Scheren und Schären
Der Sommer ist fast vorbei als die NORR-Redaktion auf ein Boot in den Stockholmer Schärengarten steigt. um auf der Insel Tynningö ihr ganz eigenes Krebsfest zu feiern. Ein fröhlicher Ausflug in die schwedische Festkultur.
Vor dreizehn Jahren stand ich das erste Mal an Deck eines Vaxholmsbootes (dt. Waxholmsboot = Stockholmer Schärenschiff). Auch da war es ein sonniger Spätsommertag und in der Luft lag schon ein bisschen Herbst, als wir vom Kai am Grand Hotel Richtung Schärengarten fuhren. Ich weiss nicht, wie oft ich die Tour seitdem gemacht habe, aber das Gefühl ist bis heute das gleiche: Was für ein Luxus, mitten in der Stadt auf ein Schiff zu steigen, das einen hinausbringt in die so unfassbar schöne Inselwelt. Diese wachsende Freiheit, wenn am Ufer die Konturen Stockholms verschwinden und ersetzt werden durch schwedisch-rote Häuser zwischen Kiefernwäldchen und Felsen.
Man muss Traditionen zu seinen eigenen machen, denke ich beim Einschlafen.
Und wieder bin ich auf dem Weg zu einer Kräftskiva, jener landestypischen Tradition, die immer genau in dieser Zeit des Jahres in Schwedens Sommerhäusern gefeiert wird. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung, was mich erwartet; dass ein Kräft ein Krebs ist und eine Skiva eine (Tisch-)Platte, dass ich ziemlich viel Schnaps trinken, lustige Spiele spielen und im Bart noch tagelang nach Schalentier duften werde. Heute weiss ich es natürlich viel besser. In der Theorie sogar noch besser als meine schwedischen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich dieses Mal unterwegs bin. Und die sich bis zur Ankunft auf der Insel Tynningö meine historischen Ausführungen zu ihrer eigenen Esskultur anhören dürfen.
Das Interessanteste ist ja, dass Krebse in Schweden ausgerechnet in einer Zeit populär wurden, als es sie dort fast gar nicht mehr gab. Denn die Kräftpest hatte Anfang des letzten Jahrhunderts grosse Teile der Flusskrebspopulationen im ganzen Land zerstört. Krebse wurden zur raren Delikatesse und wo es sie noch gab, zelebrierte man den Fang und den Verzehr als Ereignis. Im Jahr 1922 waren Krebse so hipp, dass man sie gar als symbolisches Mittel im Kampf gegen das drohende Alkoholverbot einsetzte. Ein politisches Plakat aus der Zeit zeigt einen Krebs neben einem Schnapsglas und dem Text ›Nej! Kräftor Kräver Dessa Drycker!‹ (dt. ›Nein! Zu Krebsen gehören diese Getränke!‹).
Ich vergewissere mich kurz, ob ich auch nicht die Getränkebox beim Drängeln an Bord vergessen habe. Aber da steht sie. Also weiter: Zunächst war es vor allem die Oberklasse, die in ihren Sommerresidenzen zu Krebsfesten einluden. Aber dann, in den 60ern, fand sozusagen die Demokratisierung der Kräftskiva statt. Jemand war auf die kluge Idee gekommen, die schmackhaften Schalentiere einfach aus anderen Ländern einzuführen, vor allem aus China, Spanien und der Türkei. Ein echter Hit! Plötzlich wurden Krebsfeste in allen Kreisen der Gesellschaft populär. Seitdem erweitern die Supermärkte jedes Jahr im August ihr Sortiment mit Krebspapptellern, Krebsservietten, Krebshüten, Krebslaternen, Krebsschlabberlätzchen und eben Krebsen, plastikverpackt in Salzlösung. Mehr als 2 500 Tonnen der Volksdelikatesse werden heute jährlich nach Schweden importiert. Wir erreichen Tynningö. Am schmucklosen Betonanleger wartet ein kleiner Bus, der pünktlich zu den An- und Abfahrtzeiten der Fähre die schmale Inselstrasse abklappert und der uns die letzten Meter ans Ziel bringt.
