Kostbarer Norden: Die Jagd nach Schwedens Rotem Gold
Die Jagdsaison auf den Rogen der Kleinen Maräne, ein lokales Spektakel im Bottenviken, beginnt Ende September. Steven Ekholm und Nicklas Blom haben die Berufsfischer von früh bis spät auf ihrer umstrittenen Fangtour begleitet.
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Es ist noch vollkommen dunkel, aber wir sind pünktlich. Zwei Tage nach Beginn des Maränenfischens parken wir das Auto am Kai von Storön, in der Nähe von Kalix in Norrbotten. Man hat uns gebeten, nicht zu spät zu kommen. »Wir können nicht auf euch warten«, lautete der trockene Kommentar unseres Gastgebers Bosse Sillman, als wir am Tag zuvor telefonierten. Als Skipper und Berufsfischer sind Bosse Sillman und Hans Frölander wie alle anderen Maränenfischer in diesen entscheidenden Wochen extrem fokussiert. Im Scheinwerferlicht hieven Hans und sein Helfer Kenneth Klöfver die großen Container ins Boot, die sich am Ende des Tages hoffentlich mit Fischen füllen werden. Die wichtigsten Vorbereitungen sind schon getroffen. Kurz vor fünf taucht Bosse auf. Die beiden Schärentrawler, die nebeneinander auf der Reede liegen, haben so kleine Steuerkabinen, dass Nicklas und ich uns für die Fahrt trennen müssen. Ein paar Minuten später verlassen wir Storön. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.
Das rote Gold des Bottenvikens, »siklöja« (dt. Rogen der Kleinen Maräne), erwartet uns im kalten Brackwasser des Schärengebiets. Und mit ihm ein langer Tag auf See. Die Kleine Maräne (Coregonus albula), ein Süsswasserfisch aus der Familie der Lachse, wird auch in anderen Gegenden Schwedens gefangen, unter anderem im Vänern, und auch dort wird Löjrom, der Maränenrogen, produziert. Aber nur im Bottenviken ist er in Geschmack, Konsistenz und Farbe so einzigartig, dass er im Jahr 2010 als erstes schwedisches Produkt überhaupt die Geschützte Ursprungsbezeichnung, das wichtigste Lebensmittelprädikat der EU, erhielt. Dadurch ist er gleichwertig mit anderen europäischen Berühmtheiten, etwa dem Parmaschinken. »Kalixlöjrom« darf sich nur der Löjrom nennen, der in den nördlichen Kommunen Piteå, Luleå, Kalix und Haparanda gefischt und zubereitet wird. Mit diesem Produkt bekam Schweden seinen ersten Fixstern. Die Marke »Kalixlöjrom« wurde schon in den Siebzigerjahren eingeführt und mit jedem Jahr bedeutender. Ihre Beliebtheit hat den Preis nach oben getrieben, vor allem seit der offiziellen Vergabe der Ursprungsbezeichnung.
Die Kleine Maräne wird im Bottenviken selten länger als 20 Zentimeter und ein weiblicher Fisch hat nur drei bis fünf Gramm Rogen, dessen Größe und Konsistenz sich innerhalb einer Fangperiode verändert: In der ersten Woche ist er kleiner und fester, danach legt er mit fortschreitender Saison um bis zu 50 Prozent an Größe zu, wird aber auch wässriger in der Beschaffenheit. Der Primeur-Rogen aus der ersten Fangwoche ist deshalb besonders wertvoll. Einige Produzenten verkaufen diese begehrte Delikatesse getrennt vom restlichen Löjrom. Gefischt wird ab dem 20. September für vier bis fünf Wochen. Danach sind die Fische geschützt. Die Kleine Maräne im Bottenviken hat ein sehr ausgeprägtes terroir, einen Geschmack, der durch bestimmte geografische Gegebenheiten gefärbt ist. Dazu trägt die Tatsache bei, dass der Fisch hier nicht im Sü.wasser lebt, sondern im größten Brackwasserschärengebiet der Welt. Der wichtigste Grund ist jedoch, dass die großen Flüsse, wie der Torneälven und der Kalixälven, mineralreiches Wasser mitbringen, das den Geschmack des Rogens beeinflusst. Die niedrige Wassertemperatur tut ihr Übriges.
07.10 Uhr
In der engen Kabine der »Jolin 5« sind die GPSSeekarte und die verschiedenen Echolote die einzigen Lichtquellen. Schon bald aber geht die nächtliche Finsternis in eine kobaltblaue Morgendämmerung über und wir erkennen die Umrisse der Schärenlandschaft. Hans, der wie Bosse aus Sundsvall stammt, fährt seit 2009 mit seinem eigenen Boot hinaus zum Fischen. Die Maränenfischerei ist streng reguliert durch persönliche Lizenzen, die zwischen Piteå und Haparanda zur Zeit auf 35 Stück limitiert sind. Wenn ein Fischer neu einsteigen will, muss also ein anderer vollständig aufhören.
»Ich hatte Glück, weil ich die Lizenz des früheren Eigentümers übernehmen konnte«, sagt Hans und nickt zu Kenneth hinüber, dem das Boot vorher gehörte. »Und jetzt bin ich es, der Hans zur Hand geht«, antwortet der erfahrene Berufsfischer aus seiner Kabinenecke.
