Famoos
Obwohl es den Boden unserer Wälder zu großen Teilen bedeckt, war Moos immer ein Underdog. Seit einigen Jahren aber werden Touren durchs Moos in Schweden immer populärer. Wir sind mit der Lupe losgewandert.
Der Stein fühlt sich rau an meiner Wange an und seine Kühle dringt durch meine Jacke. Ich stehe ganz dicht an einem Felsen, der sich wie eine bucklige Mauer durch den Wald zieht. Mit den Füßen versuche ich schwankend Balance auf einem Baumstumpf zu finden. Ich will noch näher heran, drücke mich an das uralte Felsgestein und bringe die Lupe in Stellung. Das dunkelgrüne Moos klettert aufwärts wie ein großes Tier, das mit dem Granit verschmelzen will. Aus der Nähe sieht es ganz anders aus: Da ist es ein wilder Wald in einer steinigen Einöde, üppig und lebendig. Ein Mikrodschungel, der unter dem Vergrößerungsglas riesig wirkt.
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Instinktiv will ich ihn berühren, als das plötzliche Räuspern eines Hundebesitzers auf dem Pfad den Zauber zerstört. Er fragt sich wohl, warum ich hier stehe und einen Felsen umarme. Schon immer fühlte ich mich stark zu den allergrünsten Stellen im Wald hingezogen. Erst jetzt aber habe ich wirklich verstanden, warum. Es hat mit dem Moos zu tun. In diesen tiefgrünen Räumen ist es das Moos, das über allem regiert. Es streichelt die Steine und Baumwurzeln, legt sich wie eine Decke über den Waldboden. Es vermittelt Geborgenheit, fühlt sich alt und unveränderlich an. Vielleicht sogar urzeitlich.
Auf meinen Touren durch den Wald bin ich immer neugierig, probiere Sauerklee, kratze die Erde von den Wurzeln des Engelsüß und folge Ameisenpfaden. Nie war mir eingefallen, mir Moos näher anzuschauen. Bis jetzt. Eine Mooswanderung hat mir die Augen geöffnet. Doch alles hat mit einer Recherche im Inter- net angefangen: Moos ist angesagt, in vielen Zusammenhängen. Moosdeko im Büro ist der letzte Schrei, erfahre ich – das Moos hat offen- bar den Kaktus als beliebteste Einrichtungs- pflanze überholt. Ich finde heraus, dass es jedes Jahr im Oktober einen Tag der Moose gibt. Und doch wird in unseren Gärten Moos immer noch als Unkraut betrachtet, als unerwün- schte Beimischung im Rasen. Ganz anders ist es in Japan, lerne ich – dort genießt das Moos hohen Respekt. Einen schönen Moosgarten anzulegen, gilt als eine Kunst, die nur wenige beherrschen.
In diesen tiefgrünen Räumen ist es das Moos, das über allem regiert.
Moos ist friedlich
Die Japaner haben sich also ins Moos verliebt, doch wir Schweden sind schwerer zu entflammen, zumindest Gartenbesitzer. »Bei uns hat das Moos einen unverdient schlechten Ruf. Man verachtet es in gewisser Weise, obwohl es keinerlei Schaden anrichtet«, sagt Tomas Halling- back. Er hat mehrere Bücher geschrieben und ist Vorsitzender des Vereins Mossornas vänner (dt. Freunde der Moose). Alles begann in seiner Studienzeit, als er mit einem Kommilitonen ent- deckte, wie interessant es ist, sich Moos unter dem Mikroskop anzuschauen. Tomas schildert Moos als eine friedliche Pflanze.
