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Nach Feierabend zieht Anna Wiik mit ihrem Feldstecher los, um Vögel zu erspähen und erfolgreich gesichtetes Federvieh zu notieren. Ein Hobby, das gerade bei schwedischen Frauen immer populärer wird.
»Der Alarm war rausgegangen. Vor Ort herrschte eine unglaublich gespannte Stimmung. Bestimmt 150 Personen standen da und schauten durch ihre Ferngläser, ohne etwas zu sagen. Plötzlich drehten sich alle in dieselbe Richtung. Dann war es eine Frage von Sekunden. Zuerst entdeckte ich ihn nicht und dachte, nun bin ich die Einzige, die ihn nicht zu sehen kriegt. Aber auf einmal hatte ich ihn im Fokus«, berichtet Anna Wiik und lächelt bei der Erinnerung an den Taigablauschwanz, einen Zugvogel, der in den nordasiatischen Nadelwäldern brütet und sich in Schweden nur sehr selten zeigt. Anna erspähte ihn im Oktober 2016 im Süden Ölands. Bei dem Alarm handelt es sich um ein Signal der unter Ornithologen beliebten App Bird Alarm, der ausgelöst wird, sobald einem ein seltener Vogel ins Blickfeld flattert. Genau dieser Ton kann eingefleischte Vogelbeobachter dazu bringen, sofort alles stehen und liegen zu lassen und mit dem Fernglas loszuziehen. »Der Taigablauschwanz übt eine enorme Anziehungskraft auf mich aus, ich hatte schon unterwegs im Auto das Adrenalin gespürt«, erinnert sich Anna.
Heute ist ihr Puls normal. Wir stehen in einem Vogelturm mit Aussicht über das Feuchtgebiet von Herrebro südlich von Norrköping. An diesem ruhigen Frühlingsabend wandert die Sonne über die flachen Felder langsam Richtung Horizont. Anna, die von Beruf Arbeitstherapeutin ist, hat soeben ihren Dienst beendet. Jetzt schaut sie durch das Fernrohr über die Landschaft und berichtet gleichzeitig, was sie sieht: »Graugans, Löffelente, Knäkente, Schnatterente, Krickente, Rotschenkel, Kiebitz, Feldlerche, Goldammer, Rohrammer, Pfeifente, Flussregenpfeifer. Als ich das letzte Mal hier war, habe ich innerhalb von zwei Stunden 35 Arten gesichtet.«
Versteck am Wasser
Das Feuchtgebiet von Herrebro ist ein bei Vögeln beliebter Ort. Hinter dem Schilf im seichten Wasser fühlen sich Löffelente und Schnatterente wohl, während die Watvögel auf den Schlammbänken nach Futter suchen. Am Abend kann man hier die Wiesenralle, den Sumpfrohrsänger, den Schlagschwirl und andere seltene Arten im Gesträuch hören. Auf dem Weg zum nächsten Beobachtungsplatz, einem Versteck am Wasser, hören wir im Gebüsch den unverwechselbaren Gesang der Nachtigall. »Die habe ich vorher schon gehört und das reicht offiziell, um sie ankreuzen zu dürfen. Aber ich finde, das wäre ein bisschen gemogelt. Ich möchte sie gern sehen, deshalb habe ich erst mal nur einen Schrägstrich gemacht«, sagt Anna und zeigt auf die Liste, die viele Vogelfans benutzen, um die erspähten Arten zu notieren. Während unser Fotograf Fredrik zufrieden berichtet, dass er bei seinem letzten Besuch drei Nachtigallen gesehen hat, späht er gemeinsam mit Anna in die Büsche, um die Sängerin ausfindig zu machen. Sie ist gut zu hören, versteckt sich aber noch besser.
»Die Nachtigall ist eigentlich kein besonders interessanter Vogel, sie ist graubraun und unscheinbar. Aber es wäre trotzdem toll, sie zu sehen«, sagt Anna, nachdem sie eine ganze Weile angestrengt Ausschau gehalten hat.