»Es ist schwer, dieses Leben ganz und gar aufzugeben, auch wenn man sich manchmal fragt, warum man eigentlich immer weiterkämpft.«
Der Maränenfang wird mit jeweils zwei Trawlern ausgeführt, die gemeinsam ein trichterförmiges Schleppnetz in einer Tiefe zwischen 10 und 30 Metern über den Grund schleifen. Bei Tageslicht halten sich die Maränen am Meeresboden auf. Dort werden sie abgefischt. »Da sie während der Nacht in seichtere Gewässer auf steigen, hat es nicht viel Sinn, dann nach ihnen zu fischen«, sagt Hans. Die Stunden tagsüber auf See reichen meist schon aus. Die Schleppnetzfischerei, die Hans und Bosse betreiben, ist effizient, aber höchst umstritten und wird teils heftig kritisiert: Der Meeresboden wird aufgewühlt und die dort lebende Flora und Fauna geschädigt, es werden Düngersubstanzen und Umweltgifte aufgewirbelt, die sonst im Bodensediment verborgen bleiben.
Der schwedische Naturschutzbund legte 2016 einen Bericht über die vielfältigen Folgen dieser Fangmethode vor. Die Stiftung Baltic Sea 2020 ist der Ansicht, dass das Trawlen ökologisch nicht mehr vertretbar sei und deshalb aufgegeben werden sollte. Die Berufsfischer halten dagegen, dass ohne die Schleppnetzmethode der größte Teil des schwedischen Fischereigewerbes zum Erliegen käme. Im Vänern, dem zweitwichtigsten Ort der Löjrom-Fischerei in Schweden, wurde die Schleppnetzmethode 2007 verboten. Dort werden inzwischen 300 Tonnen Maränen pro Jahr mit traditionellen Netzen gefangen. Im Bottenviken, wo die Fischerei sowohl von der Behörde für Meeres- und Gewässerschutz als auch von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften überwacht wird, muss das Schleppnetz immerhin kleinere Fische und Meerestiere aussortieren. Die Maschen dürfen nicht enger sein als 26 Millimeter. In dieser Region wurden noch keine negativen Langzeitfolgen für den Bestand oder die Reproduktion der Fische festgestellt, obwohl in der fünfwöchigen Fangsaison jeweils etwa 1 300 Tonnen Maränen an Land geholt werden. Und tatsächlich ist das Gebiet Bottenviken die erste Maränen-Schleppnetzfangzone der Welt, der vom Marine Stewardship Council (MSC) ein Zertifikat für nachhaltige Fischerei verliehen wurde. In der Vergangenheit wurde hier nach traditionellen Methoden gefischt.
Hans’ Miene verdunkelt sich, als er auf die Robben und ihre negativen Auswirkungen auf die Berufsfischerei zu sprechen kommt. Er berichtet, wie hoch die Anzahl der Tiere ist und wie viele Fische sie pro Tag verzehren. Fische, die – laut Hans – am Leben bleiben sollten, um die Meeresfauna in der Ostsee wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
»Viele der Fische holen die Robben aus den Netzen der küstennahen Fischerei und zerstören gleichzeitig Fanggeräte im Wert von Millionen Kronen. Die Umstellung von traditionellen Fangnetzen zu Schleppnetzen liegt zum großen Teil an dem großen Robbenbestand. Ich frage mich, worin da der Gewinn für die Umwelt besteht«, sagt Hans.
Hans und Bosse teilen ihren Fang zur Hälfte mit ihrer Partnerin Annika Bergdahl, der Eigentümerin der Rogenverarbeitungsanlage. Das letzte Wort aber hat in der Regel Bosse, wegen seiner vielen Berufsjahre in der Branche. Er entscheidet, wo gefischt wird und wann es Zeit zum Umkehren ist. Die Kommunikation erfolgt über Mobiltelefone, nicht über Funkgeräte. Die Funkfrequenz ist nämlich offen. So könnte alles von sämtlichen Fischern mitgehört werden. Man will vermeiden, den anderen Auskunft darüber zu geben, wie es läuft. Nichts wird dem Zufall überlassen. »Ist das Kollegialität oder Konkurrenz?«, frage ich. »Konkurrenz, absolut. Harte Konkurrenz«, sagt Hans.
Unsere beiden Boote liegen draußen auf dem Wasser nebeneinander, wir befestigen das Schleppnetz zwischen ihnen und lassen die Stahlseile von der Winde, an denen die 90 Meter langen Netze über den Meeresgrund geschleift werden. Dann befahren wir die Fischgründe vor Storön neun Stunden lang mit einer Geschwindigkeit von 2,5 Knoten. Die Maränenfischerei erfordert viel Geduld und Ausdauer beim Beobachten des Echolots. Wenn kein Schwarm in Sicht ist oder nicht regelmäßig genug Schwärme auftauchen, ändert man vielleicht lieber die Route. Womöglich ist irgendein anderes Trawlerpaar vorbeigezogen und hat das Wasser am Meeresboden getrübt, sodass die Fische sich nach allen Seiten verteilt haben.
