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Schlittschuh-Tour im Schärengarten: Am Fähranleger von Stavsnäs trifft unser Autor Gabriel Arthur auf Mårten Ajne, den vermutlich besten Aktiven in der Disziplin Nordic Iceskating.
Im Bus Richtung Stavsnäs bekomme ich eine SMS von einem Freund, der weiß, was ich heute machen will. »Kann ich deine Plattensammlung erben?« Die Frage ist natürlich ein Witz. Aber dennoch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Am Fähranleger von Stavsnäs werde ich Mårten Ajne treffen, den vermutlich besten Aktiven in der Disziplin Nordic Iceskating. Auch der Fotograf Henrik Trygg wird dort zu uns stoßen.
Von Stavsnäs aus werden wir die Fähre nach Runmarö nehmen, uns aufs Eis begeben und so lange laufen, bis wir das offene Meer erreichen. »Da ist dieses Jahr noch keiner gefahren, weil die Eisdecke erst seit ein paar Tagen ausreichend dick ist. Die Satellitenbilder sehen gut aus«, berichtete Henrik gestern – und wies mich auch gleich auf mögliche Gefahren hin: »Es soll minus 15 Grad werden. Nimm warme Wechselklamotten mit, falls du baden gehst.« Nordic Iceskating, auf Schwedisch Långfärdsskridskoåkning, was soviel wie Langlaufschlittschuhfahren bedeutet, ist eine der beliebtesten Wintersportarten in Süd- und Mittelschweden – und außerhalb Schwedens und Finnlands so gut wie unbekannt.
In Mitteleuropa ist diese Sportart vor allem in den Niederlanden populär. Dort fährt man schon seit Hunderten von Jahren auf den zugefrorenen Kanälen Schlittschuh. Nicht Wettkampfszene dieser Sportart dominieren. Das 200 Kilometer lange Rennen »Elfstedentocht« in der Provinz Fryslân ist das weltgrößte Langstreckenrennen auf. Etwa 16 000 Teilnehmer waren beim letzten Mal dabei. Es gibt jedoch ein kleines Problem, was die Vormachtstellung der Niederlande betrifft: das Klima. Die meisten Wettkämpfe werden nämlich in der Halle durchgeführt. Das letzte Mal, dass das »Elftstedentochtrennen« durchgeführt werden konnte, war 1997. Da hat Schweden tatsächlich die besseren Karten. Ganz besonders der Landstrich zwischen Uppsala und Norrköping bietet ideale Voraussetzungen für das Nordic Iceskating. Und Stockholm kann ohne weiteres als Welthauptstadt dieser Sportart bezeichnet werden. Mit dem Mälaren, dem drittgrößten See Schwedens, Hunderten von kleinen und mittelgroßen Seen und dem Schärengarten mit seinen 30 000 Inseln direkt vor der Haustür, ist die Auswahl an möglichen Strecken riesig, wenn das Eis die richtige Dicke hat.
Benimmregeln im Bus
Rund um den 60. Breitengrad, wo außer Stockholm auch Åland, Turku und Helsinki liegen, wechselt die Temperatur oft zwischen Minusund Plusgraden im Winter. Und der Schnee liegt dank der Temperaturunterschiede nicht durchgängig auf dem Eis. Denn schneefreies, blankes Eis ist eine der Grundvoraussetzungen für das Nordic Iceskating. Viele der kleinen, flachen See frieren oft schon Ende Oktober zu. Und langsam, aber sicher frieren dann Schritt für Schritt auch die größeren Gewässer und die Schärenbuchten zu. Januar und Februar sind die Lieblingsmonate der Schlittschuhläufer, doch in guten Wintern kann man manchmal sogar bis
um Ostern herum aufs Eis.Theoretisch kann man diese Sportart in ganz Schweden ausüben, wenn das Wetter mitspielt. Im Süden ist es aber meistens zu mild und im Norden ist es zu kalt, was zur Folge hat, dass die Schneedecke den ganzen Winter über auf dem Eis liegen bleibt. Genaue Zahlen sind leider nicht zu ermitteln, was die Beliebtheit des Nordic Iceskating betrifft, aber der größte Verein für Langstreckenschlittschuläufer hat etwa 10 000 Mitglieder und diejenigen, die sich ohne jegliche Vereinszugehörigkeit aufs Eis begeben ist sicher zehnmal so hoch.
