Sein oder nicht sein
Von den 30 schwedischen Nationalparks ist Kosterhavet der einzig maritime. Das soll sich mit dem Nämdo-Archipel ändern. Doch die Geburt eines neuen Nationalparks ist alles andere als einfach.
Das Ausflugsboot lässt uns und ein paar weitere Gäste raus, am äußersten Ende des Stockholmer Schärengartens, auf Bullerö. Das Meer ist ruhig und der Himmel strahlend blau. Ein Paddler mit Sonnenhut gleitet auf seinem mit Taschen und Provianttüten beladenen Stand-Up-Paddle-Board um die Landzunge. In der Bucht liegt ein einsames Segelboot. Wir folgen der geteerten Brücke in Richtung des kleinen Dorfes, das zwischen klumpigen Felsen liegt.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Die Naturwächterin Ann-Sofi Andersson begrüßt uns vor ihrem Amtssitz, wo die Schwalben unter der Regenrinne ein Nest gebaut haben. Sie erzählt uns von der bevorstehenden Nationalparkgründung und der Tierwelt auf der Insel. Bullerö soll als »Eingangsinsel« in den neuen Nationalpark fungieren. Vier bestehende Schutzgebiete sollen in das Untersuchungsgebiet mit einbezogen werden, doch die Grenzen sind noch lange nicht klar. Das Areal umfasst große Meeresflächen, das Naturschutzgebiet Bullerö mit seinen 900 Inseln und weiten Seegebieten, Långviksskärs unberührte äußere Schärenlandschaft, in der Pflanzen und Vögel ohne Einfluss des Menschen gedeihen, Långskärs Klippen mit ihrer charakteristischen Vogelwelt sowie den Großteil der unbewohnten Insel Biskopsö mit ihren kahlen Felsen, dem Wald und einer reichen Population an Damwild und Kegelrobben. Große Teile sind bereits heute Natura-2000-Gebiete.
»Derzeit finden Bestandsaufnahmen und Untersuchungen der Pflanzen- und Tierwelt statt, die die Grundlage für etwaige geänderte Einschränkungen in dem Gebiet sein werden«, erklärt Ann-Sofi. »Es soll ein optimales Gleichgewicht zwischen der Nutzung der Natur für Besucher und ihrem Schutz und Erhalt geben.« Parallel erfolgt eine Überprüfung der bestehen- den Regelungen, die es in den Naturschutzgebieten bereits gibt.
Insel der Künstler
Wir gehen zum Zeltplatz auf der Wiese, den wir uns heute Nacht mit den Schafen teilen werden. Die Sonne brennt und bringt uns ins Schwitzen, als wir unsere Zelte aufschlagen. Es ist ohrenbetäubend ruhig und fühlt sich an, als hätten wir die Insel für uns allein. Wir folgen dem Lehrpfad von der Wiese auf die Klippe. Es geht durch Blaubeersträucher, über moosige Felsen und durch kurzwüchsigen Birkenwald.
Es ist ohrenbetäubend ruhig und fühlt sich an, als hätten wir die Insel für uns allein.
Ann-Sofi erzählt, dass Mitte des 19. Jahrhunderts noch größtenteils Fischer und Bauern auf dem Eiland wohnten, deren Leben von harter Arbeit geprägt war. Die Häuser in dem Inseldorf stammen noch aus genau dieser Zeit und stellen eine eigene Sehenswürdigkeit dar.
Im Jahr 1908 kaufte dann der schwedische Maler Bruno Liljefors, der für seine realistischen Natur- und Tiergemälde bekannt ist, Bullerö und die 300 umliegenden Inseln. Wir passieren den Teich, den er anlegen ließ, um Seevögel in ihrem natürlichen Lebensraum zu skizzieren. In seiner ehemaligen Jagdhütte, die heute ein Museum ist, fanden Anfang des 20. Jahrhunderts feuchtfröhliche Partys des Künstlerkollektivs Bullerölaget statt, das dem Schärengarten einen stetig wachsenden Bekanntheitsgrad einhandelte. Zu der Künstlerkohorte gehörten auch der Maler und Bildhauer Anders Zorn, Autor Albert Engström und Ornithologe Gustaf Kolthoff. Wir blicken in das Jagdschloss, in dem sie in Weinlaune Schnapslieder an die Decke illustrierten.
Niemand weiß wirklich, wie es sein wird, wenn ein Nationalpark entsteht.