Es gibt viele Theorien über die Ursachen, weshalb man keine Fische findet. Aber wenn der Fang gut ist, fährt man weiter. Hans und Kenneth sind nicht zufrieden mit dem, was das Echolot ihnen anzeigt. Die Schwärme sind zu klein und zu spärlich.
14.00 Uhr
Die Stunden vergehen. Unsere langsame Trawlerfahrt wird schließlich fast meditativ. Wir reden, trinken Kaffe und wärmen das mitgebrachte Essen in der Mikrowelle auf. Dann wieder Kaffee. Es fühlt sich ein wenig so an wie auf einem Hochsitz bei der Jagd. Anspannung, Entspannung. Und die Zeit vergeht. Den ganzen Vormittag über weht ein schwacher Wind, es nieselt leicht und dem anfänglichen Pessimismus zum Trotz, scheint es doch Fische zu geben. Jetzt wird darüber diskutiert, wie viele Container wir füllen werden. Wenn es sechs oder acht sind, können wir froh sein, meint Hans. Jeder Container fasst ganze 400 Kilo.
Der Wind frischt zunehmend auf. Hans und Bosse reden immer öfter darüber, wann es Zeit sei, den Fang einzuholen. Ende September wird es früh dunkel, aber Bosse will noch nicht aufgeben. Hans und Kenneth wechseln Blicke voller Skepsis. Kann man den Trawler noch sicher wenden, wenn der Seegang zu hoch ist? Aber niemand stellt Bosses Meinung infrage. Eine halbe Stunde später wird trotzdem beschlossen, den Schleppfang heimzubringen. Die Boote treffen sich auf der Reede wieder, die Dieselmotoren arbeiten, um die Stahlseile einzuholen und schließlich das Fangnetz. Knapp hundert Meter entfernt treibt es nun an der Oberfläche, gefüllt mit Tausenden von kleinen Fischen. Im grafitgrauen Nachmittagslicht glitzert das Netz wie eine Discokugel. Es knarrt beunruhigend, als die gespannten Stahlseile zurück auf die Winde gedreht werden. Der Puls geht rascher, die Kaffeeklatschstimmung ist wie weggeblasen. Alle vier Berufsfischer wissen nun genau, was ihre jeweilige Aufgabe ist. Das Einholen des Fangs bringt ein paar schwierige Situationen mit sich, die zwischen den beiden Booten koordiniert werden müssen. Aber alles läuft nach Plan. Container um Container wird mit dem glitzernden, kostbaren Gut gefüllt. Am Ende sind es acht Ladungen. Mehr als drei Tonnen Maränen. Sobald die Fische auf die »Jolin 5« verladen sind, kehren wir zum Kai zurück. Dort wartet ein Traktor, um die vollen Container zur Verarbeitungsanlage zu bringen, die nur einige hundert Meter entfernt liegt.
Öhlunds in Storön, die Anlage, die Annika Bergdahls Familie gehört und von ihr betrieben wird, ist modern und zweckmäßig eingerichtet. Dutzende von Menschen stehen in dem ersten großen Raum, waschen die Fische und trennen die männlichen Tiere von den weiblichen, die prall gefüllt sind mit Rogen. Sie werden in den nächsten Raum weiterbefördert, wo an diesem Nachmittag zwei Thailänderinnen damit beschäftigt sind, den Rogen zu entnehmen. Die Technik ist ausgeklügelt und doch einfach, das Ganze dauert nur Sekunden. Der Rogen füllt allmählich die Schale zwischen den beiden Frauen und wird in einen weiteren Raum getragen, wo er sehr sorgfältig und vorsichtig gesäubert, getrocknet und schließlich gesalzen wird. Vier Prozent Salz sind beim Kalixlöjrom der einzige erlaubte Zusatz. Danach wird die Delikatesse verpackt und tiefgefroren. Während der Fangsaison arbeiten 35 bis 50 Personen umschichtig Tag und Nacht in der Anlage. Darunter sind Saisonkräfte, die jedes Jahr wiederkommen, aber auch Neulinge. Das Personal der kleinen »klämmeri« in Storön setzt sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammen, aber auch Einheimische sind hier tätig, manchmal aus mehreren Generationen.
20.00 Uhr
Wir verabschieden den langen Tag in der Hemmagastronomi in Luleå. Das ausgezeichnete Restaurant, das gleichzeitig auch eine Bäckerei und ein Delikatessenladen ist, gibt uns Gelegenheit, den Kreis zu schließen. Johan Laiti, der Koch, hat ein paar Kostproben der Saison vorbereitet, die für Augen und Gaumen ein Hochgenuss sind. Seine leicht säuerlich eingelegte Maräne ist ein schlagender Beweis dafür, dass dieser Fisch ein viel besseres Ende verdient hat, als das, was ihn meistens erwartet: Da es etwas Mühe macht, die kleinen Fische von ihren noch kleineren Gräten zu befreien, wird der Großteil derzeit zu Tierfutter verarbeitet. Aber das wäre genügend Stoff für eine andere Geschichte.