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Själbådarna heißen die sechs flachen, kahlen Felsinseln, die etwa einen Meter aus dem Wasser ragen und am äußersten Rand des Schärengebiets von Sankt Anna liegen. Dahinter ist nur noch offenes Meer. Der größte Felsen, Hällarna mit Namen, hat ungefähr die Ausmaße eines Fußball feldes. Dort finde ich eine kleine Bucht, ideal für Kajaks. Ich ziehe den Kajak an Land. Die Möwen heben ab…
…und suchen das Weite. In einiger Entfernung schwirren ein paar Seevögel über die Meeresoberfläche. Sonnenstrahlen glitzern im Wasser, das der Wind über die Felsplatten schwemmt. Drüben auf den Schären schlafen jetzt noch alle, außer den Fischern.
Von der dramatischen Vergangenheit der Själbådar-Inseln ist an diesem schönen Augustmorgen nichts zu sehen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts waren diese Felsen der größte europäische Sammelplatz für Graurobben. Im Frühling und im Herbst fanden sich die Tiere in Scharen hier ein. Ihre Anzahl wurde nie wissenschaftlich erfasst, aber aus verschiedenen Quellen weiß man, dass sich zeitweise bis zu dreißigtausend Graurobben in diesem Gebiet aufhielten. Im Jahr 1932 war der schwedische Journalist und Schriftsteller Sven Barthel hier. In seinem höchst lesenswerten Reportagebuch »Harstena« schrieb er: »Man sieht einen ununterbrochenen Strom von Robben, die teils im Wasser Wache halten, teils auf die Felsen kriechen, sich wieder ins Meer gleiten lassen und von neuem hinaufkriechen. Bis auf den Inseln kein Fleckchen mehr frei ist. Die Tiere krabbeln übereinander, wiegen sich und schaukeln mit den Köpfen, sie rutschen mit ihren schweren Körpern über die Felsplatten, kämpfen miteinander und paaren sich, schnaufen und brüllen.« Wenn die sechs kleinen Inseln vollkommen mit Robben bedeckt waren, hörte man einen furchterregenden Gesang, hilflos traurig und zugleich rücksichtslos ungezähmt, den Sven Barthel »die Stimme der Wildnis« nannte: »Eine durchdringende, abgründige Musik, ein ohrenbetäubender Jammerchor… wie Hundegekläff und Kindergreinen, Wolfsgeheul und Ochsengebrüll, wie das Wehklagen der Verdammten im Höllenfeuer.«
HARSTENAS DUNKLE VERGANGENHEIT
Die nächste besiedelte Insel war, damals wie heute, Harstena. Zu ihr gehörten die Själbådar-Felsen, seit die Dorfbewohner 1757 ihr Land und ihre Fischgründe vom schwedischen König freigekauft hatten. Damit hatten sie hier draußen das exklusive Jagdrecht erworben. Sie wurden die größten Robbenjäger Schwedens, vielleicht sogar Europas. Wenn der Dorfhäuptling von seinem Ausguck sah, dass die Robben auf die Felsen gekrochen waren, rief er die Männer zusammen. Sie stiegen in ein großes Ruderboot, in dem bis zu fünfzehn Personen Platz hatten. Vier Männer saßen am Ruder. Alle hatten Steigeisen unter den Stiefeln, um in Blut und Meerwasser nicht auszurutschen. Jeder war mit einer Knute bewaffnet, einem anderthalb Meter langen, aus junger Eiche gefertigten Schlagholz. Am unteren Ende war die Knute zu einem Haken gebogen und mit Eisen beschlagen. Oft fuhren sie nachts hinaus, wenn die Robben schliefen. Nachdem sie über das off ene Meer gerudert waren, lenkten sie das Boot möglichst geräuschlos in eine Bucht der Insel Hällarna. Die Männer sprangen an Land.
Was dann folgte, war ein blutiger nächtlicher Kampf. Jedem Mann war ein bestimmter Teil der Insel zugewiesen, den er im Laufschritt ansteuerte. Die Robben konnten sich auch an Land schnell bewegen und fl üchteten, aber dabei schnitten sie sich gegenseitig den Weg ab, weil sie so zahlreich waren. Die Männer erlegten sie, indem sie ihnen mit der Knute das Nasenbein abschlugen. Es war ein rascher Tod. Sie trieben die Robben auch in die kleinen Buchten hinunter. Dort, wo jetzt mein Kajak liegt, ließen sich Hunderte von Tieren zusammendrängen. Die Jäger standen auf Steinen im Wasser und versperrten ihnen den Ausweg. In dieser Bucht, weiß man aus Sven Barthels Bericht, wurden einmal 137 Robben erschlagen.