Weiter geht es, vorbei an der Mejtviken, der Bucht, in der Anders Zorn mit seinem Boot Mejt vor Anker gegangen sein soll, um noch rechtzeitig zu einer der legendären Partys zu gelangen. Die Tour führt uns entlang des Kulturpfads, parallel zum Meer. Wir gelangen auf kahle Felsen und tasten uns langsam im Zickzack zwischen niedrigem Wacholder und nach Honig duftendem Heidekraut vorwärts. Hier gibt es keine präparierten Wege, aber weiße Punkte, die auf den Felsen gemalt sind. »Es fühlt sich fast an, als wären wir in den Bergen«, sagt Fotografin Linda. Der offene Horizont linst im Sonnenschein hervor und wir passieren den berühmten Felsen, an dem Liljefors sein Atelier hatte.
1923 wurde der Maler müde von der Feierei und verkaufte die Insel an den Zeitungsverleger und Bankier Torsten Kreuger. Dieser ließ hier für die Sängerin Zarah Leander einen Strand anlegen, für den er tonnenweise Sand von der Insel Sandhamn kommen ließ. An Zarahs Strand erschrecken wir nun verse- hentlich ein paar Wasseramseln, als wir zur Abkühlung ein Bad im Meer nehmen.
Schwedens neue Nationalpark?
1967 verkaufte Kreuger die Insel an den Staat mit der Auflage, das gesamte Gebiet in ein Naturschutzgebiet umzuwandeln und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die kahlen Felsen am äußeren Ende des Meeresgürtels und die grüneren Inseln des mittleren Schärengartens östlich von Nämdö sollen nun also Schwedens nächster Meeresnationalpark werden. Die Eröffnung ist für 2025 geplant, aber bis dahin gibt es noch viel zu tun und viele Gremien, Organisationen und Akteure, die sich Gehör verschaffen wollen. Die Entstehung eines Nationalparks ist ein langer und komplizierter Prozess.
Kosterhavet an der Westküste ist Schwedens erster Meeresnationalpark, der 2009 eingerichtet wurde. Zuvor war geplant, die gesamten Stockholmer Schären zum Weltkulturerbe erklären zu lassen. Die Whole-Archipelago-Initiative setzte sich dafür ein, auch da die Einstufung des Archipels als besonders schützenswert eine größere Chance zum Vorgehen gegen umweltschädliche Aktivitäten bedeuten würde. Doch um die Welterbepläne war es in letzter Zeit ruhig. Vielleicht war die Mission zu kompliziert bei den vielen Mikrogemeinden, die die Stockholmer Schären ohnehin sind. Der Vorschlag, im Nämdöskärgården einen Nationalpark zu gründen, wird seit vielen Jahren immer wieder unterstützt und diskutiert. Er ist also nicht neu, erhielt aber im Jahr 2020 Aufwind, als die Regierung und der Reichstag grünes Licht für die Initiative gaben und die Umweltschutzbehörde mit der Schaffung weiterer Nationalparks in Schweden beauftragten.
Dass die Wahl auf den Nämdö-Archipel fiel, liegt unter anderem daran, dass es sich um
ein relativ unerschlossenes Gebiet handelt und er einen repräsentativen Ausschnitt des Brackwasser-Archipels der Ostssee bildet – mit großem biologischen Wert sowohl an Land als auch unter der Meeresoberfläche sowie kulturellen Werten, mit der gut erhaltenen, echten Schärensiedlung.
Kritik aus der Bevölkerung
Die Schärenbewohner auf Nämdö und den umliegenden Inseln aber fühlen sich von den Planungsaktivitäten bisher sowohl übersehen als auch ausgeschlossen. Von einigen Seiten ist scharfe Kritik am Nationalparkprojekt zu hören. Auch der St. Anna-Archipel war dabei, ein Nationalpark zu werden, aber dort wurden die Pläne auf Eis gelegt, weil die Bevölkerung dies nicht wollte. Der gemeinnützige Verein Nämdö Green Archipelago (NGA) möchte den Einwohnern von Nämdö in diesem Prozess Gehör verschaffen und die Interessen derer schützen, die in der Nähe des neuen Parks leben und arbeiten. NGA arbeitet für einen nachhaltigen und lebendigen Archipel und führt eine Machbarkeitsstudie durch, um die Möglichkeit der Gründung eines UNSECO- Biosphärenreservats abzuwägen, die auch der World Wide Fund for Nature (WWF) unter- stützt. »Das Biosphärengebiet ist ein Mittel, um das Ziel eines lebensfähigen Schärengartens zu erreichen, auf dem es auch Wohnungen, Schulen und Arbeitsplätze geben darf«, sagt Ann Aldeheim, Projektkoordinatorinbei Nämdö Green Archipelago.
