Retter des Planeten?
Island steht ganz an der Spitze, wenn es um die Umstellung auf erneuerbare Energien geht. NORR hat dort Science-Fiction-Iglus und Gewächshäuser mit üppig wuchernden Pflanzenwelten besucht.
Es spuckt und zischt, es stinkt und raucht. Erstarrte Lava breitet sich aus wie schwarze Borke, Kilometer um Kilometer. In den kochenden Quellen brodelt es, und hier und da erhebt sich eine Säule aus heißem Wasser. Beim Anblick der urzeitlichen Landschaften Islands denkt man an die Ewigkeit. Und zugleich sind in dem kleinen Inselreich im nördlichen Eismeer die Veränderungen des Klimas besonders deutlich wahrnehmbar. Die Gletscher schmelzen in raschem Tempo. Zur
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Zeit bedeckt das Gletschereis noch etwa ein Zehntel der Fläche Islands, aber nach Meinung von Experten besteht die Gefahr, dass es bis zum Jahr 2200 völlig verschwunden sein wird. Der Sólheimajökull, der nahe an der berühmten Ringstraße rund um Island liegt, ist schon dramatisch geschrumpft, und dort, wo dieser Gletscher früher bis an den Küstenstreifen herunterreichte, hat sich jetzt ein großer, tiefer See aus Schmelzwasser gebildet.
Die Anlage sieht aus, als wäre sie einem Star- Wars-Film entsprungen.
Es gibt aber auf Island zahlreiche Initiativen, die dazu beitragen sollen, den sich beschleunigenden Klimawandel abzubremsen. Das Land strebt CO2-Neutralität bis zum Jahr 2040 an, und dafür setzt man in vielerlei Hinsicht auf Islands einzigartigen Zugang zu erneuerbaren Energieressourcen. Zwei Drittel des Stroms für die knapp 400 000 Inselbewohner werden durch Wasserkraft erzeugt und ein Drittel durch Geothermie, also Energie, die über Dampfkraftwerke, Wärmepumpen oder direkte Wärmeübertragung aus der Erdwärme gewonnen wird. Das Warmwasser, das in Reykjavík aus den Leitungen fließt, kommt zum großen Teil ohne Umwege aus den sprudelnden heißen Quellen. Dieser Überfluss an natürlicher Energie ist die ideale Voraussetzung für die weltweit diskutierten Techniken zur Bewältigung der Klimakrise, die auf Island schon erfolgreich angewendet werden.
Staubsauger für Kohlendioxid
Der Anteil von CO2 in der Atmosphäre hat den höchsten Stand seit 800 000 Jahren erreicht, und in gut 30 Jahren soll Europa klimaneutral sein. Ein Lösungsansatz ist, das CO2 in den Boden zu verpressen. Die Firma Carbfix sammelt seit 2021 Kohlendioxid aus der Atmosphäre in der weltweit ersten Anlage für Direct Air Capture (DAC) in der steinigen Wüste nahe Reykjavíks. Sie heißt Orca und sieht aus, als wäre sie einem Star-Wars-Film entsprungen. Die blechernen Iglus ähneln großen Kohlendioxid- Staubsaugern und sind über die unwirtliche Landschaft verteilt. Mit einem Ventilator wird durch einen Filter, der die CO2 -Partikel auffängt, Luft in das Iglu gesaugt. Ist er gefüllt, wird die Temperatur bis zum Wasser-Siedepunkt erhöht, damit der Filter das CO2 freisetzt.
Im Inneren des Iglus kommt man sich vor wie in einem gigantischen Wassersprudler. Luftblasen schwimmen in der Röhre, bis das CO2 am Ende tief in den porösen Untergrund aus vulkanischem Felsen geschossen wird – wo es sich in Gestein verwandelt. Die Anlage könnte jährlich 4000 Tonnen CO2 aus der Atmosphäre eliminieren. Doch es gibt Kritik an der Technologie. Sie benötigt enorme Mengen Süßwasser. Auch gibt es Bedenken, dass Island zu einer Müllhalde für Kohlendioxid aus anderen Ländern werden könnte.