Krebsfischen als Ritual
Das Sommerhaus unserer Art-Direktorin Susan liegt malerisch an einem kleinen Binnensee. Wir stellen das Gepäck ab, setzen uns auf den Steg und trinken einen Kaffee in der Sonne. »Eigentlich fangen wir die Krebse selbst hier im See,« erzählt Susan und zeigt auf die Reusen, die an der Aussenwand des Tischlerschuppens hängen. Aber in diesem Jahr hatten wir wenig Glück. Am ersten Mittwoch im August beginnt offiziell die Fangsaison und dauert bis Mitte September. Dann paddelt man in der Abenddämmerung hinaus und lässt die Fallen mit Fischködern auf den Grund hinab. Natürlich an einer Boje befestigt, damit man sie am frühen Morgen wieder hinaufziehen kann. Die Krebse dürfen dann noch einen Tag in einem Wasserbottich verbringen, wo sie bitteschön ihre Därme leeren sollen. Danach geht es ab in den Kochtopf und von diesem direkt hinein in die Salzlösung. Schliesslich das grosse Finale auf dem Silbertablett, dekoriert mit Dill, zwischen schnapstrinkenden Schweden mit lustigen Hüten. Aber davon bekommt man als Krebs ja leider (oder zum Glück) nicht mehr viel mit.
Wer Krebse selbst fischen will, braucht entweder eine professionelle Lizenz oder ein eigenes Gewässer. Doch mit dem Fangglück ist es so eine Sache. Der einheimische Flusskrebs ist inzwischen fast ausgestorben. Vor allem auch durch die Aussiedlung des nordamerikanischen Signalkrebses in nordischen Gewässern, der sich als Verbreiter neuer Krebspestarten erwiesen hat. Er ist resistenter gegen die Krankheit als sein europäischer Artgenosse, reagiert durch sie aber sensibler auf Umwelteinflüsse, zum Beispiel wärmeres Wasser, sodass seine Bestände heftig schwanken können. Und dann gibt es da noch den Nerz, eine nordamerikanische Marderart, die hier ebenfalls unvorsichtigerweise irgendwann mal ausgewildert wurde und die Krebse ganz oben auf ihrer Speisekarte hat.
Das Interessanteste ist ja, dass Krebse in Schweden ausgerechnet in einer Zeit populär wurden, als es sie dort fast gar nicht mehr gab.
Dreikampf für Körper und Geist
Im Prinzip funktioniert Kräftskiva wie die anderen grossen schwedischen Traditionen auch. Am wohlsten – und sichersten – fühlt man sich hier in einer Gesellschaft, die an einen Tisch passt und die man irgendwie kennt. Wichtige Elemente der Sozialisierung sind das Singen von Snapsvisor (dt. Schnapsliedern), die Austragung lustiger Wettkämpfe wie Sackhüpfen, Eierlauf oder Seilziehen und der Tanz um irgendwas herum. Hier sind wir als NORR-Team natürlich etwas flexibler und haben uns für den Nachmittag unser eigenes Programm ausgedacht: Erstens gibt es einen Job zu erledigen. Wir haben Susan und ihrem Mitbewohner Ville versprochen, die neue Badetonne vom Parkplatz in den Garten zu bringen, diese aufzubauen und mit Wasser aus dem See zu füllen. Eine Herausforderung für Körper und Geist. Zweitens liegen die Kartoffeln, die wir als Beilage zu unseren Krebsen vorgesehen haben, noch tief unter der Erde in Susans Trädgårdsland (dt. Gartenland, sprich Beet). Die müssen ausgegraben und ordentlich sauber gemacht werden. Und drittens wollen wir natürlich sowohl die Badetonne als auch die neu gebaute Sauna testen, nicht ohne zumindest einmal in den bereits recht herbstlichen See zu springen.
Nach diesem Dreikampf bereiten wir in der winzigen Küche gemeinsam das Essen vor und decken den Tisch auf der wunderschönen, von Efeu umwucherten Glasveranda. Bald darauf leuchtet im Kerzenlicht ein Berg kunstvoll arrangierter schwedischer Signalkrebse aus kontrollierter Zucht. Je später der Abend, desto kleiner wird er. Wir trinken Folk Öl (dt. Volkbier = 3,5-prozentiges Leichtbier), Wasser und Schnäpse, philosophieren über NORR und das Leben. Und wie immer, wenn ich in solchen Situationen nach einem deutschen Snapsvisa gefragt werde, versuche ich die Gesellschaft zu einem mehrstimmigen Ein Prosit zu bewegen. Irgendwann klettern wir die Leiter hinauf zum Matratzenlager auf dem Dachboden und kriechen in unsere Schlafsäcke. Man muss Traditionen zu seinen eigenen machen, denke ich beim Einschlafen. Und das scheinen wir bei NORR ganz besonders gut zu können.