Apostel im Eis: Kältebad nach der Wim-Hof-Methode
Daniel Müller lehrt das Baden nach der Wim-Hof-Methode in Stockholm und hält seine Jünger dazu an, minutenlang im Eiswasser zu verharren. Für eine bessere Immunabwehr und weniger Stress.
Vor 35 Jahren sank ein Schiff vor den Västmanna-Inseln auf Island. An Bord befanden sich fünf Fischer. Nur einer von ihnen überlebte. Guðlaugur Friðþórsson sprang ins Wasser und fing an zu schwimmen. Die Wellen waren hoch. Die Wassertemperatur betrug sechs Grad. Guðlaugur trug Jeans und Pulli. Er versuchte, sich beim Schwimmen an den Lichtern von Straßenlaternen auf der nächstgelegenen Insel zu orientieren. Dabei musste er einen Umweg machen, weil die Klippen am ersten Ufer zu steil waren, um hinaufzuklettern. Als er auf der Insel Hemön endlich an Land gehen konnte, dachte er, dass die Qualen nun ausgestanden wären. Er täuschte sich. Durchnässt und barfuß musste er drei weitere Kilometer über Lavafelder bis zum nächsten Dorf wandern. Am Morgen, neun Stunden nach Schiffbruch, klopfte er an die Tür einer gerade erwachten Familie und brach zusammen. Guðlaugur war sechs Stunden im Eiswasser geschwommen, drei Stunden gelaufen und am Leben geblieben. Wie war das möglich?
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An einem kühlen Vormittag ist die Eisfläche auf dem Vinterviken südlich von Stockholm leer. Daniel Müller geht mit vorsichtigen Schritten auf das gefrorene Wasser hinaus. Seine Freunde warten an Land, während er eine Kettensäge in Gang setzt. Eissplitter fliegen. Von der anderen Seite der Bucht erklingt irritiertes Hundegebell. Einige Bauarbeiter renovieren eine Brücke. Der Neugierigste von ihnen kommt herüber und fragt, was wir vorhaben. »Baden«, sagen wir.
Religion des Aushaltens
Daniel hat seit vielen Jahren Erfahrung mit dem Winterbaden. »Viele haben Angst, ins kalte Wasser zu springen, und wollen sich dem Schock nicht aussetzen. Aber vor 30 Jahren trauten sich so manche auch noch nicht ins Fitnessstudio. Muskelkater ist nicht gefährlich. Frieren auch nicht. Eisbaden hat mich fröhlicher, stärker und gesünder gemacht«, sagt Daniel. Heute ist er mit vier seiner Schüler hier. Erik und Einar sind Anfänger, Hanne Marie und Anna haben einige von Daniels Kursen besucht und sind begeisterte Winterbaderinnen. »Neulich bin ich stundenlang auf dem Eis herumgerutscht, um ein Loch zu hacken«, sagt Anna. »Fängt man einmal damit an, ist man bekehrt, Eisbaden ist so etwas wie eine Religion«, sagt Hanne. Das scharfe Blatt der Motorsäge frisst sich durch das Eis wie durch Butter. Es dauert nicht lange, bis eine vierkantige Öffnung entstanden ist.
Daniel und die anderen ziehen ihre Badesachen an und starten mit Atemübungen und Aufwärmtraining. »Es geht darum, sich stufenweise der Kälte auszusetzen. So kräftigt man Körper und Geist«, sagt Daniel. »Man muss sich gut vorbereiten, um im Wasser ruhig und gelöst zu sein. Es gibt Atemtechniken, um sich in Schwung zu bringen, und andere, um sich zu entspannen. Die Atmung ist die Fernbedienung unseres Nervensystems.« Schließlich lassen sich alle in das eiskalte Wasser gleiten. Am Anfang sind ihre Gesichter schmerzverzerrt und sie klammern sich krampfhaft am Rand fest. Einen Augenblick später sehen sie geradezu friedlich aus. Erst nach mehreren Minuten klettern sie wieder heraus. Aber niemand rennt nun direkt in eine Sauna, niemand schlüpft rasch in trockene Sachen. Daniel lehrt eine andere Methode: Sie sollen tanzen, hüpfen und alles dafür tun, dass der Körper auf natürliche Weise wieder warm wird. »Viele Winterbader springen ins Wasser und kommen sofort wieder heraus«, sagt Daniel. »Aber diese Methode hier ist wirkungsvoller und wohltuender. Zuerst muss der Körper sich an den Kälteschock gewöhnen, aber nach etwa 30 Sekunden beginnt man zu entspannen.