Frauen und Fotografen
Anna ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, wo sie lernte, die wichtigsten Vogelarten zu bestimmen. Als sie und ihr Mann vor sechs Jahren ein Haus am Stadtrand von Norrköping kauften, entdeckte sie auf dem Grundstück Vögel, die sie noch nicht kannte. Allmählich wuchs ihr Interesse und vor vier Jahren ging sie zum ersten Mal auf eine Vogelbeobachtungsreise. »Damals brütete der Bienenfresser auf Öland, was er seit 1975 nicht mehr getan hatte. Ich selbst war mir nicht sicher, ob ich hinfahren sollte, aber mein Mann hat mir zugeredet und gesagt, dass ich es bereuen würde, wenn ich es nicht täte.« Seitdem unternimmt Anna in jedem Herbst eine Vogeltour nach Öland. Am vorigen Wochenende war sie mit ihrem Mann und ihrem viereinhalbjährigen Sohn wieder auf der Insel, die als Schwedens Vogel-Mekka gilt, und hat die Gelegenheit genutzt, zwei neue Vögel anzukreuzen. Im Frühling und Herbst, der Hochsaison für Vogelbeobachter, versucht sie, mindestens einmal pro Woche abends eine kürzere Tour zu unternehmen, so wie jetzt.
»Das ist so entspannend. Ich kann nach der Arbeit noch so müde sein, aber wenn ich für ein paar Stunden rausfahre, fühle ich mich danach supergut, auch wenn ich keinen neuen Vogel entdeckt habe. Es ist eine Art mentale Erholung. Mit einem Viereinhalbjährigen zu Hause kann man diese Momente gut gebrauchen«, sagt sie, während sie aufs Wasser hinausschaut. Anna ist nicht die Einzige, die die Vogelbeobachtung für sich entdeckt hat. Es ist in Schweden regelrecht zum Trend geworden, sich mit dem Fernglas in die Natur zu begeben. »Das Interesse ist in den letzten fünf Jahren stark angestiegen. Und dann hat die Reality-Serie Das große Vogelabenteuer vielen, die zwar neugierig waren, aber nicht in die Gänge kamen, zu einem unglaublichen Kick verholfen«, sagt Gigi Sahlstrand, Schwedens einziger professioneller Vogelbeobachtungs-Guide, bekannt aus eben jener Serie, die im vorigen Jahr im Fernsehen lief.
Für Gigi sind es vor allem zwei Gruppen, denen dieser Boom zu verdanken ist: Fotografen und Frauen. »Früher wurde das Beobachten von Vögeln meist mit etwas verschrobenen Männern in Verbindung gebracht. Als ich anfing, waren nur sehr wenige weibliche Teilnehmer dabei. Deshalb haben wir im Jahr 2010 das nationale Netzwerk Rapphönan (dt. das Rebhuhn) gegründet, das als Einführung in die Vogelbeobachtung gedacht war. Ich leite auch Frauenexkursionen, die enorm beliebt sind. Dabei treffen Frauen auf Gleichgesinnte, mit denen sie sich identifizieren können.«
Ein Herz für Tiere
Gigi meint, dass viele Frauen sich mehr für das Verhalten der Vögel interessieren und insgesamt eine stärkere Beziehung zu Tieren haben als Männer. »Frauen zeigen zum Beispiel viel mehr Mitleid, wenn ein Raubvogel sich ein Vogeljunges schnappt. Ich glaube, dass Frauen schon immer ein engeres Verhältnis zu Tieren hatten.« Frauen stellen inzwischen fast die Hälfte der Mitglieder in vielen ornithologischen Vereinen Schwedens – eine enorme Steigerung im Vergleich zum Jahr 1971, als der SOF, Schwedens zentraler ornithologischer Verein, gerade mal ein Prozent weibliche Mitglieder hatte. »Die Vogelbeobachtung hat sich im letzten Jahrzehnt wirklich verändert«, stellt Gigi fest. »Sie ist jetzt viel kommunikativer und nicht mehr so sehr das Hobby kauziger Einzelgänger und verbissener Fachidioten.«