Nach einer solchen Nacht mieden die Tiere die Inseln für ein paar Tage, bis das Meer das Blut und den Robbenspeck von den Felsen gespült hatte. Dann krochen sie wieder hinauf. Der Dorfhäuptling sah sie von Strupskär aus und rief erneut die Jäger zusammen. Während der Jagdsaison kam die Dorfmannschaft etwa einmal pro Woche.
So brutal die Schilderung der Robbenjagd sich anhören mag – das Gleichgewicht der Natur wurde dadurch nicht gestört. Die Stammpopulation der Robben war durch die Jäger von Harstena nie bedroht. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren starben die Robben aus. Ursache waren die neuen Schädlingsbekämpfungsmittel in der Landwirtschaft, allen voran ddt.
STEINE ANSTATT ROBBEN
Es ist halb sechs Uhr morgens. Der Himmel ist klar, aber draußen über dem Meer liegt eine breite Wolkenbank, undurchdringlich wie eine Wand. Die aufgehende Sonne färbt ihren oberen Rand rosa und lila. Kein Fischerboot ist in der Nähe, rund um die Själbådar-Inseln ist es zu flach. Ich wandere über die Felsplatten, aber Robben sind nirgends zu sehen. Und doch gibt es eine kleine Kolonie, ein paar Seemeilen nordwärts, bei Sandsänkan. In den letzten zehn Jahren hat die Robbenpopulation in der Ostsee wieder zugenommen.
Der Gedanke an die Robbenjagd kommt einem jetzt seltsam vor. Hier, auf einer kleinen Felsplatte mitten im Meer, rannten Männer hinter schreienden, flüchtenden Robben her, hier fand im Dunkel der Nacht ein wüster Kampf statt, ein chaotisches Schauspiel, und nur die Wellen waren Zeugen. Diese Ereignisse haben auf den Själbådar-Inseln keine Spuren hinterlassen. Sie wurden von den Wogen der Zeit fortgespült, könnte man mit einer poetischen Formulierung sagen. Jetzt sieht man nur noch sechs flache Felsplatten, die überall sein könnten. Vermutlich würde niemand je erraten, was sich hier abgespielt hat. Es gibt keine Informationstafeln, kein Denkmal, keinen Fremdenführer. Und keine Robben. Nur Steine.
HARSTENAS NATURVÖLKER
Wenn man »Naturvölkern« die Rede ist, denkt man an die Amazonas-Indianer oder an die Massai in der Savanne, allenfalls an die Samen in Lappland. Aber bis vor knapp fünfzig Jahren gab es auch in Südschweden noch so etwas wie Naturvölker. Das waren Bevölkerungsgruppen, deren Familien schon seit Jahrhunderten in derselben abgelegenen Region gelebt und sich von Jagd und Fischfang ernährt hatten. Sie besaßen ein enormes Wissen über ihren natürlichen Lebensraum, das über Generationen gewachsen und weitergegeben worden war. Die Insel Harstena ist dafür eines der besten Beispiele. Im schwedischen Schärengebiet verläuft eine historische Grenzlinie zwischen den Inseln, auf denen Landwirtschaft sich lohnte, und denen, die dafür zu klein oder zu karg waren. Die letzteren waren für die Besiedlung naturgemäß weniger attraktiv, denn aus der Seevogeljagd und der Fischerei lässt sich nur selten ein Überschuss erwirtschaften. Dennoch ist Harstena seit dem 16. Jahrhundert bewohnt. Im 19. Jahrhundert, als die Zuwanderung am stärksten war, lebten auf der Insel zeitweise fast hundert Personen. Die Mehrheit verteilte sich auf zwei Familien, die Magnussons und die Ivarssons. Ihre Ahnenreihe auf der Insel reicht einige Jahrhunderte zurück. Sven Barthel berichtet in seinem Reportagebuch über Harstena, dass in den dreißiger Jahren das moderne Schweden dort noch längst nicht angekommen war. Er verbrachte damals ein Jahr auf der Insel, und sein Buch vermittelt Einblicke in ein Leben im Einklang mit der Natur, in dem das Wissen über Eis- und Eiderenten, Robben, Aale und Strömlinge vom Vater auf den Sohn vererbt wurde. Man benutzte nur Ruderboote und schnitt das Gras mit der Sichel. Die Frauen standen um drei Uhr in der Frühe auf, um Brot im Holzofen zu backen. Alle wichtigen Entscheidungen wurden gemeinsam getroffen. Das ganze Dorf musste sich einig sein. Am Mittsommerabend wurde für alle ein einziger großer Tisch gedeckt.
