Gesalzenes Abenteuer
Ein kulinarischer Trip, der am dänischen Limfjord beginnt und zum nahrhaften Wattenmeer führt. Zwischendurch schmausen wir jede Menge Austern, der Umwelt zuliebe.
Eingehüllt in Wathosen, in der einen Faust einen orangefarbenen Kegel und in der anderen ein Metallnetz, stehe ich im Limfjord bis zur Hüfte im Wasser und suche nach Austern. Indem ich den Kegel, der ein Unterwasserfernglas ist, unter die Wasseroberfläche absenke, kann ich den Boden durch mein Guckloch scannen und mir offenbart sich ein Blick auf viele Austernschalen. In der Gier, Muscheln zu finden, übersehe ich eine Welle, die den Kegel zum Hüpfen bringt und mir einen richtigen Schlag auf die Nase verpasst. Den Austern zuliebe stehe ich hier im Limfjord, einer flachen Meerenge im nördlichen Teil von Dänisch-Jütland. Der Fjord beherbergt eine ganz besondere Rarität – die größte Wildpopulation der Flachaustern Ostrea edulis, seltene Delikatessen, die zu den besten der Welt zählen. Trotz fleißiger Suche finden wir keine einzige flache Auster, sondern viele Exemplare ihrer invasiven Cousine, der klumpigen Pazifischen Auster Crassostrea gigas.
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»Die Limfjord-Auster ist von den flachen Ufern in tiefere Gewässer umgezogen«, sagt Meeresbiologin Mette Møller Nielsen, als wir zurück zum Muschelzentrum im Hafen der Insel Mors laufen. »Sie wurden von der Pazifischen Variante verdrängt, die schneller wächst.« Im Gegensatz zu ihrer hartnäckigen Cousine ist die Limfjord-Auster rund, flach und innen goldfarben. Sie unterscheidet sich auch im Preis: Während man die Pazifische Auster für 10 Kronen bekommt, kostet die Limfjord-Auster rund 80 Kronen in Kopenhagener Restaurants.
Delikatesse aus der Altsteinzeit
Wir fahren weiter entlang der südlichen Limfjordküste. Im Hafen von Glyngøre treffen wir Svend Bonde vom Restaurant Glyngøre Shellfish. Neben einem großen Lagerhaus für Meeresfrüchte betreibt er hier eine Bar, in der er fangfrische Austern serviert. In eine wasserbefüllte Aluminiumrinne in der Mitte der Bartheke legt er ein Bündel Algen und darauf die geöffneten Austern. Hier kann man sowohl Limfjord-Austern als auch Pazifische Austern probieren. Dazu serviert Svend eigenes Oyster Stout, ein Schwarzbier mit dickem Schaum, das mit der heimischen Auster köstlich harmoniert.
»Es sind meist Einheimische, die kommen. Viele Touristen haben wir nicht«, sagt Svend. Auf Wunsch serviert er Limfjord-Austern mit Zitrone und Vinaigrette, aber auch pur sind sie spektakulär: nussig, metallisch, mit einem Jodgeschmack, der die Wangen kitzelt. Das kalte, nährstoffreiche Wasser im Limfjord hat sich als fruchtbarer Ort erwiesen, an dem die Austern langsam wachsen, was für festes Fleisch und einen komplexen Geschmack sorgt. »Der Limfjord ist das nördlichste Klima, in dem einheimische Austern leben können«, sagt Svend. Die extremen Bedingungen mit kaltem Wasser verleihen ihnen eine Intensität, die man südlicher nicht bekommt.«
Heute werden im Limfjord knapp 150 Tonnen Austern pro Jahr gefangen. Einige werden an dänische Spitzenrestaurants geliefert, aber die meisten werden exportiert. »Wir haben in Dänemark keine lange Tradition, Austern zu essen. Als Kind haben wir sie wieder ins Meer geworfen. Wir wussten nicht, dass sie eine Delikatesse sind.« Svend glaubt, dass die Dänen wieder lernen müssen, Austern zu essen. In der Altsteinzeit waren sie ein nährstoffreiches Grundnahrungsmittel. Archäologen haben ihre Schalen in Siedlungen aus der Zeit um 4 000 v. Chr. gefunden. Im 17. Jahrhundert wurden sie als Delikatesse angesehen und ihr Preis schoss in die Höhe. Sie wurden fast so teuer wie Gold. König Frederik II. von Dänemark entschied, dass sie Königen vorbehalten bleiben sollten und führte die Todesstrafe für Austerndiebe ein.
Erst 1984 wurde das Monopol aufgehoben, auch wenn die Fischerei noch immer stark reguliert ist, um das Überleben der heimischen Austern zu sichern. Während des 20. Jahrhunderts nahm ihre Zahl ab und es wurden viele Versuche unternommen, sie wieder anzusiedeln. Währenddessen zeigte die Pazifische Auster Präsenz. Heute hat diese die Westküste Jütlands eingenommen und reicht weit in den Limfjord hinein. Manche glauben, dass sie aus Larven im Ballastwasser der Schiffe stammt. In den 1980er Jahren begann ihre Zahl rapide zu steigen und so ist eine weitere Theorie, dass sie an der Westküste Jütlands angesiedelt wurde und von dort in den Limfjord gelangte. Ihre Ausbreitung ist für den Fjord und die Küste eine Katastrophe. Was wird getan, um Flora und Fauna zu schützen?
Als Kind haben wir sie wieder ins Meer geworfen. Wir wussten nicht, dass sie eine Delikatesse sind.
