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Eine Volksbewegung auf Schlittschuhen hat Skandinavien erfasst. Nordic Skating – mit speziell dafür vorgesehenen Schlittschuhen und Stöcken – lockt inzwischen Massen von Schweden und Finnen auf winterliche Seen und zugefrorene Meeresbuchten. Magnus Londen hat sich für NORR auf Anfängertour gewagt.
Zeigt mir finnische Männer oder Frauen, die nicht auf Schlittschuhen stehen können! Viele dürfte es davon nicht geben. Das ist ganz und gar das Verdienst unseres Staates. Wir sind vielleicht nur ein unbedeutendes Land im Norden, aber zwei Dinge, darüber sind sich die meisten einig, muss bei uns jeder in der Schule lernen: Lesen und Schlittschuhlaufen. Deshalb hörte sich der Kommentar des Tourenführers Markus Fogelholm auch ganz logisch an: »Du müsstest schon wahnsinnig ungeschickt sein, um das hier nicht zu packen.« Und doch: Meine Schlittschuhe kollidieren ständig miteinander. Das Gleichgewicht meines Körpers, das ich normalerweise als selbstverständlich betrachte, hat sich völlig verflüchtigt. Hier und jetzt habe ich nur noch einen einzigen Wunsch: mich auf gewöhnliche Eishockeyschlittschuhe zu stellen und an den siebzehn unverschämt rotbackigen, frischfröhlichen Läufern da vorne vorbeizuspurten.
Watscheln wie eine Ente
»Nun komm schon. Du hast keine Eishockeyschlittschuhe an. Du musst die Balance halten, dich weich und langsam bewegen. Ein bisschen watscheln wie eine Ente. Und die Füße in langen Schritten vorwärtsgleiten lassen«, sagt Markus. Seine Füße, seine Beine bewegen sich graziös, sein Gewicht verlagert sich zuerst auf den linken Fuß, dann auf den rechten, und wie von ungefähr hat er plötzlich eine respektable Geschwindigkeit erreicht. »Weich und langsam.« Inzwischen kann ich seine Tips auswendig.
Aber wenn die Schlittschuhkufen etwa einen halben Meter lang sind, scheinen die besten Ratschläge nichts zu nützen. »Denk daran, die Stöcke zu benutzen. Dann geht es leichter. Stell dir vor, dass du auf der Loipe bist und auf Skiern skatest«, ruft Markus. Langsam erhole ich mich von dem Schock, dass ich auf Schlittschuhen nicht stehen kann. Und dann fängt es an zu funktionieren. Auswärts schreiten, gleichzeitig vorwärts. Langsam und weich! Ich werde schneller, mutiger, besser gelaunt und denke: »Man muss wirklich wahnsinnig ungeschickt sein, um das nicht zu packen.«
Zm ersten Mal kann ich den Blick vom Eis heben und mich umschauen. Wir sind im Schärengürtel von Espoo. Wir laufen tatsächlich Schlittschuh auf dem Meer! Das Eis ist ein wenig uneben, grau und trüb, aber es ist dieselbe Gegend, die in weniger als einem halben Jahr von Segel und Motorboten wimmeln wird. Hier und da haben kleinere oder größere Steine das Eis gesprengt, als hätten sich kleine Vulkaninseln neu gebildet. Aber ansonsten herrscht das Eis. Es ist Winter, und Winter ist Eiszeit. Und während der Eiszeit zieht es immer mehr Finnen hinaus aufs Meer und auf die Seen. Überall sieht man Gruppen von Läufern und einsame Eispioniere.
Kein Leistungsanspruch und kein Snobismus
Auf der anderen Seite der Ostsee machen es die Schweden ebenso. Und auch in Norwegen wird der Eissport offenbar immer beliebter. Es sind alte Traditionen, die zu neuem Leben erweckt werden. In meinem Lexikon aus dem Jahr 1917 steht, dass das Schlittschuhlaufen in Skandinavien um 1850 eingeführt wurde und dass »der Langlauf auf glattem Eis über die weiten nordischen Meeresbuchten ein unvergleichlich tiefes Gefühl von Gesundheit und ein feierliches Vergnügen an der Schönheit der Natur« schenken kann. Die Mitglieder der Gruppe, der ich mich angeschlossen habe, mit ihren Karten und Kompässen, Rucksäcken und Thermosflaschen, Butterbroten und Süßigkeiten, würden dem zustimmen.
Das Gelächter und der Jargon sind typisch für eine Gruppe, die schon viel gemeinsam erlebt hat,die durch ihre Freizeitinteressen zusammengehalten wird. Hier gibt es keinen Leistungsanspruch und keinen Snobismus. Nur langsames, harmonisches Gleiten über das Eis. »Dieser Sport ist auch für uns Ältere geeignet. Und beim Nordic Skating ist das Naturerlebnis genauso wichtig««, erklärt mir Ulla, eine echte Enthusiastin. Der andere Tourenführer, Mikael Sundman, läuft immer weit voraus, erkundet das Gelände, sucht die gleichmäßigsten Eisstrecken und zeigt uns, die wir bereitwillig folgen, die Richtung an. Und so geht es viele Stunden lang. Es stimmt tatsächlich, was der Verein in seinem Mitgliedsblatt behauptet: »Das Schlittschuhlaufen auf Natureisflächen bringt Mensch und Natur ganz nahe zusammen.«
Aber am faszinierendsten ist das Eis selbst. Darauf zu stehen und zu gleiten, zu begreifen, dass es Wörter gibt wie »Eisrinne«, »Wrackeis« und »Packeis«, »Kerneis und »Eislöcher« … sich klarzumachen, dass das Eis plötzlich Sprünge bekommen kann. Die Stöcke sind notwendig, um zu verhindern, dass man sich im kalten Meerwasser wiederfindet. Der erfahrene Läufer kann feststellen, wie dick das Eis ist und ob es hält, indem er die Stockspitze mehrmals fest hineinstößt.
Die Eisdecke muss mindestens fünf Zentimeter stark sein, um einen Erwachsenen zu tragen. Man sollte sich möglichst nicht allein, vor allem aber nicht ohne die erforderliche Ausrüstung aufs Eis begeben. Alle Läufer tragen einen Eispickel am Hals, und in ihren Rucksäcken haben sie Rettungsseile und Reservekleidung. Wenn man doch einmal in einem Eisloch landet, dient der Rucksack als eine Art Schwimmweste, und gleichzeitig werden dem frierenden Unglücksraben von mehreren Seiten Rettungsleinen zugeworfen. Während wir uns in gemächlichem Takt vorwärtsbewegen, frage ich die anderen nach Muskelkater. Kann man so etwas bekommen?
Alle verneinen. Dennoch fühlen sich meine Beine an, als wären sie aus Gelee. Nach weiteren fünf Stunden und mehr als dreißig Kilometern bin ich noch erschöpfter. Aber es ist eine glückliche Erschöpfung. Ulla Aminoff muntert mich mit Anekdoten auf, von fantastischen Ausflügen auf Binnenseen, wenn das Eis noch ganz frisch ist, von Sonnenuntergängen über einem spiegelblanken, gefrorenen Meer, von glasklaren Eisflächen, unter denen die Schlittschuhläufer die Fische schwimmen sehen können… Schon nach meiner ersten Nordic-Skating-Tour bin ich bereit, diesem Verein auf Lebenszeit beizutreten.