In mancher Hinsicht erinnert die Geschichte der Bewohner von Harstena an die der Samen. Auch die samische Geschichte ist fast unsichtbar. Ein paar Steine im Moos können eine alte Feuerstelle sein; ein paar Vertiefungen im Boden, nahe beim Gebirge, sind vielleicht alte Fanggruben. Es gibt dort keine großartigen historischen Monumente, nichts zum Vorzeigen. Die Bevölkerung von Harstena lebte vom Meer, wie die Samen vom Gebirge lebten, in einem natürlichen, wenn auch mühevollen Kreislauf. Der Unterschied zwischen den Samen und den Leuten von Harstena besteht darin, dass die Samen als eigenständige Kultur betrachtet werden und sich auch selbst so sehen. Die Insulaner von Harstena heißen mit Nachnamen entweder Magnusson oder Ivarsson, haben blaue Augen und sprechen Schwedisch. Die Bewahrung der samischen Kultur ist ein politisches Anliegen, über dessen Bedeutung weitgehende Einigkeit herrscht. Dass man die Traditionen der Bewohner von Harstena und anderer »Naturvölker« Schwedens bewahren sollte, ist dagegen noch kaum ins Bewusstsein gedrungen, weder bei den betroff enen Gruppen noch bei den Politikern. Es scheint, als seien die schwedischen Naturvölker einfach verschwunden. Sie sind vom modernen Schweden aufgesogen und glatt vergessen worden. Sie haben keine eigenen Flaggen, keine eigenen Kulturfestivals. In der alten Dorfschule von Harstena hat man ein kleines Museum eingerichtet, im Eigenbau sozusagen, mit Robbennetzen, Knuten und Harpunen. Auf einer Landzunge befindet sich noch heute die Siedeanlage, in der Robbenspeck zu Tran verarbeitet wurde, den man dann an die Gerbereien in Valdemarsvik verkaufte. Auch das alte Ruderboot der Jäger liegt noch dort. Doch die Bewohner von Harstena scheinen selbst nicht recht zu begreifen, wie einzigartig ihr Heimatort ist. Sie vergessen ihre eigene Geschichte.
GESCHICHTEN DER ALTEN FISCHER
Das meiste erfährt man immer noch, wenn man wer mit den älteren Inselbewohnern redet. Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, dem inzwischen verstorbenen Paul Bengtsson zu begegnen, einem
»Man durfte mit zur Robbenjagd, wenn man
vierzehn Jahre alt war. Danach galt man als
Mann. Die ersten Male fand ich es furchtbar. bedächtigen, freundlichen Mann, der in einem der roten Holzhäuser am Dorfplatz wohnte. Er erzählte mir: »Man durfte mit zur Robbenjagd, wenn man vierzehn Jahre alt war. Danach galt man als Mann. Die ersten Male fand ich es
furchtbar. Sobald die Robben die Menschen witterten, krochen sie von der Insel herunter, sie knurrten und rissen den Rachen auf wie Schäferhunde. Die Alten brauchten nicht lange auf mich einzureden, damit ich zuschlug.«
In Paul Bengtssons Jugendzeit war die Robbenjagd neben dem Fischfang die wichtigste Einkommensquelle der Insulaner. Deshalb achtete man streng darauf, dass die Stammpopulation verschont blieb. »Nicht die Jagd ist schuld am Verschwinden der Robben, sondern die Umweltverschmutzung«, versicherte Paul Bengtsson. Heute sind auf Harstena nur noch drei betagte Robbenjäger am Leben: die Brüder Elof und Kalle Magnusson und Rune Svensson. Sie sind die letzten, die auf den Själbådar-Felsen Robben erschlagen haben. Damals waren sie Jugendliche, inzwischen haben sie die Achtzig überschritten. Mit Elof und Kalle Magnusson und Rune Svensson geht eine jahrhundertealte Jagdtradition zu Ende. Der alte Fischer Elof Magnusson, runzlig und gebeugt, ist einer der etwa zehn Einwohner, die ganzjährig auf Harstena leben. Wir haben uns morgens um halb fünf an seinem Bootshaus verabredet. »Wenn man lange schläft, verfault das Blut!