»Viele glauben, dass es alles überwuchert und das Gras verdrängt, aber so ist es nicht«, sagt er. »Moos wächst, wenn der Rasen in schlechtem Zustand ist, es füllt Lücken. Es zieht auch keine Nährstoffe an sich, wenn es am Stamm des Apfelbaums hochklettert. Es sitzt einfach da. Ist ziemlich anspruchslos.« Das mit dem schlechten Ruf ist komisch. Moose sind ein Teil unserer Kulturgeschichte. Es gab eine Zeit, in der wir Schweden von Moosen fleißig Gebrauch machten. Mit Wandmoosen isolierten wir unsere Häuser. Außerdem hat das schwedische Wort »mossig« neben »moosig« oder »bemoost« noch eine andere Bedeutung. Tomas lacht, als ich ihn danach frage. »Ja – altmodisch und konservativ. Das hat vielleicht damit zu tun, dass Moos etwas sehr Altes ist. Es wächst unerhört langsam. Nur wenn ein Baum alt wird, schafft es das Moos, sich am Stamm anzusiedeln. Und wenn Moos auf einem Steinblock wächst, dann weiß man, dass er schon sehr lange da liegt.«
Tomas merkt, dass Moose immer beliebter werden. Auch der Verein Mossornas vänner wächst langsam, aber sicher. Zur Zeit hat er 250 Mitglieder, sowohl neugierige Anfänger als auch kundige Amateure. Tomas meint, dass die Popularität des Mooses als Reaktion auf den stressigen Alltag gedeutet werden kann. »Jetzt, wo alles so schnell gehen muss, können wir aus dem langsamen Wachstum der Pflanzen etwas lernen. Und wenn wir das Moos mit der Lupe genauer untersuchen, ist das eine meditative Beschäftigung, weit entfernt von dem Tempo, das unseren Alltag prägt.« Seine eigene Moos- liebe ist für Tomas so selbstverständlich, dass er sie gar nicht recht in Worte fassen kann. »Es hat mit den Farben zu tun und mit dem, was man entdeckt, wenn man mit der Lupe nahe herangeht. Irgendwie ist es wie Kunst.«
Underdog des Waldes
Eine, die Tomas Faszination für Moose teilt, ist Ulrica Nordström. Im Jahr 2018 erschien ihr Buch Mossa – I skog, trädgård och kruka (dt. Moos – im Wald, im Garten und im Blumentopf). »In der Natur beachtet man oft die Dinge, die größer sind und mehr auffallen, Moos kann man leicht übersehen«, sagt Ulrica. Erst wenn man nahe herankriecht, erkennt man seine Formen, Farben und Texturen. Es ist magisch. Für mich ist das Moos der Underdog des Waldes, den man nur entdecken kann, wenn man sein eigenes Tempo herunterschraubt.« Ulrica schwärmt, dass eine Wanderung durchs Moos eine ganz neue Perspektive offenbart. »Sie hat einen beruhigenden Effekt, während sie gleichzeitig die Entdeckerlust weckt.«
Ich kann nicht mehr anders und muss eine solche Mooswanderung mitmachen. Weil ich versuchen will, die Magie des Mooses zu verstehen, die Ulrica und Tomas und offenbar ganz Japan in ihren Bann zieht. Meine Moosführerin heißt Sara Lundkvist, 35 Jahre alt. Sie arbeitet als Naturschutzberaterin, hält sich deshalb oft im Wald auf – und ist vollkommen hingeris- sen vom Moos. »Moose sind eine Gruppe von grünen Landpflanzen, die sich durch Sporen aus Sporenkapseln vermehren. Sie bestehen jeweils aus zwei Generationen: der grünen, die meistens sichtbar ist, und der sporenproduzierenden, die aus der anderen hervorwächst und die Sporenkapseln bildet.
Drei Klassen von Moosen lassen sich nach Aufbau und Aussehen deutlich unterscheiden: Hornmoose, Lebermoose und Laubmoose. Moos kann uns viel über die Umwelt erzählen. Es gibt Arten, die etwas signalisieren. Zum Beispiel, dass die Gegend, in der sie wachsen, einen hohen Naturschutzwert hat, dass dort noch niemand störend eingedrungen ist«, erklärt Sara.
Das mit dem schlechten Ruf ist komisch. Moose sind ein Teil unserer Kulturgeschichte.
Ich wandere auf einem Pfad durch das Naturreservat Törnskogen, nördlich von Stockolm, hinter ihr her. Sie sucht akribisch mit den Augen die Umgebung ab. Plötzlich bleibt sie stehen und geht in die Knie. Eine weiche grüne Decke breitet sich wellenförmig vor ihr aus. »Etagenmoos. Das ist eine unserer häufigsten Moosarten. In Schweden nennen wir es »husmossa« (dt. Hausmoos), weil es zusammen mit dem »väggmossa« (dt. Rotstängelmoos) früher oft verwendet wurde, um Wände abzudichten. »Schau mal«, sagt Sara und gibt mir eine Lupe. Ich untersuche das Moos von der Seite und sehe plötzlich Details, die ich ohne Vergrößerung nie wahrnehmen würde. »Es ist leicht zu erkennen, weil es in deutlich sichtbaren Etagen wächst. Jedes Stockwerk entspricht einem Wachstumsjahr.«
Gleich daneben wachsen die beiden anderen Arten, die in Schweden am verbreitetsten sind, Rotstängelmoos und Echtes Federmoos, auch Farnwedelmoos genannt. Unter der Lupe sehe ich, dass das Rotstängelmoos gerade Blätter mit abgerundeten Spitzen hat, während sie beim Federmoos gekrümmt sind und spitz zulaufen. Sie sind hübsch und ziemlich groß, sehen wirklich aus wie grüne Federn. Sara ist seit einigen Jahren Mitglied im Botanischen Verein. Sie hat Biologie studiert, und schon während ihrer Ausbildung begann sie, sich für Moos zu interessieren. »Damit kann man leicht zum Nerd werden, denn es gibt ja unglaublich viele Moosarten. Und man kann sich ganzjährig damit beschäftigen, denn Moose sind immergrün.«
Um es sich selbst einfacher zu machen, konzentriert sich Sara auf Torfmoose. Davon gibt es etwa 45 verschiedene Arten, die sich in Feuchtgebieten wohlfühlen – und zu einem solchen führt sie mich nun. Jenseits von Kiefern und Fichten stehen wir plötzlich auf Moorboden und vor uns breitet sich ein kleiner Waldsee aus. Unter den Füßen – Torfmoos, so weit der Blick reicht, und zwar in mehreren Varianten. »Das Torfmoos ist im Waldschatten grün, aber in der Sonne kann es viele Farben annehmen.«
Verwirrung durch Räubertochter
Sara geht wieder in die Hocke und zeigt auf das leuchtend rote Moos am Seeufer. Unter uns schwankt der Boden. Wir stehen auf einem Schwingrasen. Das ist ein dicker Teppich aus lebenden und toten Pflanzen, Torf und anderen Bestandteilen, der auf dem Wasser schwimmt. Schwingrasen entsteht oft aus einer Mischung von Wasserpflanzen und Torfmoos. »Wie eine Brücke«, sagt Sara und ihre Augen leuchten. Wie ich erfahre, gibt es in Schweden über tausend Moosarten. Dabei können die meisten Menschen gerade mal eine Art identifizieren, vielleicht zwei. Und oft liegen sie falsch. Das weiße Moos, das man als Adventsschmuck benutzt, ist zum Beispiel kein Bleichmoos. Es ist tatsächlich gar kein Moos, sondern eine Flechte.
