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Vorausgesagt wurde der Sommer 2016 als Zeitpunkt, an dem die Südspitze des Kebnekaise endgültig niedriger als die Nordspitze werden sollte. Dazu kam es zwar nicht, doch ist die Ablösung nur eine Frage der Zeit. Der Journalist Johan Persson begab sich Ende 2015 zum südlichen Gipfel und berichtete mit eindrucksvollen Schilderungen und nach wie vor aktuellen Entwicklungen.
Die Temperatur fällt auf minus zehn Grad. Ich befinde mich in direkter Nachbarschaft eines schneebedeckten Berghangs, 1880 Meter über dem Meer. An einigen Stellen geht es über 100 Meter fast senkrecht nach unten. Eine Kombination aus Müdigkeit und Angst bringt meine Beine zum Zittern. In Europa gibt es mehrere tausend Gipfel, die höher als die Südspitze des Kebnekaise sind. Allein in Norwegen reichen 150 Berge weit über Schwedens höchsten Punkt hinaus. Daher dachte ich, der Aufstieg würde sich wesentlich leichter gestalten. Mein Unbehagen wird nicht gerade weniger, als mein Mitstreiter Anders From, der etwas weiter hinter mir in der Seilschaft unterwegs ist, ruft, er hätte eines seiner Steigeisen verloren. Die Hälfte des Abschnitts liegt noch vor uns, 50 weitere Meter geht es vertikal nach oben, bevor wir uns endlich in Sicherheit wiegen können.
»Klettert weiter«, ruft unsere Bergführerin Viktoria Lundqvist. »Ich kümmere mich um Anders.« Wir tun, was sie sagt. Vorsichtig klettere ich an der steilen Wand aufwärts, dankbar, dass nicht ich das Steigeisen verloren habe. Meine Angst nimmt schon so genug Raum ein. Ich denke darüber nach, wie der Seilhaken wohl auf meine 80 Kilo Körpergewicht reagieren würde, sollte ich den Halt verlieren. Ich muss unwillkürlich an die Reihe von Unfällen denken, die sich in den letzten Jahren auf der Ostroute des Kebnekaise ereignet haben – dort, wo ich mich zurzeit befinde. 2010 stürzte hier ein junger Mann ab, und einige Jahre zuvor fiel ein Bergführer an der Felswand in die Tiefe. Beide starben.
Zwanzig Minuten später bin ich in Sicherheit. Nach einiger Zeit tauchen auch Anders und der Kopf der Bergführerin über der Felskante auf. Anders sieht etwas erschüttert aus, als er und Viktoria sich in der alten Nothütte niederlassen. Es ist eiskalt und fast totenstill. Nur die Kaugeräusche der mitgebrachten Frühstücksbrötchen, von denen wir uns neue Energie erhoffen, durchbrechen die Mauer des Schweigens. Viktoria Lundqvist, die für die Schwedische Touristenvereinigung STF arbeitet, wagt es schließlich, die Stille zu durchbrechen: »Wir müssen uns demnächst wieder in Bewegung setzen. Bis zum Gipfel sind es noch 40 Minuten.« Unser Ziel ist ein weißes, dreieckiges Gebilde aus Eis und Schnee, die Südspitze des Kebnekaise, die den höchsten Punkt des Landes markiert. Noch. Die letzten 200 Höhenmeter geht es auf Tourenskiern vorwärts.
Deutlicher Trend
Im Shop der Kebnekaise-Fjällstation gibt es zurzeit T-Shirts und Kapuzenpullover mit der Aufschrift »2104 meter« zum halben Preis, und laut Informationen des STF wird es in Zukunft keine Souvenirbekleidung mit Höhenmeterangaben mehr geben, weil die Entwicklungen auf Schwedens höchstem Berg zu ungewiss sind.
Während der vergangenen 15 Jahre ist das Eis auf der Südspitze durchschnittlich einen Meter pro Jahr zurückgegangen, und im August 2014 maß die eisige Spitze exakt 2 097,5 Meter. Damit war sie nur noch 70 Zentimeter höher als die Nordspitze, die sich 400 Meter nördlich des südlichen Gipfels befindet und nur aus Gneis und Granit besteht – und somit nicht höher werden kann. Viele glaubten, dass der Sommer 2015 das Ende der Südspitze werden würde, aber der kalte und regnerische Sommer im schwedischen Fjäll verhinderte dies. Vorläufig. Auf lange Sicht geht der Trend deutlich in eine andere Richtung. Wird der nächste Sommer warm, kann der Gipfelwechsel 2016 tatsächlich Wirklichkeit werden.