« behauptet Elof. Seiner Familie gehört der Kiosk am Seglerhafen. Er betreibt eine Fischräucherei, die sich großer Beliebtheit erfreut, und seine Enkel führen das Fischlokal im Dachgeschoss des Bootshauses. Was hier serviert wird, stammt überwiegend aus Elofs Netzen. Wir fahren mit seinem alten Holzkahn hinaus, um vor Nötholmen die Netze einzuholen. Das falurote Fischerdorf, dessen Häuser sich locker um den kleinen Platz gruppieren, wird von den ersten Sonnenstrahlen schön beleuchtet. Unten am Wasser stehen die Bootshäuser in Reih und Glied. An diesem Morgen sind es 56 Flundern, ein ordentlicher Fang. Aber Barsch und Maräne glänzen durch Abwesenheit, wie schon den ganzen Sommer. Vielleicht liegt es an der Überdüngung, vielleicht sind die Bestände abgefischt.
EINE INSEL IM UMSCHWUNG
Durch die Errungenschaften der Neuzeit, Elektrizität, fließendes Wasser, Telefon und so weiter, ist das Leben auf Harstena leichter geworden. Andererseits hat die damit verbundene Entwicklung das Überleben hier draußen schwieriger gemacht. Mit gewaltigen Herbststürmen kann ein Fischer noch fertig werden, aber gegen Umweltgifte, Politiker, Staatsbeamte und die Fisch industrie hat der kleine Mann einen schweren Stand. Seit Paul und Elof Kinder waren, ist die Inselbevölkerung erheblich geschrumpft. Aber nicht alle sind fortgezogen, weil sie es mussten. Viele sind auch freiwillig gegangen. Kalle Magnusson ist Elofs jüngerer Bruder. Er hat den gleichen dichten, graublonden Haarschopf, den gleichen sehnigen Körper. In seinem Bootshaus liegen ein paar altertümliche Kajaks. Der älteste wurde vor mehr als fünfzig Jahren gefertigt, aus einem imprägnierten Gewebe, das über die Holzlatten gezogen wurde.
Als um 1950 die Robbenpopulation zurückging, erzählt Kalle, begannen die jüngeren Männer von Harstena, die Tiere vom Kajak aus mit der Harpune zu jagen. »Wir hatten gehört, dass die Eskimos es so machten. Technisch war es enorm schwer. Die Wurfleinen mit den daran befestigten Schwimmern mussten auf dem Kajak liegen. Dann musste man sich so nahe wie möglich an eine schlafende Robbe heranpirschen und die Harpune schleudern.« Kalle berichtet, dass es in den letzten Jahrzehnten auf Harstena zahlreiche Zwistigkeiten gegeben habe. Man stritt unter anderem über Grundstücksgrößen, Straßenverläufe und ein Kanalsystem. »Nach dem Ende der Robbenjagd ist von der Dorfgemeinschaft nicht mehr viel übrig geblieben. Vorher haben alle Männer zusammengearbeitet und den Fang geteilt. Danach fingen viele an, nur noch für sich selbst zu sorgen«, sagt Kalle. Die Insulaner waren mit den Wertvorstellungen des Festlands in Berührung gekommen. Als junger Mann hatte Kalle sich eine ernsthafte Handverletzung zugezogen. Sein Onkel war der Ansicht, dass er es schwer haben würde, als Fischer seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und riet ihm zu einer Ausbildung. »Ich bin Lehrer geworden, und das habe ich nie bereut. Als ich meine erste Stelle antreten sollte, hatte ich nur einen Wunsch: Ich wollte unbedingt auf eine Insel. Man schickte mich nach Hälsö an der schwedischen Westküste, wo ich mit meiner Familie bis heute wohne. Der Lehrerberuf hat mir sehr viel Spaß gemacht«, erzählt Kalle.