Damit kann man leicht zum Nerd werden, denn es gibt ja unglaublich viele Moosarten.
Echte Bleichmoose, auch Torfmoose genannt, gibt es in vielen Farben, aber Weiß gehört, trotz des Namens, nicht dazu. Unsere Generation, die mit der Verfilmung von Ronja Räubertochter aufgewachsen ist, wurde ganz schön in die Irre geführt. Ronja legt Bleichmoos auf die Wunden ihres Pferdes, das hat Astrid Lindgren ganz richtig beschrieben. Bleichmoos oder Torfmoos hat absorbierende und antiseptische Eigenschaften und ist ein altes Hausmittel, aber aus irgendeinem Grund hatte das Filmteam stattdessen eine Weiße Büschelstrauchflechte aufgetrieben. Die wirkt nicht antiseptisch und hilft nicht gegen Verletzungen. Sara und ich wandern weiter. Bald stoßen wir auf das Goldene Frauenhaarmoos, das aussieht wie ein weiches Meer aus Hunderten von Sternen. Ich beschließe, das dies mein Lieblingsmoos ist. Üppig, weich und ewig grün. Aus ihm hat man früher Bürsten und grobe Teppiche hergestellt. Als der Wald in felsiges Gelände übergeht, breitet sich um uns die Rentierflechte aus, die kein Moos ist, sondern – vereinfacht erklärt – ein Pilz, der mit einer Alge zusammenlebt.
Sara deutet auf die Kiefern, die aussehen, als würden sie über die Felsen klettern. Unter einem der Bäume zeigt sie mir ein Echtes Weißmoos, das wie ein kleiner, kompakter, hellgrüner Ball aussieht. »Wenn man weiß, was man da gerade anschaut, wächst das Gefühl, dass man es bewahren möchte, dass man sich um die Natur kümmern will. Wir Schweden sind ja überall von Moos umgeben. Da ist es doch eigentlich ziemlich seltsam, nicht zu wis- sen, worauf man geht und steht, oder?«
Unter meiner Lupe erwacht das Moos zum Leben. Alle Nuancen von Grün, verschiedene Formen und Texturen, wild und schön. Wie Miniaturwälder, an völlig unerwarteten Stellen. Ich krieche auf Felsen, Waldboden und Baumstümpfen herum – das Moos hat mich voll im Griff. Das sternenäugige Frauenhaarmoos an meiner Wange, das leicht zu übersehende Mondbechermoos, das auf dem Pfad meinen Stiefeln standhält, Hunderte von kleinen, feuchten Blättern auf meiner Handfläche. Meine Hände duften würzig nach Erde, Wasser ist mir in die Schuhe gelaufen, aber ich merke gar nicht, dass die Strümpfe feucht geworden sind. Ich vergesse sogar die Thermosflasche mit heißem Tee, die im Rucksack gluckert.
Zwei Stunden sind wir gewandert, aber wir haben keine lange Strecke zurückgelegt. Bei dieser Wanderung kam es weder auf den Weg, noch auf Kilometer an, sondern auf etwas anderes. Auf Achtsamkeit, Konzentration und Entdeckungen im Miniaturformat. Vielleicht geht es bei der Magie des Mooses um etwas Grundlegendes. Um langsames Wachstum, das über die Jahreszeiten hinweg beständig bleibt. Darum, dass eine bemooste Stelle im Wald sich ewig nicht verändert und dadurch Geborgenheit ausstrahlt. Oder nur um Schönheit, zu der wir uns hingezogen fühlen. Viele Dinge, an denen man normalerweise einfach vorbeiwandert, entpuppen sich unter dem Vergrößerungsglas als fantastische, facettenreiche Pflanzen, die ihr ganz eigenes und sehr langes Leben führen.