Mal langsam machen
Bei Nordfinnland denken viele an Huskyschlittentouren und die Jagd auf Polarlichter. Doch lässt man die Bucket List daheim und reist im Sommer, öffnen sich ungeahnte Türen. Ein Besuch bei den Locals in Ruka-Kuusamo.
Glitzernde Stromschnellen, dramatische Schluchten und raue Wälder – die Wildnis des finnischen Nordens ist in das sanfte Licht der nicht untergehenden Sonne getaucht. Es ist Ende Juni und gemein- sam mit Freundin und Fotografin Rania bin ich nach Ruka-Kuusamo gereist, das nur wenige Kilometer vor der Grenze zu Lappland liegt, auf der Karte also ganz streng genommen offiziell nicht dazu gehört. Als Skigebiet, für Nordlichterbeobachtungen und Huskyschlittentouren besonders populär, könnte man die Region im Winter für finnische Verhältnisse durchaus als Touristenhochburg bezeichnen.
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In den Sommermonaten aber öffnet sich hier das Tor zu einer anderen Welt. Viele Touristen halten sich dann lieber in den südlich gelegenen Seengebieten auf. Vielleicht auch, weil es hier keine unbedingt abzuhakenden Bucket- List-Erlebnisse oder gehypte Instagram Spots gibt. Genau deshalb sind wir hier: um ohne Zeitdruck und straffes Programm einfach nur unterwegs zu sein, Locals kennenzulernen und uns einzulassen auf das, was uns begegnet.
Langsam und Nachhaltig
Diese Art des Reisens hat längst einen Namen: Slow Travel. Hierbei geht es darum, abseits der Massen bewusst langsam unterwegs zu sein. Das Konzept ist nicht neu, hat aber in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, als die Pandemie zwangsläufig das Leben in vielen Aspekten ausbremste. Man begann, sich auf das wirklich Wichtige zu besinnen. »Slow Travel fördert auch einen verantwortungsbewussten Tourismus, da Reisende in der Regel stärker auf ihren ökologischen Fußabdruck und das soziale Umfeld der von ihnen besuchten Orte achten«, sagt Anna-Riitta Sulander, die wir in Kuusamo treffen. Sie ist als Projektmanagerin bei Naturpolis tätig, einem Unternehmen, das sich um die lokale Entwicklung der Region kümmert.
»Ruka-Kuusamo hat sich dazu verpflichtet, die Umwelt mit ihrer Artenvielfalt zu schützen. Auch wenn die Natur hier für viele als Lebensgrundlage gilt – ihr Erhalt hat immer Priorität«, sagt Anna-Riitta. »Es ist wichtig, unsere Kapazitäten nicht zu überschreiten, um die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung zu wahren.«
Auch wenn die Natur als Lebensgrundlage gilt – ihr Erhalt hat Priorität.
Dieser Auffassung ist auch Anne Murto, die ihren Lebensmittelpunkt nach vielen Jahren in der finnischen Hauptstadt nach Ruka- Kuusamo verlegt hat und hier in einem Blockhaus mitten im Wald wohnt. Als Gastgeberin der Jussi’s Chalets bietet sie Rania und mir an, ihre Heimat mit ihren Augen zu entdecken.
Als Anne Ende der 1980er Jahre, damals Mitte 20, in Helsinki ein PR-Unternehmen gründete, interessierte sie vor allem das pulsierende Leben der Metropole. Damals war sie überzeugt davon, dass es über Helsinkis Stadtgrenzen hinaus nicht mehr viel in ihrem Heimatland zu entdecken gäbe. Das änderte sich, als sie die PR-Arbeit für ein Hotel in Kuusamo übernahm. »Die Schönheit der Gegend hat mich tief berührt. Heute könnte man mich wohl als moderne Waldelfe bezeichnen«, sagt sie, während sie mit uns barfuß durch den Sumpf marschiert und uns mit kindlicher Begeisterung die Blüten der Moltebeeren zeigt, die wie Schneeflocken in dem Grün verstreut liegen. Wir sammeln wilden Rosmarin und Wacholder, um unser Abendessen damit zu würzen.
