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Die Journalistin Anna Froster hat schon viel unternommen, um Schwedens scheueste Katze zu Gesicht zu bekommen. Doch bisher ist es ihr nicht gelungen, den Luchs in freier Wildbahn zu sichten. Für einen vielleicht letzten Versuch fährt sie ins verschneite Jämtland-Fjäll.
Wir rollen unsere Rentierfelle vor dem Zelt aus – und blicken über ein Moor und einen langen Fjällhang. Mit unseren Schlafsäcken sehen wir aus wie Michelin-Männchen. Eine kleine schiefe Tanne muss als Rückenlehne herhalten. Jetzt sind wir, ich und mein Kollege, der Fotograf Erik Abel, bereit für den sogenannten »Baumstumpftrick«, wie er in Schweden genannt wird. Man sitzt still und leise in der Natur und wartet ab – ob man nun tatsächlich auf einem Baumstumpf sitzt oder nicht, spielt keine Rolle.
Zuerst passiert gar nichts. Danach passiert – wieder nichts. Das Fjäll ist voller schwarzer blanker Steine und wir lernen jeden einzelnen von ihnen persönlich kennen, während wir warten. Zumindest fühlt es sich so an. Ab und zu scheint es, als ob sich ein schwarzer Fleck durch die Dunkelheit schleicht und wir halten den Atem an – doch nach einigen Minuten ist alles wieder genauso still wie vorher. Es war wahrscheinlich nur die eigene zitternde Hand, die das Nachtsichtgerät umklammert und dabei versehentlich einen Stein ins Rollen gebracht hat. Alles um uns herum ist totenstill – wie in der künstlich erbauten Landschaft, die man für eine Modelleisenbahn anlegt, durch die aber niemals ein Zug fahren wird.
Das Licht verdichtet sich und wird blauer, bis es irgendwann grau ist und die Tannen ihre Farbe verlieren. Sie wirken wie dunkle Gestalten, die aus dem Schnee emporsteigen. Ein Moorschneehuhn verbreitet sein froschgleiches knarrendes Gurren. Der Raufußkauz erwacht irgendwo weit von uns entfernt. Seine Laute bekommen plötzlich eine ganz andere Tiefe in der gewaltigen Stille, die das ganze Tal einnimmt. Dies ist nicht mein erster Versuch, einen Luchs zu Gesicht zu bekommen. Ich habe schon alles Mögliche unternommen, um das scheue Tier endlich in freier Wildbahn sehen zu können.
Einmal habe ich in einer kalten Januarnacht mit dem Nachtsichtgerät Rehkadaver beobachtet, in der Hoffnung, ein Luchs würde sich darüber hermachen. Auch habe ich in steinigen Schluchten von meinem Autoradio aus aufgenommene Luchslaute abgespielt und bin an frostigen Märzabenden mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, um Luchsschreien zu folgen. Ich habe sogar über den Luchs geschrieben – habe eine ganze Reihe Artikel und eine Studie veröffentlicht und wohne unterhalb eines Berges, der als Luchsrevier gilt! Schon oft habe ich Luchsspuren auf dem Weg vom Haus zum Briefkasten entdeckt. Doch all das fühlt sich an wie ein großer Trugschluss, solange ich nicht endlich einen Luchs mit meinen eigenen Augen zu sehen bekomme. Es erscheint mir oft fast surreal, dass es in unseren alten schwedischen Wäldern tatsächlich eine große Katze mit Pinselohren gibt.
Auf Hakenjagd
Zu Beginn waren wir zwei, die diese besondere Sehnsucht nach dem Luchs hatten. 2010 haben ich und mein Lebensgefährte versucht, alle Säugetiere, die in Schweden heimisch sind, in freier Wildbahn zu sichten. Wir wanderten dorthin, wo der Polarfuchs heult, paddelten Tümmlern hinterher und versuchten auf Skiern, dem Vielfraß näherzukommen. Wir saßen stundenlang in feuchten Wäldern in Norrland, um auf die Lapplandspitzmaus zu warten. Auf schonischen Friedhöfen gingen wir nachts mit einem Fledermausdetektor spazieren. Die sechzehn Fledermausarten sind deutlich wichtiger als die vier großen Raubtiere, wenn man Tierarten zählen will – und genau das macht man als Tierbeo-bachter. Man macht einen Haken auf einer Liste, wenn man eine bestimmte Art gesehen oder gehört hat.
Diese Art des Wettbewerbs haben die Vogelbeobachter übrigens besonders perfektioniert. Die haben sogar spezielle Alarmsysteme, die einen Vogelbeobachter dazu bringen, sofort alles stehen und liegen zu lassen, wenn sie die Chance haben, einen weiteren Haken auf ihrer Liste zu machen. Eine solche Liste kann sogar in einer heruntergekommenen Stockholmer Straße für ein wenig Glanz sorgen – dort waren vor einiger Zeit in einer Frühlingsnacht Wanderratten unterwegs, die als Nummer 27 auf der Liste der Arten plötzlich zu einigem Ruhm kamen, anstatt wie sonst als vorbeiflitzender Müllkonsument ein trostloses Dasein am unteren Ende der Statusskala zu führen.
