Alles begann mit einer verrückten Idee. Die norwegischen Surfer Inge Wegge und Jørn Ranun zogen zum Wellenreiten an einen Lofoten-Strand nördlich des Polarkreises – und sammelten drei Tonnen Müll. Ihr Dokumentarfilm Nordfor sola wird nun auf internationalen Festivals gefeiert. Im NORR-Interview erzählen sie ihre Geschichte.
NORR : Wie seid ihr auf die Idee gekommen, an genau diesen Strand zu ziehen?
Inge: Vor ein paar Jahren entdeckte ich auf der Suche nach guten Wellen gemeinsam mit einem Freund die Bucht. Die Schönheit und Einsamkeit des Ortes hat uns komplett umgehauen. Aber uns fiel auch auf, dass dort extrem viel Müll herumlag. Damals malten wir uns aus, wie es wäre, hier einige Zeit zu verbringen, jeden Tag surfen zu gehen und den Strand von all dem Abfall zu befreien, den das Meer an Land gespült hatte. Mein Kumpel starb ein Jahr später tragischerweise bei einem Kletterunfall. Der Strand ging mir seither nie mehr aus dem Kopf. Ich kehrte mit Jørn zurück und wir fassten den Entschluss, neun Monate dort zu leben, eine Hütte zu bauen, aufzuräumen und den ganzen Winter über surfen zu gehen.
Wie fühlte es sich an, bei drei Grad Wassertemperatur surfen zu gehen?
In Norwegen sind wir es zwar gewohnt, nicht gerade in badewannenwarmem Wasser zu surfen, aber als die ersten eisigen Wellen über uns brachen, hatten wir das Gefühl, dass das Blut in unseren Köpfen gefriert. Wir trugen zwar dicke Neoprenanzüge, aber nach ein paar Stunden im Wasser haben wir oft unsere Hände und Füße vor Kälte nicht mehr gespürt. Unsere Surfsessions wurden mit abnehmendem Tageslicht und immer kälterer Luft stetig kürzer. Trotzdem haben wir versucht, wann immer es ging, rauszupaddeln und ein paar Wellen zu reiten.
Eure Nahrung habt ihr aus einem lokalen Laden bezogen, der euch abgelaufene Lebensmittel überlassen hat. Ernährst du dich schon länger auf diese Art?
Tatsächlich kaufe ich seit zehn Jahren so gut wie keine Lebensmittel mehr im Supermarkt. Es fing damit an, dass ich als Teenager nach abgelaufenen Süßigkeiten stöberte und mich tierisch darüber freute, wenn ich was umsonst bekam. Im Laufe der Zeit wurde das Verwerten von Lebensmitteln, die sonst im Müll gelandet wären, zu meiner Grundeinstellung. In anderen Teilen der Erde hungern Menschen und in unseren Supermärkten wird Nahrung einfach weggeworfen, nur weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist oder sie nicht mehr hundertprozentig toll aussieht. Dabei ist sie noch komplett in Ordnung. Ich fühle mich einfach schlecht, wenn ich Lebensmittel kaufe.
Gab es etwas, das ihr vermisst habt?
Auch wenn sich das komisch anhören mag, aber mir hat eigentlich nichts gefehlt. Außer Gemüse vielleicht. Für Jørn war es etwas schwieriger. Er hat seine Freundin vermisst. Klar wäre es schön gewesen, ab und zu ein paar mehr Leute um sich zu haben, aber ich hatte ansonsten alles, was ich zum Leben brauchte: Ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und einen perfekten Surfspot direkt vor der Nase.
Woran erinnerst du dich am liebsten?
Die Nordlichter am Strand zu beobachten, war unbeschreiblich schön. Und ich erinnere mich auch immer wieder an einen regnerischen Tag, an dem die Wellen extrem hoch waren. Wir waren erst ein paar Tage an unserem Strand und hatten gerade angefangen, unsere Hütte zu bauen. Ich kämpfte mich mit meinem Surfbrett durch die meterhohen Wellen, wurde immer wieder zurückgetrieben, schluckte viel Wasser und war fast am Ende meiner Kräfte. Als ich es endlich auf die »Outside« geschafft hatte, dort, wo die Wellen nicht mehr brechen, wurde es wahnsinnig ruhig um mich herum und ich sah über unserem Strand einen doppelten Regenbogen. In der Mitte, zwischen den beiden Bögen, flog ein Adler. Da wurde mir das Glück bewusst, das Jørn und ich hatten, an einem so wilden und magischen Ort leben zu dürfen.
Welche Botschaft wollt ihr mit eurem Film vermitteln?
Vor allem geht es uns darum, Menschen zu inspirieren, ihren Herzen zu folgen und ihre Träume zu leben, egal wie verrückt diese sind. Und ohne hier mit dem erhobenen Zeigefinger stehen zu wollen, ist es uns wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass in unserer Gesellschaft ein Müllproblem herrscht. Dinge, die noch tauglich sind, egal ob Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände, werden viel zu schnell einfach weggeworfen. Wir haben uns von genau diesen Dingen neun Monate lang ernährt und eine winterfeste Hütte gebaut. Das Meer ist voll von Müll. Es ist erschreckend zu sehen, was im Laufe der Monate alles angespült wurde.
Hat die Zeit am Strand dich auch persönlich verändert?
Auf jeden Fall. Dass man, wenn man in der Stadt lebt, zu jeder Zeit Dinge in einem Laden kaufen kann und immer erreichbar ist, wird einem erst bewusst, wenn man diese Möglichkeiten verliert. Ich habe erfahren, wie frei man sich fühlen kann – ohne Handy und E-Mails. Und dass absolut nichts passiert, wenn man seinen Facebook-Status nicht stündlich aktualisiert. Seitdem versuche ich so oft wie möglich an Orte zu kommen, an denen ich diese Art von Freiheit und Zeitlosigkeit wieder spüren kann.
Den Artikel zu Nordfor-Sola-Interview findest du in der aktuellen NORR Winternummer. Hier bestellen oder NORR abonnieren.