Es dauert anderthalb Minuten, bis man alles unter Kontrolle hat. Dann ist es reine Magie.
Plötzlich fängt man an zu genießen. Du solltest das auch mal probieren!«, sagt er und blickt mich an. Ich gelobe, einen Versuch zu wagen. Schon in wenigen Wochen wird Daniel einen Kurs nach der sogenannten Wim-Hof-Methode halten und dann werde auch ich baden. Wenn ich mich traue.
Der niederländische Extremsportler Wim Hof ist als der »Eismann« berühmt geworden. Den Mount Everest hat er in Shorts bestiegen. Er ist barfuß in Schnee und Eis den schnellsten Halbmarathon der Welt gelaufen und hat mehrstündige Eisbäder absolviert. Seine Methode hat drei Standbeine: stufenweise Kälteexposition, Atemtechniken und eine positive mentale Einstellung. Wim Hof ist davon überzeugt, dass jeder Mensch lernen kann, sich gegen Kälte abzuhärten. Er hat weltweit Anhänger, die berichten, dass sie besser schlafen und seltener krank werden, ihnen Stress weniger zu schaffen macht oder sie Depressionen überwunden haben. Wim Hof hatte immer wieder behauptet, er könne seine Körpertemperatur kontrollieren, was in einer Studie der amerikanischen Wayne State University im vorigen Jahr tatsächlich bewiesen wurde. Trotz äußerer Einflüsse in Form von Kälte oder Wärme konnte er seine Körpertemperatur konstant bei 34 Grad halten.
Das braune Körperfett hat sich als ein Schlüsselfaktor erwiesen. Es wird durch Kälte aktiviert und erzeugt Wärme. Je häufiger wir uns Kälte aussetzen, desto mehr braunes Körperfett legen wir an. Auch der Anteil an braunem Fett bei dem schiffbrüchigen Isländer war wohl besonders hoch. Als Guðlaugur ins Krankenhaus kam, lag seine Körpertemperatur bei knapp 34 Grad. Trotzdem wies er keine Unterkühlungszeichen auf. Seine Füsse bluteten, weil er über scharfe Lavasteine gegangen war, und er war ausgetrocknet, weil er nichs getrunken hatte. Das war alles.
Kälte gegen Depression
Vor fünf Jahren hörte Daniel zum ersten Mal von Wim Hof. Damals war er gerade mit Liebeskummer aus Deutschland nach Schweden gezogen und ihm stand der erste dunkle Winter in seiner neuen Heimat bevor. Obwohl er eine starke Abneigung gegen Kälte hatte, beschloss er der Methode eine Chance zu geben. Mehrere Wochen lang probierte er es mit kalten Duschen und Atemübungen. Sein erstes Bad im Vinterviken wagte er nachts, weil er dabei ungestört sein wollte. »Ich wollte nicht, dass mich jemand dabei sah und wohlmöglich davon abhalten wollte. Ich ging von einem Steg baden und zitterte gewaltig, aber ich trainierte weiter. Jetzt brauche ich nicht mehr so lange, um nach dem Bad wieder warm zu werden. In kürzester Zeit veränderten sich mein Körper und meine Psyche. Das war ein unglaubliches Gefühl. Ich habe es sogar geschafft, aus meiner Depression herauszufinden.«
Daniel war so fasziniert, dass er die Erfahrung mit anderen teilen wollte. Inzwischen hat er selbst bei Wim Hof trainiert und ist zertifizierter Lehrer. Im Winter versucht er, mehrmals in der Woche zu baden. Im Sommer ist es schwierig, richtig kaltes Wasser zu finden, aber viele Schwimmbäder haben Eisbecken. »Noch vor hundert Jahren gab es praktisch nur kaltes Wasser zum Baden. Jetzt ist Kaltwasser jenseits unserer Komfortzone, aber es senkt das Stressniveau und bewirkt, dass du mehr Energie hast.« Helena Kubicek Boye ist Psychologin und leidenschaftliche Winterbaderin. Sie ist keine Wim-Hof-Anhängerin, aber überzeugt von den Vorteilen der Methode.