Lars Nordqvist, ursprünglich aus Schonen, aber wohnhaft in Söderhamn in der Provinz Hälsingland, fragt, wie sich die Gipfeländerung wohl auf die Touristenströme auswirken wird. Viktoria wird nachdenklich. Sie war selbst schon mehrere Male auf dem Kamm unterwegs, der von der Süd- zur Nordspitze führt. Er erinnert an einen 600 Meter langen Schneewall mit senkrecht abfallenden Steilhängen auf beiden Seiten. »Gute Frage. Jedes Jahr erklimmen mehrere tausend Menschen die Südspitze – mit oder ohne Bergführer. Wenn die jetzt plötzlich alle auf die Nordspitze wollen, bekommen wir ein Problem«, lautet die Antwort.
Im Talkessel von Tarfala
Bei besserer Sicht hätten wir bis ins Tarfalatal hinuntersehen können, das drei Kilometer östlich des Kebnekaise liegt – ein windgepeitschter Kessel, in den die drei Gletscher Kebnepakteglaciären, Storglaciären und Isfallsglaciären münden.
Mitten in dieser wilden Pracht stehen auf 1 135 Metern elf rote Gebäude, die die Forschungsstation Tarfala darstellen (siehe auch NORR 2/2011) – ein wichtiger Ort für nationale und internationale Glaziologie und Meteorologie. Die Häuser befinden sich allesamt in nordsüdlicher Richtung, um dem teilweise sehr starken Nordwind standhalten zu können.
Gunhild »Ninis« Rosqvist ist Glaziologin und Professorin für Naturgeografie an der Stockhol mer Universität und verbringt seit mehr als einem Jahrzehnt mindestens zwei Monate im Jahr in Tarfala. Doch schon seit 1968 begeben sich die Forscher der Station jedes Jahr im August auf die Südspitze, um ihre genaue Höhe zu messen. Dann ist die Schneeschmelze am kräftigsten. »Der Kebnekaise reagiert auf die Klimaveränderungen genau wie Gletscher. Dass Schwedens höchster Berg immer kleiner wird, ist ein deutlicher und sorgenvoller Indikator für den Klimawandel. Die Veränderungen sind bereits eine Tatsache und nichts, das erst am Ende des 21. Jahrhunderts über uns hereinbrechen wird, wie manche behaupten«, berichtet Nini. Die exakte Höhe des Gipfels variiert von Jahreszeit zu Jahreszeit, was auf der geringen Größe des Gletschers beruht. Die Gesamthöhe der Südspitze ist davon abhängig, wie viel Schnee im Winter fällt und was davon im Sommer wieder schmilzt. Mittlerweile würde aber schon ein richtig langer und warmer Sommer ausreichen, um die Höhengefüge am Kebnekaise für immer zu verändern.
»Es ist bedauerlich, dass die Schmelze nicht in Stockholm stattfindet. Hier oben sehen nur wenige den Effekt der Erwärmung. Auch in Stockholm wird es immer wärmer, aber dort merkt man das nicht ganz so deutlich wie hier. Im besten Fall wird den meisten ein Licht aufgehen, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden.«
Es wird warm
»Die Forschung ist sich im Großen und Ganzen einig darüber, dass die globale Durchschnittstemperatur bis zum Jahr 2100 aufgrund von Treibhausgasen steigen wird. Man geht davon aus, dass sich die Erwärmung in einem Rahmen von 0,5 bis fünf Grad bewegt. Diese große Spanne hat nichts mit eventuellen Unsicherheiten in Bezug auf die wissenschaftlichen Daten zu tun, sondern hängt einzig und allein davon ab, wie sich die Menschen in den kommenden Jahren verhalten werden«, berichtet Lars Bärring, Klimaforscher am schwedischen Institut für Meteorologie und Hydrologie (SMHI).
»Der Temperaturanstieg wird im Winter am größten sein und zum Ende des Jahrhunderts zwischen zwei und neun Grad liegen. Nordschweden wird ein ähnliches Klima bekommen, wie wir es heute in Mittelschweden vorfinden. Und in Südschweden wird es genauso warm wie in den Niederlanden oder Mittelfrankreich werden. Für Schonen bedeutet dies, dass man in Zukunft das ganze Jahr über Landwirtschaft betreiben kann, was eine grundlegende Veränderung für die gesamte Gesellschaft darstellt.«
Im schwedischen Fjäll ist es nicht nur der Kebnekaise, der sich verändert. Das Skigebiet Ramundberget an der norwegischen Grenze musste kürzlich aufgrund der Erwärmung Schneekanonen einkaufen, um einen Teil seiner Pisten beschneien zu können – und das, obwohl das Gebiet dafür bekannt ist, von November bis Mai schneesicher zu sein. Doch die Anzahl der Tage, an denen in Ramundberget mindestens ein Zentimeter Naturschnee liegt ist mit den Jahren weniger geworden. Und das gilt auch für andere Skigebiete. In Östersund, das etwa 100 Kilometer Luftlinie von Åre entfernt liegt, ist die Zahl der Tage, an denen Schnee liegt, von 163 auf 144 pro Jahr gesunken. In der Untersuchung »Schweden vor den Klimaveränderungen – Bedrohung und Möglichkeiten« ist davon die Rede, dass die Skisaison in Åre bis zum Jahr 2039 voraussichtlich bis zu fünf Wochen kürzer sein wird als jetzt.