Manche sind vor allem auf das Sammeln fokussiert, sie wollen eine möglichst große Zahl von Vogelarten abhaken. Aber den meisten Menschen geht es eher darum, sich ein paar dringend notwendige Pausen im Alltag zu verschaffen. »Viele haben heutzutage ein stressiges Leben und suchen einen Anreiz, um sich in die Natur hinauslocken zu lassen«, sagt Gigi. »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es einem besser geht, wenn man sich in der Natur aufhält: Man erlebt dieses Hier-und-jetzt-Gefühl, kann Jobprobleme und Alltagssorgen loslassen. Außerdem ist es ungeheuer spannend. Es ist wie die Weihnachtsbescherung: Man hat keine Ahnung, was einen erwartet.«
Beginn mit Blaumeise
Zurück im Feuchtgebiet von Herrebro. Eine Rohrweihe auf der Jagd nach Futter, das heißt nach Jungvögeln, ist gerade von einer Gruppe aufgeregter Kiebitze verschreckt worden. Vor dem Versteck, einem kleinen Schuppen mit Fensterläden direkt am Wasser, gleiten zwei Ohrentaucher vorbei. Anna überlegt inzwischen, welcher Vogel ihr Lieblingsvogel ist. »Vom Aussehen her der Königsfischer. Er hat so kräftige Farben, dass er gar nicht wie ein schwedischer Vogel aussieht. Vom Gesang her die Amsel. Wenn sie im März anfängt zu singen, hat man wirklich das Gefühl, dass der Frühling da ist«, sagt Anna. »Möchte man mit der Vogelbeobachtung anfangen, kommt es nur darauf an, rauszugehen, auch wenn man bloß Opas alten Feldstecher dabeihat und erst einmal nur die Blaumeise wiedererkennt, das genügt völlig. Man braucht kein Superfernrohr für fünftausend Euro, um zu starten. Auch vor den Veteranen, die sämtliche Vogelstimmen kennen, braucht man keine Angst zu haben. Sie sind oft sehr hilfsbereit und geben ihr Wissen gern an uns weniger Erfahrene weiter.« Anna überlegt, was sie ausgerechnet an Vögeln derartig in den Bann zieht. »Dass man nie weiß, was passiert und jederzeit etwas zu sehen bekommen kann, das man bis dahin noch nicht kannte. Dann erlebt man dieses Wow-Gefühl.«
Hören statt Sehen
Die Sonne geht unter, der Kuckuck ruft und wir gehen zum Parkplatz zurück, auf einem Steg durch einen überschwemmten Wald, der gleichzeitig an das amerikanische Sumpfgebiet der Everglades und an asiatische Mangrovensümpfe denken lässt. Kurze Zeit später hören wir wieder die Nachtigall, diesmal in einer Birke. Anna geht so geräuschlos wie möglich durch das hohe, wild wuchernde Gras und richtet ihr Fernglas auf den Baum. Da verstummt der Gesang. Nach ein paar Sekunden hören wir ihn aus einem Busch auf der anderen Seite des Stegs. Wir drehen uns um und starren dorthin. Sie singt wundervoll.
Die Nachtigall kommt am häufigsten in schattigen Laubwäldern und Wäldchen in der Nähe von Gewässern vor, aber auch in Parks und Gärten. Die männlichen Vögel fangen an zu singen, wenn sie in ihrem Brutgebiet eintreffen. Sie singen überwiegend nachts, sind aber streckenweise auch am Morgen und am Abend zu hören. In der Zeit um Mittsommer, wenn die Eier ausgebrütet sind, hört der Gesang des Männchens auf. Genau wie jetzt. Wir hören nichts, obwohl wir uns ganz still verhalten. Da fängt es wieder an. Ein paar leise Pfeiftöne, einige rhythmische Gluckser und dann weiter mit Kastagnetten und Flöte. Fredrik fühlt sich an den neckischen Vogel erinnert, der Donald Duck am Weihnachtsabend zum Narren hält – er ist überall und nirgends. Nachdem wir nochmals eine ganze Weile in die Büsche gespäht haben, geben wir auf. »Das ist frustrierend, dass man dem Vogel so nahekommen und ihn hören kann, ohne ihn zu sehen. Aber oft sieht man gerade dann etwas, wenn man es am wenigsten ahnt.«
Ein paar Wochen später meldet sich Anna und berichtet, dass es ihr immer noch nicht gelungen ist, eine Nachtigall zu sehen, dass sie aber einige andere Vögel ankreuzen konnte. Darunter auch einen Rallenreiher, eine Art, die sich niemals zuvor in Östergötland gezeigt hatte. Dieses Exemplar war die zwanzigste Sichtung in Schweden. »Jetzt habe ich insgesamt 193 Kreuze«, sagt Anna. Mein Ziel ist es, auf zu 200 kommen, bevor das Jahr zu Ende ist.«