»Wir müssen die Fischerei auf Pazifische Austern ausbauen und eine Nachfrage schaffen. Sie schmecken großartig. Sie haben einen hohen Salzgehalt und sind weicher in der Textur, weil sie schneller wachsen«, sagt Svend. Auf dem Weg zur Westküste besuchen wir Venø Kro, das von außen nach nicht viel aussieht. Im geschützten Innenhof herrscht allerdings ein wunderbares Mikroklima und im Inneren des Restaurants sind die Tische mit Meeresfrüchten gedeckt. Vor der Tür weht der Wind der Meerenge über die menschenleere Küste. Draußen fängt es leicht an zu nieseln, während wir Hummer und Austern verspeisen.
Spannende Speisekammer
Weiter geht es quer durch Jütland nach Süden. Felder und niedrige Wälder säumen die Straße. Als es dunkel wird, sind wir in Tønder, dem Tor zum Wattenmeer, dessen grosszügige Ökosysteme den lokalen Restaurants eine spannende Speisekammer in Form von Austern, Kleinwild und Strandkräutern bescheren. »Im 18. Jahrhundert wurden von hier Austern für Katharina II. in Russland exportiert«, erzählt Povl Lønberg, Direktor des dänischen Austernfestivals. »In den 1980er Jahren wurden dann Austern im Wattenmeer angesiedelt«, sagt er und bestätigt damit, was wir über ihre invasive Verbreitung oben im Limfjord gehört haben. Povl ist unbestreitbar Austernfan. Er hat über die harthäutigen Weichtiere, trotz ihres Vordringens in dänischen Gewässern, meist nur Gutes zu berichten. »Wir möchten, dass die Leute kommen und verschiedene Austern probieren. Der Umgang mit ihnen ist nachhaltig. Es braucht nur Manpower und Gummistiefel, um sie zu ernten. Wer Austern isst, isst auch weniger Fleisch.« Er räumt aber auch ein, dass sie ein Problem sind und die Struktur des Meeresbodens stark verändert haben.
»Wir suchen ständig nach Lösungen. Aus ihren Schalen kann kalziumreiches Hühnerfutter hergestellt werden. Es wird auch daran geforscht, sie Zement beizumischen.« Im Restaurant Rose probieren wir einige Kilometer westlich im Meer gepflückte Pazifische Austern. Sie schmecken hier anders als im Limfjord, sie geben ein anderes Gefühl im Mund. »Austern filtern Wasser und schmecken wie die Umgebung. Beim Wein spricht man von Terroire, hier nennen wir es Merroir.«
Ein Hut voller Kräuter
Der Guide Frands Soberra ist im Dorf Ballum aufgewachsen und erinnert in seinem waldgrünen Parka und Khaki-Shorts an Snufkin von den Mumins, während der Rest von uns bis an die Zähne in winddichte Kleidung gemummt ist. Frands war das einzige Kind im Dorf, also spielte er selbst in der Natur und lernte viel über das Wattenmeer. Heute arbeitet er als Naturguide. Wir laufen durch eine offene Landschaft. Zwischen Meer und Ackerland wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein Deich angelegt. »Die Überschwemmungen vor dem Deichbau machten das Land sehr fruchtbar und schufen eine üppige Landschaft, in der sich das Vieh fett fressen konnte«, sagt Frands.
Auf der anderen Seite des Deiches befindet sich eines von Dänemarks einzigartigen Feuchtgebieten. Eine dynamische Landschaft, die sich von Tag zu Tag ändert. Feuchtgebiete nehmen große Mengen Kohlendioxid auf, da Algen im Boden gespeichert werden. »Hier gibt es mehr Leben als im Regenwald«, sagt Frands, als wir mit großen Stiefelschritten von Büschel zu Büschel hüpfen. Ein Quadratmeter Feuchtgebiet enthält über vier Kilo Biomasse. Hier leben Schnecken, Muscheln, Garnelen, Krebse und Krabben. Die Feuchtgebiete in Strandnähe sind reich an Kräutern.
»In Dänemark hat man kein »Allemansrätt« wie in Schweden. Laut Gesetz darf man seinen Hut aber mit allem füllen, was man pflücken kann.« Südwestlich der Nordsee erstreckt sich der Nationalpark Wattenmeer. Dank der Überlebensfähigkeit von invasiven Muscheln sind heute Millionen im Gezeitenschlamm eingebettet. Nun ziehen Linda und ich wieder die Gummistiefel an, denn wir werden unsere eigenen Austern pflücken. »Eine Führung lohnt sich, denn die Flut kann einen schnell überraschen«, sagt Frands.
Die extremen Bedingungen mit kaltem Wasser verleihen ihnen eine Intensität, die man südlicher nicht bekommt
Das erleben wir, als wir etwas verspätet zur geguideten Tour kommen. Die Gruppe hat sich bereits auf den Weg zu den Austernbänken gemacht. »Kein Problem«, denken wir, und laufen auf sie zu. Doch die Stiefel versinken im nassen Sand. Beide fallen wir in den schwarzen Lehm und als wir die Gruppe erreichen, sind wir nass und schmutzig. Noch ein paar hundert Meter weiter wandern wir ins knöchelhohe Wasser. Hier wird der Boden fester. Ein Messer wird herumgereicht, die Austern aufgeklappt und direkt aus dem Meer gegessen. Eine Zitrone und eine Flasche Tabasco tauchen auf, jemand hat sogar eine Flasche Weißwein dabei. Bis zu den Knöcheln stehen wir hier im sprudelndem Wasser, schlürfen Austern und tun der Umwelt etwas Gutes. Kann es besser werden?