Vorläufige Kompromisse
Ein Biosphärenreservat ist ein ausgewähltes Gebiet, in dem eine nachhaltige Entwicklung für Natur, Tiere, Mensch und Umwelt im Mittelpunkt steht. Hier geht es darum, innovativ zu sein, flexibel zu denken und zirkulär zu arbeiten. Das Biosphärengebiet wird wahrscheinlich ein größeres geografisches Gebiet umfassen, als der geplante Nationalpark.
Von einigen Seiten ist scharfe Kritik am Nationalparkprojekt zu hören.
Darüber hinaus laufen mehrere Naturschutzprojekte mit Fokus auf die biologische Vielfalt der Gebiete, die ebenfalls vom World Wide Fund for Nature finanziert werden. Gleichzeitig wurde untersucht, inwiefern sich die Gründung eines Nationalparks positiv auf Einwohner und Unternehmen auswirken kann. Der Bericht hebt unter anderem hervor, dass auf Nämdö ein Zentrum gebaut werden könnte, um vielen verschiedenen Gruppen das ganze Jahr über Wissen über das Leben unter der Oberfläche zugänglich zu machen.
Aus dem sonnigen Tag auf Bullerö ist ein nebliger und windiger Abend geworden. Nach unserem Abendessen am Kamin machen wir einen Ausflug nach Norden zu den hohen Klippen von Drommen. Ein Laubwald umgibt uns bis Sjömärket, wo Kiefern die Oberhand gewinnen. Ganz im Norden erheben sich die Felsen hoch über dem Wasser. Eher hören wir das Meer, als dass wir es sehen.
Auf einen Nenner kommen
Der Sonnenuntergang bleibt im Dunst verborgen und wir gehen zurück zum Zelt, um in feuchte Schlafsäcke zu kriechen. Die Gedanken über das Sein oder Nichtsein des Nationalparks schleichen sich ein. Die Meinungen gehen auseinander und es ist schwierig, alle Bedürfnisse zu befriedigen. Manche Anwohner und die meisten Händler stehen dem Nationalpark positiv gegenüber, andere wollen ihn gar nicht.
Die Gedanken über das Sein oder Nichtsein des Nationalparks schleichen sich ein.
Die Besucher, die wir in Bullerö getroffen haben, scheinen nicht einmal zu wissen, dass das Projekt noch läuft. Es gibt auch Angst und Unsicherheit im Hinblick darauf, was ein Nationalpark mit sich bringen könnte. Wird der Archipel noch mehr interessierte Touristen aufnehmen können? Wird die Abnutzung der Natur das zerstören, was man hier erleben möchte? Die Ruhe, die Stille und die weiten Horizonte.
Das Gefühl, allein in der Natur zu sein, wird von den Gästen heute sehr geschätzt. Wird der Nationalpark ihnen oder denen, die hier leben, Einschränkungen auferlegen? Fragen gibt es viele. Antworten wenige. Niemand weiß wirklich, wie es sein wird, wenn ein Nationalpark entsteht. Eines ist sicher: Es müsste eine Bereitschaft vorhanden sein, mehr Besucher zu empfangen, aber auch, diese auf unterschiedliche Jahreszeiten zu verteilen, damit kein ungewollter Hochdruck entsteht, der wiederum zu Lasten der Natur geht.
Als der Tag anbricht, ist die Sonne nach Bullerö zurückgekehrt. Wir frühstücken an einer Rasthütte, die für alle geöffnet ist. Einige österreichische Paddler ziehen ihre Kajaks an Land, um Trinkwasser aufzufüllen und nehmen ein morgendliches Bad am Steg. Wir fahren mit dem Boot nach Idöborg, nördlich von Nämdö, um den zukünftigen Nationalpark von einer anderen Insel zu erleben.
