Am Stadtrand von Kiruna befindet sich die größte Eisenerzmine der Welt. Und genau deswegen steht die Stadt in Kürze vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte: Sie muss umziehen.
Im Norden Schwedens liegt ein Schatz begraben. So gewaltig, dass er nach mehr als einem Jahrhundert noch immer nicht gehoben ist. Und so wertvoll, dass er jährlich für ein Prozent des schwedischen Bruttoinlandsprodukts sorgt. Gold, Diamanten, mag man sich fragen? Mitnichten. In Kiruna dreht sich alles um den Untertagebau. Eisenerz ist das Kapital der Stadt. Und mit jedem Meter, den man tiefer ins Erdreich eindringt, höhlt man sie unterirdisch aus. Deshalb müssen Tausende demnächst ihre Häuser verlassen. Doch wie verlegt man eine 18.000-Einwohner-Stadt am Polarkreis – noch dazu unter Zeitdruck?
Der Widerstand seitens der Bevölkerung ist verhalten. Mit einem Blick auf die Entstehungsgeschichte des Ortes wird klar, warum. Die Stadt lebt seit ihren Gründungstagen im Jahre 1900 in einer einzigen Symbiose mit ihrem Eisenerz. Ohne die reichen Vorkommen der Region wäre damals niemand auf die Idee gekommen, eine Siedlung hier, mitten im unwirtlichen Nirgendwo, auf 67 Grad nördlicher Breite zu bauen.
Erst der Bau der Eisenbahnverbindung Kiruna-Narvik Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichte den Transport des Erzes zum Export an die norwegische Küste. Bis in die 1950er-Jahre war die Förderung am Hausberg Kiirunavaara noch im Tagebau zu bewerkstelligen. Danach führte man schrittweise den komplizierteren Untertagebau ein. Doch das Geschäft lohnte sich, eine Goldgräberstimmung wie im Wilden Westen überfiel den hohen Norden. Und sie hält bis heute an.
Dem Untergang geweiht
Im Jahr 2004 wurde nach Untersuchungen der örtlichen Bergbaugesellschaft LKAB überraschend bekannt, dass die Deformation des Bodens aufgrund der Eisenerzgewinnung unter Tage bereits weiter fortgeschritten war als bislang angenommen. Im Grenzgebiet zur Grube zeigten sich erste Risse an der Erdoberfläche.
2007 beschloss die Stadt Kiruna deshalb den Umzug in ein neues Gebiet fünf Kilometer östlich des jetzigen Stadtkerns. Die Zeit drängt. Niemand weiß, wie sich die Preise für Eisenerz in 15 oder 20 Jahren entwickelt haben werden. Läuft es gut, kann in den nächsten 20 Jahren ein Erlös von geschätzten 500 Milliarden Kronen (ca. 60 Milliarden Euro) erwirtschaftet werden. Die fortschreitenden Bodenschäden haben schon viele Häuser unbewohnbar gemacht. Bis 2040 muss der Umzug abgeschlossen sein. Noch weiß man nicht, wie tief der Rohstoff tatsächlich steckt – bis zu 2000 Meter, vermuten Experten. Vielleicht steht in 100 Jahren bereits der nächste Umzug an.
Als die Stadt Kiruna 2012 den Wettbewerb für ein neues Stadtkonzept ausschrieb, gingen über 50 Vorschläge von Architekten aus aller Welt ein. Ende März diesen Jahres erhielt schließlich das schwedische Architektenbüro White in Zusammenarbeit mit dem norwegischen Team von Ghilardi + Hellsten Arkitekter den Zuschlag. Mit einem Konzept, dass sich am historisch bewährten System einer Gitternetzbebauung anlehnt. „Diese Struktur ist unschlagbar. Die Stadtteile werden als Netzwerk miteinander verknüpft und integriert“, erklärt Ann Nilsson von White. „Da wir eine verdichtete Stadt mit guter Durchmischung anstreben, wird das Gitternetz ein wichtiges Funktionsmerkmal sein.“ Doch kann so ein System im widrigen Klima Lapplands überhaupt funktionieren?
Naturnahe Bebauung
White zeigt erste Vorschläge, wie eine klimatisch angepasste Baustruktur aussehen könnte. Wichtige Gebäude sollen wie an einem Perlenband dicht entlang der neuen Hauptstraße platziert werden. Ihre deutlichen, quadratischen Konturen werden die Hauptflaniermeile vor starken Winden aus Nord und Süd schützen. Kein Haus wird mehr als drei Blöcke von der Natur entfernt liegen. Damit wird ein wichtiges Anliegen der Einwohner umgesetzt, nämlich die Nähe zur Natur.
„Außerdem wird es in jedem Viertel Mehrfamilienhäuser, Reihenhäuser und Einfamilienhäuser geben“, sagt Ann Nilsson. Besonderes Augenmerk liegt auf der äußersten Häuserreihe, die von den Naturgewalten am meisten beansprucht wird. „Faktoren, die das Aussehen der Gebäude letztendlich beeinflussen werden, sind vor allem die Menge des Schnees am Boden sowie auf den Dächern, die mögliche Nutzung von Sonnenenergie und die Anpassung an die Jahreszeiten.“ Das Klima stellt vielleicht die höchsten Anforderungen an die Künste der Architekten. Glückt das historisch einmalige Projekt, könnte Kiruna ein weltweites Zukunftsmodell werden.