Natürliche Revanche: Islands Tourismusboom
Dank seiner spektakulären Natur hat Island die Finanzkrise erfolgreich hinter sich gebracht. Inzwischen ist die kalte Insel eine der heißesten Destinationen Europas. Wer steckt hinter dem Tourismusboom? Und wie nachhaltig ist er wirklich? Eine NORR-Rundreise auf der Suche nach Antworten.
November 2008. Es ist grau und kalt als ich durch die Innenstadt von Reykjavík gehe. Nicht nur das Wetter, sondern auch die Stimmung ist schlecht. Der Konkurs der Lehman-Brothers im September hat eine Reihe verschiedener Dominoeffekte ausgelöst, die dazu geführt haben, dass die isländischen Großbanken keine neuen Kredite mehr aufnehmen dürfen. Die Laune der sonst so entgegenkommenden und freundlichen Isländer ist im Keller. Gleichzeitig geht der Wert der Reykjavíker Börse senkrecht nach unten und das Bankensystem kollabiert.
Doch die Einwohner der spärlich besiedelten Insel im Nordatlantik sind schwierige Verhältnisse gewöhnt. Gerade in schlechten Zeiten besinnen sie sich auf ihren Erfindungsreichtum und entwickeln neue Strategien, um Geld zu verdienen. Als die Isländische Krone 2008 immer mehr an Wert verliert, tun sich die Fremdenverkehrsämter des Landes zusammen, um Touristen mithilfe großer Werbekampagnen im Ausland zu günstigen Urlauben auf die Insel zu locken. Bereits Ende 2008 zeichnet sich ein deutliches Wachstum in der Branche ab.
Eineinhalb Jahre später, im März 2010, bricht der Vulkan Eyjafjallajökull, der im Volksmund den Beinamen »der Stille« trägt, aus. Die Vulkanasche beeinträchtigt über mehrere Tage den gesamten Flugverkehr in Europa und ist die Hauptnachricht in den Medien der westlichen Welt. Auf diese Weise bekommen Island und seine spektakuläre Natur noch mehr Aufmerksamkeit. »Plötzlich war Island mit seiner natürlichen Schönheit, seinen aktiven Vulkanen, heißen Quellen und einer fantastischen Landschaft in aller Munde«, sagt Sveinn H. Guðmundsson, der beim Walsafari-Veranstalter Elding Adventure at Sea für Umwelt- und Qualitätsfragen verantwortlich ist.
Zwergwal in Sicht
Das Familienunternehmen wurde im Jahr 2000 gegründet und war das erste, das in Reykjavík Walsafaris anbot. Heute gehört Elding Adventure at Sea zu den größten Firmen der Branche auf Island – und Wale beobachten ist eine der drei Hauptattraktionen, die bei ausländischen Besuchern ganz oben auf der To-Do-Liste steht. Mittlerweile laufen in Reykjavík täglich Safari-Boote aus, von denen man Schwertwale, Buckelwale und Zwergwale beobachten kann. Jährlich kommen fast zwei Millionen Touristen auf die Insel, 300 000 nur wegen der Wale.
Auch die Reisezeiten haben sich verschoben: »Dank gezielten Marketings kommen immer mehr Touristen im Winterhalbjahr, um die Polarlichter, die Dunkelheit und bestimmte Musikfestivals zu erleben«, erklärt Sveinn H. Guðmundsson. Um der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden, bietet Elding Adventure mittlerweile ganzjährig Safaritouren an. Die Boote des Unternehmens laufen nun auch im Winter aus. Dann ist die Chance, Schwert- und Buckelwale zu Gesicht zu bekommen, sogar größer als im Sommer.
Krisenmanagement auf Isländisch
Auch andere Tourismusunternehmen haben in den letzten Jahren ihr Angebot ausgebaut. Bei Hróðmar Bjarnason steht nicht der Wal, sondern das Islandpferd im Mittelpunkt. Vor dreißig Jahren begann er, hobbymäßig Pferde zu halten. Doch schon bald entwickelte sich aus dem Hobby ein Beruf und das Unternehmen Eldhestar war geboren. Hróðmar Bjarnason ist einer der Teilhaber. Heute hat die Firma 350 Pferde und gehört zu den größten auf der Insel. Hróðmar erinnert sich noch gut an die Finanzkrise: »Alle Unternehmen, die Kredite aufgenommen hatten, waren plötzlich in der Schuldenfalle«. Doch dank der Krise kamen neue Touristen, wovon Eldhestar profitiert hat. »Wir haben investiert – langsam und mit der Betonung auf Sicherheit«, erklärt er. Er muss es wissen, schließlich hat er Betriebswirtschaft studiert, was ihn aber nicht davon abhält, regelmäßig selber in den Sattel zu steigen, um mit Kunden lange Ausritte in die isländische Wildnis zu machen.