Zu uns gesellt sich Jonas Hållén, der hier Kajaks vermietet und geführte Paddeltouren anbietet. Wir paddeln zwischen winzigen steinigen Inseln und Schären hinaus und gleiten lautlos nach Rågskär. Ein Seeadler segelt hoch über unseren Köpfen und das Einzige, was zu hören ist, ist das Geräusch der Paddel, die das Wasser spalten. Hier spürt man den Wert der Natur unter und über der Oberfläche gleichermaßen.
Pro und Kontra
Im vergangenen Jahr wurden in Zusammenarbeit mit Sveriges geologiska undersökning (dt. Schwedens geologischer Dienst) umfangreiche Meeresuntersuchungen und Bestandsaufnahmen unter der Wasseroberfläche durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen ein gesundes Bodenmilieu, in dem viele verschiedene Lebewesen gedeihen. Die Studien werden zu einer wichtigen Grundlage für weitere Forschungen und Vorlagen im Hinblick auf die Entstehung des Nationalparks.
Mein Hund Diesel lässt sich auf dem vorderen Teil des Kajaks nieder, während Jonas über das Werden des Nationalparks philosophiert. Wie viel er lokalen Guides und Händlern bedeuten wird, ist derzeit unklar. Es ist möglich, dass die Betreiber, die sich in der Nähe des Nationalparks niederlassen, nicht die Bewohner der umliegenden Inseln sind, sondern Unternehmen aus Stockholm, die hier auf Profit aus sind.
Wird die Abnutzung der Natur das zerstören, was man hier erleben möchte?
»Ein Problem ist auch, dass es nicht genügend Unterkünfte gibt«, sagt Jonas. Weder für Touristen noch für Leute, die sich hier niederlassen könnten, um zu arbeiten. Auf Nämdö fehlt es beispielsweise an einer Herberge. Transport- und Verpflegungsmöglichkeiten müssten ebenfalls gesschaffen werden.
Jonas, der momentan eher Kajaks für ausgedehnte Paddeltouren vermietet, vermutet, dass sich die Besucherstruktur ändern wird und mehr Menschen sich kurze, geführte Touren wünschen, gerade auch, wenn die Zahl der internationalen Gäste zunimmt. Dann muss er mehr Leute einstellen, was wiederum mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Archipel schafft. »Der Tourismus muss nachhaltig wachsen, sodass man auch in der Hochsaison noch eine eigene Nische finden kann«, sagt Jonas.
Unerwünschtes Gütesiegel?
Wir kehren um. Unsere Augen ruhen auf den grünen Inseln, an denen wir langsam vor- beipaddeln und die bald ein Nationalpark sein könnten. Die Einstufung der Natur als Nationalpark ist ein Beweis dafür, dass es hier eine wunderschöne Landschaft mit einer wichtigen Flora und Fauna gibt. Es ist ein internationales Gütesiegel, das den Stellenwert des Naturgebiets steigert. Aber nicht alle sind einverstanden. Manche wollen den Archipel gar nicht erschließen. Am Ende des Tages geht es vielleicht eher um eine Lebenseinstellung. Will man die Einzigartigkeit teilen, die wir um uns herum haben, oder will man die Herrlichkeiten nur für sich behalten? Was aus dem Nämdö-Archipel wird, bleibt also abzuwarten.
Schutz der Natur
Die Gemeinde bestimmt
In einem Naturschutzgebiet kann das Areal beispielsweise Eigentum einer Gemeinde oder eines anderen Grundeigentümers sein. Die Entscheidung über die Entstehung dieser Gebietsform wird lokal getroffen.
Naturschutzgebiete
können über den Schutz der Natur hinaus noch weitere Aufgaben erfüllen wie die Erhaltung der biologischen Vielfalt, wertvoller kultureller und natürlicher Umgebungen und die Förderung von Outdoor Aktivitäten.
NATURA 2000
ist ein Netzwerk wertvoller natürlicher Lebensräume innerhalb der EU für besonders schützenswerte Arten oder Naturtypen, das einen Teil der schwedischen Nationalparks und Naturschutzgebiete umfasst.
Staatlich
In Nationalparks gehört das Land dem Staat. Die Regierung trifft die Entscheidung über die Einrichtung diess Gebiets, das die längste und stärkste Naturschutzform ist.
Schweden
Die flächenmäßig dominierenden Schutzformen in Schweden sind Nationalparks, Naturschutzgebiete und Natura 2000. Alle dienen dem Schutz von Natur, Pflanzen und Tieren.