»Wissenschaftlich nachgewiesen sind jedenfalls die Reaktionen, die der Körper zeigt, wenn wir uns regelmäßig in kaltem Wasser aufhalten«, sagt Helena. »Die Immunabwehr verbessert sich, es werden mehr Endorphine ausgeschüttet, das Stressniveau sinkt und wir bauen mehr von dem wertvollen braunen Fettgewebe auf.« Humanbiologen am Maastricht University Medical Center spekulieren, ob Fettsucht und Folgekrankheiten mit dem warmen Wohnklima in der westlichen Welt zusammenhängen könnten. »Ich bin davon überzeugt, dass Patienten, die unter Angst und Depressionen leiden, vom Kaltbaden profitieren«, sagt Helena. »Es ist wie ein Kick, ein mentaler Neustart. Ein Ansporn, sich selbst herauszufordern.«
Mutprobe mit Würfeln
Ein paar Wochen später beginnt der Kurs in Daniels Haus in Österhaninge bei Stockholm. Insgesamt sind wir 13 Personen, Jüngere und Ältere, Frauen und Männer. Einer ist gekommen, weil er seine Grenzen erweitern will, ein zweiter, um die Symptome einer Autoimmunkrankheit zu lindern, und eine dritte, weil man es ihr empfohlen hat. Daniel berichtet über die Hintergründe der Methode, bevor er der Gruppe eine Anleitung zu Atemübungen gibt. Nach einigen Yogapositionen müssen wir in Badekleidung hinaus in die Kälte gehen. Und da steht eine ganz gewöhnliche Badewanne, die Daniel nun mit Unmengen an Eiswürfeln aus der Gefriertruhe füllt. Zum Aufwärmen stehen wir breitbeinig und drehen uns abwechselnd nach rechts und links, während wir »Ho-ha« rufen – eine zentrale Übung im asiatischen Kampfsport. Dann geht es los.
Einer nach dem anderen steigt in die Eiswürfelwanne. Daniel stellt die Stoppuhr auf zwei Minuten. Alle werden ermuntert, durchzuhalten, aber es ist keine Bedingung.
Aus Lautsprechern tönt der Song Ice Ice Baby, der uns adäquat zum Eisbad motiviert
»In den ersten Sekunden dachte ich, mir wird schlecht. Aber dann, wow, wie toll!«, sagt Christoffer. »Waren das schon zwei Minuten? Darf man ein bisschen verlängern?«, fragt Kim und lässt sich für eine Extraminute ins Eiswasser gleiten – inklusive Kopf. Zum Schluss bin nur noch ich übrig. Sich freiwillig in die ungemütlichste Badewanne Schwedens zu legen, kostet Überwindung. Während der ersten Sekunden kann ich nur daran denken, wie höllisch kalt es ist. Jede meiner Körperzellen schreit: »Raus hier!« Dann nehme ich wahr, wie Daniel mich anfeuert. Genau, die Atmung. Ich höre die anderen im Chor »Ho-ha« singen. Plötzlich fühlt es sich nicht mehr ganz so furchtbar an. Ich wackele mit den Zehen. Die Atemzüge werden länger. Nach zwei Minuten beschließe ich, den Kopf ebenfalls einzutauchen, um ganz drin zu sein. Danach tanzen wir ein wenig. Wir sollen nicht ins Haus, bevor die Körpertemperatur sich von selbst reguliert.
Durchnässt im Wind zu stehen, fühlt sich zweifellos noch kälter an als das Bad selbst. Die Ärmsten, die gleich als erstes in der Wanne waren. Vor allem meine Ohren frieren. Um die Zehen steht es schlecht. Aber drei Tänze später ist es so weit: Wir dürfen rein. Halleluja. Drinnen reiße ich mir den Bikini vom Leib und ziehe mir Unterwäsche aus Wolle an, sage aber Daniel nichts davon – wohlmöglich gilt das als Schummeln. Zum Lunch gibt es Suppe. Sie wärmt, aber rund um den Tisch sieht man etliche Löffel auf dem Weg zwischen Teller und Mund zittern. Viele sagen, dass sie sich ewig nicht mehr so lebendig gefühlt haben. Auch Daniel ist zufrieden.
»Ich möchte, dass die Leute verstehen, dass das hier etwas Normales ist und nicht irrsinnig extrem wie die Mount-Everest-Besteigung. Früher war die Kälte mein schlimmster Feind, aber sie hat mich gelehrt, Veränderungen bereitwillig anzunehmen, um daran zu wachsen. Jetzt laufe ich oft im T-Shirt herum, weil mir selten kalt ist. Aus meiner größten Schwäche ist meine größte Stärke geworden. Das klingt einfach, war aber definitiv nicht leicht. Doch es war jeden, noch so schaudernden Moment wert.«