Blaumachen zum Schlittschuhfahren
Doch wie genau funktioniert das mit den Schlittschuhen auf dem Eis nun eigentlich? Um eine möglichst qualifizierte Antwort auf diese Frage zu erhalten, habe ich Mårten Ajne gebeten, mit mir auf Tour zu gehen. Er ist ein echter Veteran. Als Schüler stand er Ende der 70er Jahre das erste Mal auf Langlaufschlittschuhen. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Er begann auf eigene Faust, die Wasserläufe der Umgebung zu erforschen. Ein Jahr später traf er auf eine Busladung mit Eisläufern in »seinem« Revier. »Die waren vom Stockholmer Schlittschuhclub SSSK. Ich hatte damals keinen blassen Schimmer davon, dass es einen Verein für diese Sportart gab«, sagt er. Zu der Zeit war Nordic Iceskating noch ein ziemlich bürgerlicher Sport mit zahlreichen Benimmregeln und Konventionen. Doch die Aktiven verfügten über wertvolles Wissen über das Eis, das von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Mårten lernte in Gesellschaft der SSSK-Läufer sowohl, wie man sich in einem Vereinsbus benahm (Frauen und ältere Mitglieder steigen zuerst ein. Und man darf niemals die scharfen Kufen auf den Sitz legen) als auch, wie und wann sich das Eis verändert. Schon bald wurde er zum Gruppenleiter und Eisbeobachter befördert. Er war dafür verantwortlich, die befahrbaren Strecken in der Region Stockholm zu melden. Nach den ersten Jahren in den Fängen der Schlittschuhgemeinde standen Familie und Arbeit im Vordergrund. Doch Mitte der 90er Jahre gewann seine Leidenschaft für das Eis wieder Oberhand. Im Winter war das Schlittschuhlaufen sein Leben. »Bei Vorstellungsgesprächen wies ich meine potenziellen Arbeitgeber darauf hin, dass ich im Winter manchmal spontan Urlaub nehmen wollte, um aufs Eis zu gehen, wenn die Bedingungen stimmen. Und
die meisten meiner Chefs waren damit einverstanden.« In den vergangenen Jahren ist Mårten der ein oder andere Rekord auf den klassischen Distanzen gelungen. Er war auch der Erste, dem es gelungen ist, auf Langlaufschlittschuhen vom finnischen Festland bis nach Åland zu fahren.
Volles Risiko
In fast jeder Saison verunglücken einige Eisschnellläufer tödlich. Das Risiko, dass Mårten Ajne dieses Schicksal ebenfalls ereilt, ist gleichzeitig klein und groß. Auf der einen Seite ist er wahrscheinlich einer von Schwedens besten Eisexperten. Während eines normalen Winters legt er rund 2 000 Kilometer auf Kufen zurück. Und in besonders guten Wintern das Doppelte. Zusammen mit dem Fotografen Henrik Trygg hat er zwei Bücher über Nordic Iceskating geschrieben, die sich u.a. mit kleinsten Eispartikeln befassen. Ein weiteres Buch auf Englisch ist in Planung: »168 Seiten ohne ein einziges Bild. Es wird nur um die physikalischen Eigenschaften von Eis gehen. Sogar etablierte Wissenschaftler können noch was von mir lernen«, schmunzelt Mårten. Doch trotz seines immensen Wissens ist auch Mårten den Naturgesetzmäßigkeiten ausgesetzt, durch die jedes Jahr wieder erfahrene und routinierte Alpinisten ums Leben kommen. Der Zeitfaktor spielt dabei meistens eine entscheidende Rolle. Je länger man in einer gefährlichen Umgebung ausharren muss, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Unwahrscheinliche eintritt. Das Risiko ist Teil des Abenteuers. »Wenn andere Eisläufer nach gutem Eis suchen, bin ich auf der Suche nach offenem Wasser«, verrät Mårten mir. »Ich versuche dann auszurechnen, wann das Eis frühestens trägt, damit ich als Erster dort laufen kann«, sagt er. Gestern noch wäre es unmöglich gewesen, östlich von Runmarö aufs Eis zu gehen. Doch nach der kalten und klaren Nacht, stehen die Chancen gut. Zumindest, wenn man Mårten Glauben schenkt.