Heute könnte man mich wohl als moderne Waldelfe bezeichnen.
Seit sie hier im Wald lebt, glaubt Anne auch daran, dass starke Heilkräfte von der Natur ausgehen. »Volksheilkunde hat in Finnland eine lange Tradition. Sie wird von Familie zu Familie weitergegeben, mit der Überzeugung, dass Pflanzen und Kräuter eine große positive Wirkung auf den menschlichen Organismus haben«, erzählt Anne, als sie uns heißen Tee aus getrockneten Birkenblätter einschenkt.
Seit 2017 organisiert sie gemeinsam mit dem finnischen Naturheiler Heikki Aalto jeden Sommer das Folk Healing Gathering, bei dem sich Menschen aus aller Welt in Kuusamo versammeln, um an Workshops und Wanderungen teilzunehmen. Auch bietet Anne mit ihrem Wild Women’s Canoeing Event Frauen die Möglichkeit, die Wildnis vor ihrer Haustür auf achtsame Weise paddelnd zu entdecken und dabei auf eine Reise zu sich selbst zu gehen.
Mit Sami-Trommeln, die aus Birkenholz und Rentierleder gefertigt und mit Zeichnungen und Symbolen verziert sind, zeigt Anne uns, wie man die Waldgeister rufen kann. Wir stimmen ein und trommeln etwas verunsichert mit. »Spürt ihr schon was?«, fragt sie. Als ein kleines Rentier am See vorbeispaziert, sagt Anne nur »Ach ja, das ist Osmo.« Man kennt sich in der Gegend.
Saunieren bei Freunden
Später machen wir uns auf den Weg in den Oulanka-Nationalpark, der nur einen kurzen Fußmarsch von Annes Haus entfernt liegt. Entlang verschnörkelter Pfade und Hängebrücken, die über die rauschenden Myllykoski- Stromschnellen führen, erreichen wir die Myllykoski-Sauna. Als Oulanka 1956 zum Nationalpark umgewandelt wurde, haben die Eigentümer der Ländereien alles in staatliche Hände gegeben, aber den winzigen Fleck, auf dem die nicht für die Öffentlichkeit zugängliche Sauna steht, behalten. Doch genau wie Anne jedes Rentier kennt, so ist sie auch mit den Besitzern befreundet. So kommen Rania und ich unerwartet in den Genuss eines Saunagangs. Als wir uns im Fluss abkühlen wollen, bindet Anne uns mit einem Seil fest, damit die Strömung uns nicht mitnimmt. »Sonst landet ihr nachher in Russland«, sagt sie.
Finnische Prioritäten
Eine nächtliche Wanderung ohne festen Weg oder Ziel führt uns am Fluss entlang, über Felsen und durch tiefe Wälder. Um ein Uhr morgens entzünden wir ein Feuer und grillen einen frisch gefangenen Hecht aus dem Nachbarsee, der mit dem von uns gepflückten Wacholder und Rosmarin garniert wird.
Wir konnten auf diesem Trip weder den Besuch Lapplands noch Nordlichter von unserer Bucket Lists streichen. Doch mit Blick auf den zarten Nebel, der sich über das Wasser legt, wissen wir, warum wir hier sind. Wir genießen den Moment voller Achtsamkeit – und nehmen sie in uns auf, die Wildnis des finnischen Nordens, die in das Licht der nicht untergehenden Sonne getaucht ist.
Kathrins Packlistentipps
• Auch wenn es im Sommer im Norden Finnlands nicht dunkel wird, wird es trotzdem kühl. Selbst im Hochsommer ist man mit einer leichten Daunenjacke und einer Mütze gut bedient.
• Zuverlässigen Mückenschutz sollte man am besten vor Ort besorgen, denn den gibt es hier in jedem Supermarkt und jeder Apotheke. Öl mit Fichtenharz hilft sowohl zur Vorbeugung gegen die Stiche als auch zur Linderung des Juckreizes, wenn die lästigen Biester bereits zugestochen haben.
• Ist man lichtempfindlich, sollte eine Schlafmaske mit ins Gepäck.