An Silvester 2010 hatten wir es tatsächlich auf 55 von 69 Säugetierarten gebracht und waren recht zufrieden mit unserer Leistung. Doch das Tier, für das wir uns am meisten angestrengt hatten, fehlte – der Luchs. »Dann haben wir wenigstens nächstes Jahr auch noch was zu tun«, versicherten wir uns. Doch die Zeit verging, ohne dass wir einen Luchs zu sehen bekamen. Wir sahen unzählige Spuren, doch hatten wir langsam unsere Zweifel und fragten uns, ob nicht ein unsichtbarer Waldgeist sein fieses Spielchen mit uns trieb. Bis zu dem Tag, als der Luchs plötzlich direkt vor meinem Lebensgefährten stand – in einem Kiefernwald in Småland. Seitdem bin ich mit meinem Luchsfanatismus allein. Die Fotos aus dem småländischen Wald hängen mittlerweile gerahmt an unserer Wand und erinnern mich regelmäßig daran, dass es dieses scheue Tier wirklich gibt.
Besuch vorm Küchenfenster
Es ist nur dieses »Fabelwesen«, das mir fehlt, damit ich mich endlich zu denen zählen kann, die die »großen Vier« gesehen haben: Bär, Wolf, Vielfraß und Luchs. Ich bilde mir ein, dass ich mich erst dann wie ein vollständiger Mensch fühlen werde, wenn ich einen Luchs gesehen habe. Jedes Jahr im März erwacht die Sehnsucht in mir von Neuem. Dann ertönen die Brunftlaute der Tiere und die Chance, sie zu Gesicht zu bekommen, ist am größten. Dieses Jahr durfte ich diese Chance auf keinen Fall verpassen. Die meisten Luchse sind eigentlich in der schwedischen Region Uppland zu Hause, doch das bedeutet nicht, dass es dort am leichtesten ist, sie zu sichten.
Im Wald ist das ein nahezu glückloses Unterfangen. In den Bergen ist es leichter, da man dort über größere Flächen blicken kann. Ich rief Bo Kristiansson an, um seinen Rat einzuholen. Er gehört zu den erfahrensten Naturfilmern des Landes und lebt mittlerweile zumindest teilweise davon, dass er anderen seine Verstecke verrät. Doch, was den Luchs betrifft, kann er mir leider keine besonderen Stellen verraten. »Der Luchs ist eine Herausforderung. Die besten Chancen hast du, wenn du dich mit einem Fernglas auf einen Fjällhang setzt. Besonders an der Grenze zwischen Wald und Moor oder nahe der Baumgrenze bewegen sie sich gerne«, sagt er. »Dort gibt es genug Zweige und Knospen, auf die der Luchs es abgesehen hat«, fügt Bo hinzu und beschreibt mir den Weg zu dem Platz, wo Erik und ich uns jetzt befinden. Dort, wo mittlerweile die Sterne leuchten und die Hoffnung uns für diesen Abend verlassen hat.
»Ich bin mit dem Luchs vor dem Küchenfenster aufgewachsen«, berichtet Erik – ganz so, als ob es das erste Mal ist, dass er mir das erzählt. Das ist außerhalb von Härnösand, wo er herkommt, nicht ungewöhnlich. Vielfraß und Wolf hat er bis jetzt noch nicht gesehen, aber er ist sicher, dass der Luchs das faszinierendste Tier von allen ist. Bevor wir einschlafen, läuft er noch einmal zu Höchstleistungen auf, was seine Begeisterung für den Luchs betrifft, dieses geheimnisvolle Naturwesen, das sich zeigt, wann es will oder eben auch nicht. Es scheint niemanden zu geben, der meine Luchsbesessenheit mildern könnte. Erik nicht und auch mein Lebensgefährte mit seinen gerahmten Bildern nicht. In der Nacht hören wir einen Fuchs. Was würde ich dafür geben, mir einbilden zu können, es wäre etwas anderes. Doch das Fuchsgebell ist viel zu schrill, um auch nur ansatzweise einem Luchs zu ähneln.
Expedition Unterholz
Im Morgengrauen klopfen die Spechte und auch die Schneehühner gurren wieder. Durch die Zeltöffnung haben wir den gesamten Fjällhang im Blick, ohne dass wir den Schlafsack verlassen müssen. Die stählerne Kälte des Fernglases geht direkt durch meine Handschuhe hindurch und lässt meine Augenbrauen gefrieren, sodass ich es schließlich in lange Wollunterhosen einwickle. Sich aus dem Schlafsack zu schälen, ist, wie in einen kalten See zu springen – man wartet auf den richtigen Augenblick, doch letztendlich muss man einfach nur den Atem anhalten und reinspringen. Ich stopfe meine kalten Füße in meine noch kälteren Langlaufstiefel.