Erdwärme für Supertomaten
Nach einer Stunde Fahrt landeinwärts wird es erheblich bunter und üppiger. Die Landschaft ist nicht mehr grau und schwarz, sondern frühlingsgrün. Im Gewächshaus von Friðheimar sticht der Tomatenduft geradezu in die Nase. Die roten Früchte hängen schwer von Dach und Wänden. Man züchtet sie hier ganzjährig unter künstlicher Beleuchtung aus grüner Energie, die eine nachhaltige Tomatenproduktion trotz des langen und dunklen isländischen Winters ermöglicht.
Der Hof hat umfangreichen Zugriff auf 95 Grad heißes Geothermalwasser, mit dem die Gewächshäuser beheizt werden. Friðheimar produziert zwei Tonnen Tomaten pro Jahr, die in ganz Island ausgeliefert werden. Auch viele Touristen besuchen die Farm. Aus Tomaten, die nicht ganz makellos aussehen oder bei der Ernte noch nicht reif genug sind, wird ein tomatenbasiertes Menü komponiert, das die Besucher im größten der Gewächshäuser bestellen können. Tomatensuppe, Tomateneis, Bloody Mary und Tomatenöl sind einige der Köstlichkeiten, die im Treibhausrestaurant auf der Karte stehen.
Was wie anspruchsloses Getreide aussieht, ist eine fortschrittliche Pflanze.
Knútur und Helena Friðheimar kauften das erste Gewächshaus vor knapp 30 Jahren. Inzwischen haben sie mehrere große Treibhäuser und 60 fest angestellte Mitarbeiter. 2017 erhielt Friðheimar das Vakinn-Zertifikat, eine offizielle Auszeichnung, die Qualität, Sicherheit und Umweltbewusstsein im Islandtourismus stärkt und die soziale Verantwortung der touristischen Dienstleister fördert.
Wachstum für Kulturfleisch
Genau wie Carbfix und Friðheimar setzt auch die Firma ORF Genetics auf geothermische Energie. Das Biotechnologieunternehmen liegt auf einem Lavafeld der Halbinsel Reykjanes, wo Vulkanausbrüche im letzten Herbst Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Hier experimentiert man mit Samen von biotechnisch modifizierter Gerste, die zur Herstellung von Kulturfleisch dienen soll, das nach aktuellen Berechnungen im Jahr 2040 etwa 35 Prozent des globalen Fleischkonsums abdecken könnte.
In dem 2 000 m2 großen Gewächshaus breiten sich die Gerstenhalme in scheinbar endlosen Reihen aus. Die Luft ist feucht und riecht nach Stroh. Aber was wie ein anspruchsloses Getreide aussieht, ist tatsächlich eine ebenso fortschrittliche wie wertvolle Anbaupflanze. In mehreren Studien wurde nachgewiesen, dass die Erzeugung von schlachtfreiem Fleisch die beträchtlichen Umweltschäden vermindern kann, die durch herkömmliche Fleischproduktion entstehen.
Es ist bereits gelungen, vom Trockenfisch bis zum Rindfleisch alles Mögliche im Labor herzustellen. Größtes Hindernis für die Marktfähigkeit dieser Produkte sind aber die fehlenden preiswerten Proteine, die das Wachstum von Gewebe, Muskel- und Fettzellen stimulieren. Das Protein in den Gerstensamen könnte, geerntet, vermahlen und gereinigt, kostengünstig zur Herstellung von Wachstumsfaktoren verwendet werden. »Wir benutzen Gerste als Wirt für die Produktiondieser Proteine«, erklärt Gunnar Helgi Steindórsson, Projektleiter bei ORF Genetics. Nährboden ist keine Muttererde sondern vulkanischer Bimsstein, was die gleichzeitige Versorgung von bis zu 130 000 Pflanzen ermöglicht. Im November wurde das Gewächshaus durch die Erdbeben, die dem Vulkanausbruch vorausgingen, schwer beschädigt, aber der Wiederaufbau ist im Gang. Ende des Jahres soll die Anlage an anderer Stelle wieder aufgebaut sein. Gunnar blickt hoffnungsvoll in die Zukunft: »Irgendwann werden wir Menschen unseren Fleischbedarf zu 100 Prozent aus Kulturfleisch decken können. Die Zukunft wird zeigen, ab wann das möglich ist.«