GEMEINSCHAFT ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE
Man macht sich allzu leicht romantische Vorstellungen von einer Zeit, in der die Menschen nicht bloß an sich selbst dachten, sondern zusammenarbeiteten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Man vergisst dabei schnell, daß sie gar keine andere Wahl hatten. »Sonst hätten die Leute hier draußen nicht überleben können«, sagt Kalle. Die neue Zeit brachte mehr Entscheidungsfreiheit, nicht nur, was Beruf und Ausbildung betraf. Auch das, was wir heute »Lebensstil« nennen, konnte man sich nun aussuchen. Vor allem die jungen Frauen von Harstena zog es in die Städte, denn ihr Leben auf der Insel war weit weniger abwechslungsreich als das der Männer. »Klar, dass die Frauen ganz neue Gelüste kriegten, als sie all die hübsch gekleideten Mädchen sahen, die spazieren gingen und Limonade tranken, während sie selbst den ganzen Tag im Kuhstall oder auf dem Kartoffelacker schufteten.« Ein paar Häuser weiter wohnt Rune Svensson, der dritte sehnige Senior-Fischer und ehemalige Robbenjäger auf der Insel. Als ich ihn frage, was das Ende der Robbenjagd für ihn bedeutet habe, sagt er nur: »Es war schade um das Einkommen für die Insulaner.« Vermisst er die Traditionen, die Gemeinschaft? »Natürlich war es eine interessante und spannende Zeit. Aber das ist der Lauf der Welt. Es bleibt kaum etwas, wie es ist. Damit muss man sich wohl abfinden.« Nach einigen Tagen auf Harstena bin ich im Zweifel, ob es schade oder einfach nur natürlich ist, dass die alte Inselkultur sich auflöst. Ich neige, wie die meisten Städter, in solchen Fragen viel mehr zur Sentimentalität als die betroff enen Menschen. Wo wir aufregende Traditionen und ein kulturelles Erbe entdecken, sehen sie den Alltag. Wir verdrängen gern, was für ein mühseliges Leben das damals war – die langen Arbeitstage, die körperliche Erschöpfung.
»Als ich die Själbådar-Felsen verlasse und nordwärts
paddle, zu den hübschen Außenschären
von Sankt Anna, hinterlasse ich keine Spuren.Und doch glaube ich, dass im Eifer der Erneuerung oft auch wertvolle Dinge preisgegeben wurden. Sollte nicht jeder Mensch zumindest die Chance haben, einen
anderen Weg zu beschreiten als die breite, schnurgerade und sichere Autobahn der modernen Zivilisation? Heutzutage wird viel über Wahlfreiheit geredet. Aber dabei
geht es meist nur noch um das Recht des Konsumenten, sich für dieses oder jenes Produkt zu entscheiden. Und viele vergessen, dass ihre eigene Freiheit, sich einen benzinschluckenden Allrad-Jeep zu
kaufen, die Freiheit des Fischers einschränkt, der dann wegen der Umweltverschmutzung keine Barsche und keine Maränen mehr
fangen kann. Die Paddeltour zu den Själbådar-Inseln ist für mich eine Art Wallfahrt, bei der ich die Atmosphäre der Vergangenheit einatme, einer von Tieren und Jagdritualen bestimmten Welt, deren Wurzeln mehrere Jahrhunderte zurückreichten und die mit der Modernisierung Schwedens plötzlich verschwand. Deshalb wollte ich auch unbedingt mit dem Kajak hier herkommen. Wenn man so nahe an der Wasseroberfläche dahingleitet und sich fast lautlos bewegt, hat man das Gefühl, den Menschen Respekt zu erweisen, die hier draußen jahrhundertelang ohne Motor und Elektrizität überlebten. Als ich die Själbådar-Felsen verlasse und nordwärts paddle, zu den hübschen Außenschären von Sankt Anna, hinterlasse ich keine Spuren. Man könnte traurig werden bei dem Gedanken, dass dieses Kapitel der Geschichte spurlos untergegangen ist. Aber ich spüre eher so etwas wie Frieden, vielleicht deshalb, weil das Meer so heiter aussieht, wenn die unregelmäßigen Wellen in der Sonne glitzern. Ich glaube, der moderne Mensch sollte öfter Orte wie Harstena aufsuchen, um zu erkennen, was er besitzt und was ihm möglicherweise entgeht.