Und eine ebenso düstere Entwicklung beobachten die Wissenschaftler in Tarfala also bereits seit 1968. Im ersten Jahr maß die Südspitze 2120 Meter. Bis 1996 unterlag die Höhe einigen Schwankungen, je nachdem, wie hoch die sommerlichen Temperaturen waren. Doch seitdem befindet sich der Gipfel in freiem Fall. Mehr als zwanzig Meter sind in den letzten zwanzig Jahren verschwunden.
Ein Unzugänglicher Gipfel
Viktoria erzählt uns, dass der Nordgipfel um einiges schwieriger zu besteigen ist als die Südspitze, die heute unser Ziel ist. Der Kamm zwischen den Gipfeln ist die meiste Zeit gerade so breit, dass man nicht mehr als zwei Füße nebeneinander setzen kann – und manchmal ist er noch dazu eisig glatt.
»Die Nordspitze erfordert bedeutend mehr Erfahrung«, sagt sie. Sie erzählt uns auch, dass sie mit uns dort gar nicht hingehen dürfte, weil die Verbraucherzentrale in Schweden den Aufstieg nur mit zertifiziertem Bergführer empfiehlt – und diese Qualifikation hat Viktoria nicht. »Wir haben zurzeit einen Mitarbeiter mit dem erfor- derlichen Zertifikat auf der Fjällstation,« klärt sie uns auf. Doch das wird nicht reichen, wenn die Nord- die Südspitze geschlagen hat. »Ich glaube, dass es leider ziemlich schwer sein wird, genügend ausgebildete Bergführer an den Kebnekaise zu holen, wenn es so weit ist.« Doch jetzt ist erst mal Zeit zum Aufbruch. Wenig später sind wir mit unseren Tourenskiern auf dem Weg zur Südspitze. Vermutlich sind wir eine der letzten Gruppen, die hier unterwegs ist – bevor es um einiges risikoreicher und schwerer wird –, um den höchsten Punkt des Landes zu erreichen. Letztes Jahr haben zwischen 7 000 und 8 000 Menschen den Kebnekaise bestiegen, aber im Unterschied zu uns haben die meisten dies während des Sommers gemacht.
Es gibt zwei Möglichkeiten für den Aufstieg. Die meisten wählen die Westroute, ein neun Kilometer langer und markierter Weg über Geröllfelder, der von der schwedischen Naturschutzbehörde sowie der Provinzverwaltung in Norrbotten unterhalten wird. Etwa 1400 der Gipfelstürmer wählten im vergangenen Jahr dagegen die Ostroute. Sie ist kürzer, steiler und nicht markiert. Dazu kommt eine Kletterpassage, die die entsprechende Ausrüstung erfordert. An der alten Nothütte treffen beide Routen aufeinander.
Oben angekommen
Bald haben wir die 2 000-Meter-Marke erreicht. An einem guten Tag könnte man von hier oben kilometerweit gucken. Vielleicht hätte man sogar den Nordatlantik auf der norwegischen Seite erahnen können. Es heißt sogar, dass man von hier oben ein Zehntel Schwedens sehen kann. Nur heute leider gerade nicht. Die Aussicht beschränkt sich auf den Rücken unserer Bergführerin und den Schnee ringsherum. Daher bin ich umso überraschter, als sie uns etwas später darauf hinweist, dass wir am Ziel sind. Erleichterung und Stolz ersetzen Müdigkeit und Unbehagen. Meine Mitstreiter scheinen ähnliche Gefühle zu haben. Niemand scheint an den steilen Abgrund zu denken, der uns umgibt. Vielleicht, weil man ihn im Nebel nicht sieht. Auch die Nordspitze ist nicht zu erkennen.
Es ist mittlerweile minus 16 Grad, und die Eiskristalle in unseren Gesichtern werden immer zahlreicher. Nach fast sieben Stunden Aufstieg mit Seil und Skiern halten wir es nur wenige Minuten auf dem Gipfel aus. Sobald der Gipfel vermessen ist, machen wir uns auf müden Beinen auf den Rückweg. Eine deutlich gesprächigere Gruppe
als auf dem Hinweg erreicht nach kurzer Zeit die Nothütte, wo wir vor dem Abstieg noch eine Runde Brötchen verdrücken. Anders From und die anderen lachen, als sie ihre Handyfotos vom Gipfel anschauen. Lars und ich stellen fest, dass der Aufstieg um einiges schwieriger gewesen ist, als wir dachten. Doch uns alle vereint der Stolz über unsere Leistung. Ein Gefühl, das mehr Menschen vergönnt sein sollte. »Das ist schon heftig, dass ich tatsächlich auf dem höchsten Berg Schwedens gewesen bin«, sagt Lars. »Und sogar auf der Südspitze, die wohl bald Geschichte sein wird.«