Balance halten
Ich bin noch nicht ganz überzeugt, als ich mich auf die dünne Unterlage begebe, nachdem wir die Fähre verlassen haben. Ich habe selbst einiges an Erfahrung und bin auch schon auf Wasserläufen unterwegs gewesen, wo vor mir noch niemand war. Aber ich fahre immer ziemlich langsam und sehe das Ganze mehr als ein Naturerlebnis und nicht so sehr als Abenteuer. Zur Sicherheit schicke ich noch eine SMS mit dem Namen meiner Versicherung an den Freund, der sich gerne meine Plattensammlung unter den Nagel reißen möchte. Dann fahren wir los. Die Kälte beißt im Gesicht. Nur einige hundert Meter entfernt verläuft eine Fahrrinne, in der einige Eisschollen umherschwimmen. Wir sind noch recht nahe am Ufer, wo das Eis etwa vier bis fünf Zentimeter dick ist. Und glasklar. Ab und zu sehe ich, dass die Schicht unter den Kufen von Mårten und Henrik ganz leicht nachgibt. Im Fachjargon nennt man diesen Effekt »Hängematte«. Normale Menschen würden es vielleicht eher als »blanken Wahnsinn« bezeichnen. Ich bin in den letzten Jahren oft mit Anfängern unterwegs gewesen. Man kann sie pauschal in zwei Gruppen einteilen: Die einen haben keinerlei Inlines- oder Schlittschuherfahrung und schaffen am ersten Tag meist nicht mehr als einige hundert Meter. Es spielt keine Rolle, wie gut ihr Gleichgewichtssinn ist, beherrscht man die Technik nicht, kommt man nicht weit. Stattdessen geht man mit Kufen unter den Füßen spazieren. Will man auf dem Eis gleiten, muss man den Schwerpunkt des Körpers auf die Seite verlagern und abwechselnd auf einem Bein stehen und sich mit dem anderen abstoßen. Die zweite Gruppe besteht meist aus Leuten, die Erfahrung mit herkömmlichen Schlittschuhen haben. Und die haben die Technik meist nach einigen Minuten drauf. Es ist sogar um einiges leichter, auf Langlaufkufen die Balance zu halten als auf gewöhnlichen Schlittschuhen. Doch das Beherrschen der Technik macht einen noch lange nicht zum Nordic Iceskater. Diese Einsicht trifft mich bereits nach einigen Minuten auf dem Eis vor Runmarö. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Mårten mich aus den Augenwinkeln beobachtet und sowohl meinen Fahrstil als auch meine Ausrüstung kritischen Blicken unterzieht. Und er wirkt nicht besonders beeindruckt. Wenn wir es bis zum offenen Meer schaffen wollen, muss ich die Beine in die Hand nehmen. Mårten gibt mir einige Ratschläge (oder besser gesagt: Befehle). Ich habe den Eindruck, dass er auf dem Eis irgendwie anders ist als an Land. Soziale Kompetenz gehört momentan nicht gerade zu seinen Stärken (»Gabriel, du fährst wie eine beinamputierte Gans!«). Was ihm an verbalem Fingerspitzengefühl fehlt, macht er durch seinen eleganten Fahrstil wieder gut. Er gleitet in weiten Bögen über das Eis, fährt auf einem Bein, nimmt Fahrt auf und scheint fast zu fliegen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schnell und gleichzeitig so geschmeidig fährt wie Mårten.
Auf dünnem Eis
Das Eis in den Schären gleicht nur selten einer blankpolierten Tanzfläche. Meistens liegt noch ein bisschen Schnee auf dem Eis und man muss immer mit kleinen oder großen Unebenheiten rechnen. Oft liegen mehrere »Generationen« von Eisschichten übereinander, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Das bedeutet, dass Eisflächen, die eigentlich ausreichend dick sind, plötzlich viel zu dünn sind. Und es bedeutet auch, dass es kein im Voraus bestimmtes Ziel gibt, dass wir auf direktem Weg erreichen. Stattdessen lassen wir uns vom Eis den Weg weisen, wie Mårten es ausdrückt. Wir fahren in Buchten hinein und folgen den Farbschattierungen des Eises, lauschen dem Knacken und gelangen so immer weiter Richtung offenes Meer. Die Inseln um uns herum werden weniger und karger. Bis wir nach einigen Stunden bis auf wenige Meter ans Wasser herangekommen sind. Einige Seemeilen weiter weg liegt die
Insel Bullerö, die von Wasser umgeben ist. Bis dort wollten Mårten und Henrik eigentlich fahren, doch das fehlende Eis macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Doch als wir dann kurz darauf eine Kaffeepause einlegen, wirken die beiden nicht sonderlich enttäuscht. Als wir dann aber plötzlich drei andere Schlittschuhläufer sehen, sinkt die Stimmung. Wir sind offenbar nicht alleine hier draußen. »Scheiße!«, ruft Mårten. Für den Rest des Tages bewegen wir uns im Grenzland zwischen offenem Meer und dickem Eis. Manchmal knackt es unter den Schlittschuhen und kleine Risse entstehen unter den Kufen. Von Zeit zu Zeit hackt Mårten ein Loch ins Eis und kramt seine Messinstrumente hervor. »Hier ist es 3,7 Zentimeter dick und aufgrund der vorhandenen Wärmeausstrahlung wächst das Eis mit 0,3 Millimeter pro Stunde.« Einige Male bleibt er plötzlich stehen. Henrik und ich ebenfalls. Das Eis vor uns ist nur einen Zentimeter dick. Wären wir weiter gefahren, wären wir mit Sicherheit eingebrochen. »Ich denke beim Fahren nicht an alle Variablen, die bei der Eisbildung eine Rolle spielen, sondern verlasse mich auf meine Erfahrung«, sagt Mårten. Es fängt an zu dämmern und wir müssen unseren Tanz auf dem Eis abbrechen. In Runmarö wartet die Fähre auf uns. Als wir an Bord gehen und die Sonne langsam hinter den Schären versinkt, ist Mårten zufrieden. Seine Berechnungen waren richtig: Wir hatten richtig gutes Eis da draußen. »Einen solchen Tag gibt es vielleicht nur einmal pro Saison. Und dann muss man bereit sein«, sagt er.