Während einer viertägigen Paddeltour auf Spitzbergen begegnet NORR-Leser Rhaban Straumnann nicht nur einer bunt zusammen gewürfelten Reisegruppe, sondern auch dem unbestrittenen König des norwegischen Inselreichs – dem Eisbären.
»Knock, knock«. Sanft weckt uns Bens Stimme. Mitten in der Nacht, mitten im Nichts. Es ist taghell, aber wir sind alles andere als wach. Das ändert sich schnell, denn für die nächsten anderthalb Stunden liegt das Schicksal eines bunten Dutzends Menschen in unseren Händen. Die internationale Schicksalsgemeinschaft setzt sich zusammen aus Oonagh und Paul aus England, Ben und Jessica aus Australien, dem Norweger Terje, Jennifer aus Singapur, Andrea und Branislav mit ihren Jungs aus der Slowakei und uns, dem Schweizer Paar. Uns eint die Tatsache, dass wir alle für Mitte August 2016 eine viertägige Kajaktour auf Spitzbergen gebucht haben. Eisbären-Wache schieben gehört dabei nachts zum Programm. Tagsüber paddeln wir unter höchst entspannter und kompetenter, deutsch-russischer Leitung in den Fjorden nördlich von Longyearbyen umher. Hohe Berge, Siedlungsreste und faszinierende Lichtspiele, Ruhe und Weite sind uns tägliche Begleiter. Es sind die letzten Tage mit Mitternachtssonne und die erste Nacht eines wunderbaren Abenteuers.
Eisbär oder Rentier?
Wir schälen uns aus Schlafsäcken und Zelt. Draussen erhalten wir von Ben und Jessica Feldstecher, Uhr sowie die Einsatzliste für die Nachtwache. Nun heisst es Ausschau halten nach dem König von Spitzbergen, dem Eisbären. Wir wandern umher, auch um Zeit und Kälte zu überwinden. Unser Blick durchstreift die Landschaft. Wir suchen am Horizont nach einem sich bewegenden weissen Punkt. Sollten wir was sehen, sind die Guides, Katja und Vladimir sofort aufzuwecken. Keine falsche Rücksicht, auch wenn sich der weisse Punkt schliesslich als Rentier entpuppen sollte. Respekt ist die Mutter in der Porzellankiste von zerbrechlicher Wildnis und Natur. Unsere Guides haben beide ein Gewehr und Schreckschusspistolen mit. Ohne bewegt man sich nicht ausserhalb des Hauptortes Longyearbyen. Ein Ort übrigens, wo Sein mehr zählt denn Schein. Ein sympathischer Flecken Erde.
Ehrfurcht vor dem Moment
Szenerie und Situation wirken surreal – die rauhe, wilde Landschaft und die helle Nacht, der Spaziergang um die Zelte herum, mal in weiterem Bogen, mal nah. Gleichzeitig ist der Moment der Nachtwache auch der einzige, wo man wirklich alleine ist. Auch das lässt sich geniessen. Natur und Reduktion pur. Nach uns halten Oonagh und Paul die Augen offen. Niemand will im Schlaf von einem Eisbären überrascht werden. Tags darauf zweifelt kein Gruppenmitglied mehr am Sinn der Nachtwache. Denn da ist er, der Eisbär. Unverhofft entdecken wir ihn am Fusse einer Gletschermoräne, einen Vogel verspeisend. Unglaubliches Glück. Unglaublich nah. Der ganze Kajaktrupp verstummt, gross ist die Ehrfurcht vor diesem prächtigen Tier, vor diesem Moment. Beinahe vergesse ich den Fotoapparat zu zücken. Glücklicherweise sitzen wir im Kajak. Klar, kann der Bär auch schwimmen; sehr gut sogar, wie wir es später bei einem weiteren Eisbären am Fusse des Gletschers beobachten dürfen. Wir aber, wir paddeln plötzlich alle ein bisschen schneller. Hoffen wir zumindest insgeheim.