Arktische Überlebenskünstler
Felix Heintzenberg und Ole Jørgen Liodden zählen zu den renommiertesten Naturfotografen Skandinaviens. In ihrem Buch "Arktis" dokumentieren sie auf beeindruckende Weise, wie Tiere in Schnee und Eis überleben.
Ganz oben auf unserem Erdball liegt die Arktis, eine der letzten unberührten Wildnisregionen. Jedes Jahr zwischen Mai und August finden Zugvögel, Lemminge, Polarfüchse und andere Tiere hier einen üppigen Lebensraum mit reichhaltiger Nahrung. Aber schon im September kündigen sich die harten Bedingungen des kalten und dunklen Winters an, mit eisigen Schneestürmen und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Der Wintereinbruch geschieht ohne Vorwarnung. Über Nacht kann sich die sommerliche Tundra in eine weiße Eislandschaft verwandeln.
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Die Durchschnittstemperatur von November bis März liegt bei minus 20 Grad, nachts oft bei minus 30 oder tiefer. Doch eine Gruppe spezialisierter, besonders anpassungsfähiger Tier- und Pflanzenarten nimmt die Herausforderung an und fühlt sich weiterhin in der Arktis zu Hause. Die verschiedenen Lösungen der Organismen, der Kälte zu trotzen, sind voller Finessen und von verblüffendem Erfindungsreichtum.
Frostschutz im Blut
Die meisten kleineren Tiere in der Arktis können ihre Körpertemperatur nicht selbst regeln. Biologen sprechen hier von ektothermen Organismen. Die Energie, die den Körper erwärmt, kommt vor allem aus der Umgebung. Um in extrem kaltem Milieu zu überleben, brauchen diese Tiere besondere biochemische und physiologische Eigenschaften, die sie kältetolerant machen.
Die Körpertemperatur von Fischen entspricht meist der des Wassers, in dem sie schwimmen. Das arktische Meer gefriert dank seines Salzgehalts erst bei minus 1,9 Grad, aber schon bei minus 0,5 bis 0,9 Grad kristallisiert das Blut von Fischen zu Eis. Überleben können sie nur deshalb, weil sie im Winter spezielle Anti-Frost-Proteine oder Glykoproteine ausbilden, die verhindern, dass die Eiskristalle zu groß werden und Zellschäden verursachen.
Viele Insekten sterben nach dem kurzen arktischen Sommer, aber ihre Larven haben oft erstaunliche Strategien zum Überleben bei Minustemperaturen: Ihre Körperflüssigkeit enthält Glycerol und Äthylenglykol, biologische Frostschutzmittel, die sie selbst produzieren. Der kleine Schmetterling Gynaephora groenlandica, in Nordkanada und auf Grönland beheimatet, kann auf diese Weise 70 Minusgrade überstehen. Er verbringt den größten Teil des Jahres in einem heruntergekühlten Ruhezustand und braucht deshalb vom Larvenstadium an volle sieben Jahre, um erwachsen zu werden.
Eingebaute Wärmeelemente
Eine der genialsten Erfindungen der Evolution ist der Schritt von den ektothermen zu endothermen Organismen, die ihre eigene Körperwärme produzieren und damit unabhängig von den Temperaturen der Umgebung sind. Diese phänomenale Fähigkeit, aus den eigenen Zellen Wärme zu erzeugen, erlaubt es Vogelarten wie Rabe, Schneehuhn und Schneeeule sowie Landsäugetieren wie Eisbär, Moschusochse und Polarfuchs, nicht nur ganzjährig in der Arktis zu leben, sondern auch den größten Teil des Tages aktiv zu sein.
Aber wie alle Wärmequellen brauchen die endothermen Tiere Brennstoff, vor allem Fett und Proteine, und so legen die meisten Arten schon im Herbst eine dicke Fettschicht als Energiereserve an. Fett als schlechter Wärmeleiter hindert die Wärme, den Körper zu verlassen.
Zusätzlich wechseln die arktischen Säugetiere ihren Sommerpelz gegen einen dichteren und wärmeren Winterpelz, mit Ausnahmen wie Walen und Walrössern, bei denen die Speckschicht ausreicht. Vögeln wie der Schneeeule wächst ein besonders dichtes, isolierendes Federkleid. Je länger die Extremitäten, desto größer der Wärmeverlust. Deshalb haben endotherme Tiere in der Arktis kürzere Beine, Nasen, Schwänze und Ohren als ihre südlicheren Verwandten. Dieser Zusammenhang wurde 1877 von dem US-Zoologen Joel Asaph Allen entdeckt und ist seitdem bekannt als Allensche Regel.
Auch haben endotherme Tiere die Tendenz zu einer erheblich größeren Körpermasse, was den lebenswichtigen und wärmefördernden Prozess der Zellatmung begünstigt. Diese Regel ist nach dem deutschen Biologen Carl Bergmann benannt, der sie 1847 entdeckte.
Die Strategien, den arktischen Winter zu überstehen, sind sehr variationsreich und richten sich jeweils nach der Größe und der Physiologie der Tiere. Das kalte Klima hat im Laufe der Evolution auch die dazu passenden Lösungen hervorgebracht, eine faszinierender als die andere. Jeder Besuch in der Arktis macht uns die Schönheit unserer Welt bewusst. Jede Begegnung mit arktischen Tieren oder Pflanzen erfüllt uns mit Respekt und Demut gegenüber den Arten, mit denen wir die Erde teilen. Die Arktis ist aber nicht nur ein Lebensraum voller Herausforderungen und voller Schönheit, sondern auch eine gefährdete Zone. Denn hier vollzieht sich der Klimawandel schneller als an vielen anderen Orten der Erde – mit starken Auswirkungen auch auf die Tier- und Pflanzenwelt. Aber noch ist es nicht zu spät. Das globale Engagement für das Klima wächst. Wir glauben daran, dass der Mensch, wenn er dazu bereit ist, die Klimaveränderung aufhalten und große Teile der arktischen Fauna und Flora für zukünftige Generationen bewahren kann.