Es geht leichter, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wie schnell einem beim Skilaufen wieder warm wird. Ungefähr zweihundert Meter nördlich von unserem Zelt ist der Übergang zum Moor mit weißgrauen Haaren bedeckt. Wir stolpern fast über ein totes Rentier, das uns aus seinen leeren Augenhöhlen anstarrt. Der Kadaver ist bereits einige Tage alt, aber nicht älter als eine Woche. Kolkraben, Steinadler und Füchse haben sich schon bedient und eine Vielzahl von Spuren hinterlassen. Es dauert einige Zeit, bis wir die Spuren des eigentlichen Bösewichts finden – große, runde Tatzen, die zielstrebig den Berg hinaufführen und zu einem satten Luchs gehören. Wir folgen den Spuren über Stock und Stein und umgestürzte Bäume.
Statt einen Bogen um die stechenden Tannenzweige zu machen, führen die Spuren direkt ins Unterholz – unter Bäumen und pieksenden Büschen hindurch. Eigentlich ist es unethisch, Spuren zu folgen, die eine Richtung vorgeben, weil man dann riskiert, das Tier zu stören. Doch diese hier sind mindestens drei Tage alt und der Luchs ist mit Sicherheit schon über alle Berge. Ein Teil des Problems ist, dass sein Revier gut und gerne fünfzig Quadratkilometer groß sein kann. Luchse sind ein mächtiger Gegner, können bis zu sechsmal besser in der Dunkelheit sehen als wir und Geräusche auf fünf Kilometer Entfernung wahrnehmen. Unser einziger Vorteil ist das Fernglas. Damit haben wir zumindest eine kleine Chance, einen Luchs zu entdecken, bevor er uns entdeckt.
Weit oben in der Luft sehen wir einen Steinadler. Den Blick über die weiten Fjällhän-ge und Gipfel schweifen zu lassen, ist wie eine Stretchübung für computermüde Augen – das genaue Gegenteil zu einem interaktiven Dasein im permanenten Klickmodus. Hier oben gibt es nur einen Kanal, der ein unendlich langsames Naturprogramm sendet. Wir sitzen in der ersten Reihe, im Hier und Jetzt und es ist ein echtes Privileg, aus nächster Nähe beobachten zu können, wie das glitzernde, vom Schnee reflektierte Sonnenlicht langsam wieder blau wird.
Wunder des Lichts
Irgendwo im Grenzland zwischen Tag und Nacht erwacht die Natur. Die Schneehühner gurren, der Raufußkauz ruft und eine Sperbereule offenbart sich plötzlich einem Gespenst gleich in der Tanne vor uns. Sie mustert uns mit strengem Blick. Jetzt ist die Chance, einen Luchs zu entdecken, theoretisch am größten. Tagsüber liegen Luchse meist an einem Ort, wo sie ihre Umgebung im Blick haben, und beobachten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Erst bei Einbruch der Dämmerung werden sie aktiv.
Säugetierbeobachtung ist im Gegensatz zur Vogelbeobachtung immer noch ein eher seltenes Hobby. Wir sind die Einzigen, die hier oben im Fjäll sehen, wie es anfängt zu dämmern. Am dritten Abend ist der Raufußkauz für uns bereits wie ein alter Freund, er fängt immer dann an zu rufen, wenn das Licht komplett grau wird. Heute Abend sind es zwei Käuze, die sich ausgiebig zu unterhalten scheinen. Mit Einbruch der Dunkelheit an diesem letzten Abend senkt sich eine Art innerer Frieden über uns. Ein Luchs ist vielleicht trotz allem ein Lebewesen, über das man nicht einfach verfügen kann. Man kann sich genauso wenig dafür entscheiden, einen Luchs in freier Wildbahn sehen zu wollen, wie man sich dafür entscheiden kann, sich zu verlieben. Der einzige Weg, es zu ermöglichen, ist, die richtigen Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Als die Dunkelheit schließlich unsere Hoffnung vollends verschluckt hat, kommt das Nordlicht zum Vorschein. Dünne weiße Flächen über dem Himmel wachsen zu einem wilden Geist heran und tanzen um die Sterne herum. Grün-weiß pulsieren die Lichter in immer neuen Formen, die so intensiv sind, dass man am liebsten ins Zelt kriechen möchte, um nicht von der Kraft der Lichter in den Weltraum gesogen zu werden. Ein Wunder, das auch dann passiert, wenn man keinen Luchs zu Gesicht bekommt. Der Luchs wartet irgendwo da draußen auf denjenigen, der warten kann.