sie zu zerstören. An die Reittouren werden deshalb bestimmte Anforderungen gestellt, was ihre Auswirkungen auf die Umwelt betrifft. »Hier in Jorm ist es nicht schwer, die Qualitätskriterien zu erfüllen. Wir brauchten nicht viel zu verändern, wir haben nur unser Engagement für den regionalen Naturschutz verstärkt, indem wir ein Projekt zur Rettung der Jagdfalken fi nanziell unterstützen. Alles andere ergibt sich bei uns auf natürliche Weise«, sagt Ola. Das Frostvikenfjäll ist touristisch noch wenig erschlossen. In den zwei Tagen, die wir auf dem Pferderücken verbringen, begegnet uns kein Mensch.
Wir passieren einige Kreuzungen, an denen Wanderwege markiert sind, finden aber keine Fußspuren. Hier und da, sehr selten, sind Abdrücke von Pferdehufen zu sehen. Im Vergleich zu den üblichen Wanderwegen sind sie eher unauffällig. Zum Ökotourismus gehört auch der Beitrag zur lokalen Ökonomie. Das merkt man am Lagerfeuer, wenn die Pferde sich ausruhen und die Gäste unter freiem Himmel essen dürfen. Die Saiblinge, die über offener Flamme gegrillt werden, wurden hier in der Gegend gefangen, die Kartoffeln und das weiche Fladenbrot stammen von einheimischen Lieferanten. Die Würste, hausgemachte Nürnberger (in Schweden eine Rarität), haben Ola und Elin selbst hergestellt. Die Gruppe, die sich das alles schmecken lässt, kommt aus Östersund, der nächstgelegenen mittelgroßen Stadt. Lauter Leute, die oft in der Wildnis unterwegs sind und Erfahrung mit dem Fjäll haben. Weniger allerdings mit Pferden. »Ich komme oft mit Freunden hierher, die praktisch noch nie auf einem Pferd gesessen haben.
Schon 24 Stunden später galoppieren wir zusammen durch den Wildbach«, sagt Janne Strömstedt, der Veteran. Einer hat eine Schramme im Gesicht, von einem hinterhältigen Ast, andere sind an diesem Wochenende mehrmals vom Pferd gefallen. Allen geht es gut, niemandem tut etwas weh. Wenn man daran denkt, wie es hätte ausgehen können, wenn der Baum zehn Zentimeter weiter weg gestanden oder der Sturz sich eine Sekunde früher ereignet hätte, wird einem trotzdem etwas unbehaglich zumute. »Wir sind nun fast zehn Jahre dabei, und wir hatten noch nie einen ernsten Unfall«, sagt Ole. »Ich habe Bammel vor dem Tag, an dem etwas passiert. Aber das kann uns nicht vom Reiten abhalten.«
Vor der wirklichen Mutprobe des Wochendes, dem Galopp in einem Flusslauf mit starker Strömung, wird Ola ernster. Das Flussbett ist voller Steine und tiefer Löcher. Ein falscher Galoppschritt kann leicht mit einem Purzelbaum enden. Es besteht die Gefahr, dass die Pferde ein Wettrennen veranstalten und sich ihre eigenen, halsbrecherischen Wege durch das Wasser suchen. »Ich weiß, dass ihr die Pferde im Griff habt. Sobald ihr das Gefühl habt, dass es zu schnell wird, müsst ihr dagegenhalten«, mahnt Ola. Als würde ihm für einen Moment das Risiko bewusst, fügt er hinzu: »Wer nicht will, muss nicht mitmachen!« Die Pferde galoppieren auf der ganzen Wasserstrecke. Es geht schnell voran, und es geht gut. Aber das Wasser ist eiskalt. Als wir etwas langsamer werden, versuche ich, meine längst durchnässten Beine anzuheben, in einem lächerlichen Versuch, sie zu retten.
Wilder Galopp durch den Wildbach
Da passiert es: Ich verliere einen Steigbügel. Das Tempo zieht wieder an, und ich angle mit dem Stiefel fieberhaft nach dem baumelnden Bügel. Kùris Rücken unter mir ist stabil, aber jetzt muss ich so vieles gleichzeitig bedenken: die sicherste Route im Fluss finden, das Pferd zurückhalten, den weit ausholenden Galoppbewegungen durch das eiskalt aufspritzende Wasser folgen, und wo ist bloß wieder dieser Steigbügel… Der schnelle Galopp wird durch immer tieferes Wasser abgebremst und geht schließlich in Schwimmbewegungen über. Ich lasse auch den anderen Steigbügel fahren und fühle, wie das Wasser in die Stiefel sickert.
Vorne hat Ola angehalten und wartet auf uns. Ich entspanne mich, schaue mich um und sehe die anderen. Wir lachen, sind nass, glücklich und erleichtert, dass wir mit unseren Kameraden, den Islandpferden, ein weiteres Abenteuer bestanden haben. Es ist die letzte Reittour der Saison. Aber für Kùri, Hröfn, Nös und die anderen wird es noch viele Saisons geben. Der Senior unter den Pferden ist 28 Jahre alt und beim Tourreiten immer noch dabei. Man könnte in Versuchung kommen, zu schreiben, die Pferde seien die besten Führer durch das schwedische Fjäll. Aber eigentlich ist es genau umgekehrt: Die Islandpferde selbst sind die Attraktion, und die Fjäll-Landschaft ist der ideal Spielplatz für dieses Erlebnis.