Das Islandpferd stammt von den Pferden der Wikinger ab, die im 10. Jahrhundert auf die Insel kamen. Heute ist die Pferderasse die einzige, die auf Island zugelassen ist. Man ist bestrebt, die Rasse rein zu halten. Auch das Risiko fremder Keime, die die heimischen Pferde infizieren können, spielt bei dieser restriktiven Politik eine Rolle. Weil es auf der Insel keine größeren Raubtiere gibt, sind die Pferde sehr zutraulich und neugierig. Und obwohl sie verhältnismäßig klein sind, sind sie ausdauernd und stark. Das Islandpferd beherrscht fünf Gangarten, wovon der sogenannte Tölt die bekannteste ist – eine schnelle Version des Schritts, die besonders für den Reiter sehr angenehm ist.
Meine Stute, die auf den Namen Blær hört, hebt ihren Blick und sieht mich mit ihren dunkelbraunen Augen an. Ihre Mähne ist ungebürstet und steht in alle Richtungen ab. Ich schwinge mich in den Sattel und unser britischer Guide Tomi Stansfield übernimmt die Führung. Vor sechs Jahren hat er einen Sommer lang auf Island gejobbt. Mittlerweile kommt er jeden Sommer auf die Insel, um für Eldhestar zu arbeiten: »Die isländische Natur hat mich einfach gepackt«, erzählt er.
Die Pferde laufen sicher auf dem schmalen Pfad durch die hügelige Landschaft im südwestlichen Teil der Insel. Blær reagiert auf den kleinsten Druck meiner Hacken und wir nehmen Fahrt auf. Im Galopp geht es durch ein kleines Wäldchen und auf einen Hügel hinauf. Sanft bringe ich das Muskelpaket unter mir zum Stehen. Es riecht nach verfaulten Eiern und aus einem Erdloch sehe ich Schwefelgase laut zischend an die Oberfläche steigen. Ein Warnschild weist darauf hin, dass man nicht näher an die Quelle heran gehen sollte.
Warme Quellen gibt es über die ganze Insel verteilt und in vielen darf man auch baden, aber nicht in der blubbernden Soße vor meiner Nase. Die meisten isländischen Häuser werden mit geothermaler Energie erwärmt. Als ich vom Pferd steige und meine Hand auf den Boden lege, fühle ich die Wärme, die aus dem Erdinneren kommt. Genau diese Wärme ist es auch, die für den Firmennamen des Reitunternehmens herhalten musste. »Eldhestar« bedeutet übersetzt Feuerpferde.
Die negativen Folgen des Booms
Inzwischen hat der Tourismus die Fischerei als wichtigsten Wirtschaftssektor des Landes abgelöst. Entlang der Ringstraße, die einmal um ganz Island herumführt, stehen Tramper mit ausgestrecktem Daumen. Die Bedrohung durch den Terror in Hochburgen wie der Türkei haben die Touristenströme in diesen Ländern markant dezimiert. Davon profitieren die skandinavischen Länder, die allgemein als sicher und ruhig gelten. Dazu trägt auch die mächtige Natur bei, in der die Gefahren der Welt weit weg scheinen.
Warme Quellen gibt es über die ganze Insel verteilt und in vielen darf man auch baden, aber nicht in der blubbernden Soße vor meiner Nase.
Dass es vor allem diese ist, die viele Besucher nach Island lockt, steht außer Zweifel; Reiten, Walbeobachtungen, Wandern, Fliegenfischen – der Ideenreichtum, mit dem die Isländer die Vorteile ihres einmaligen Landes bewerben, scheint keine Grenzen zu kennen. Oder doch?
Auf rund 30 000 Übernachtungen täglich kommt das kleine Land inzwischen, in Relation zu seinen 337 000 Einwohnern (Stand 2016) liegt es damit weltweit an der Spitze. Islands »wichtigste« Geysire und andere Naturhöhepunkte der Insel gelten als komplett überlaufen. Die Touristenmassen hinterlassen Spuren in der sensiblen Natur und machen selbst vor gefährlichen Orten nicht Halt. Hinzu kommt, dass infolge der Finanzkrise größere Investitionen in Straßen und Krankenhäuser ausgesetzt wurden, sodass Infrastruktur und Gesundheitssystem heute selbst für die Einheimischen nicht ausreichend sind – für die Besucherströme aus aller Welt schon gar nicht.
Dennoch steht ein Großteil der Isländer hinter der Entwicklung. In einer Untersuchung des Reykjavíker Meinungsforschungsinstituts MMA aus dem Jahr 2016 bestätigen zwar 64 Prozent der Inselbewohner, dass der Tourismus negative Auswirkungen auf die Natur hat, 65 Prozent meinen aber, er sei grundsätzlich positiv für ihr Land. Dazu trägt bei, dass die Branche fast ausschließlich in der Hand kleiner und mittelgroßer Familienunternehmen liegt. Anders als in der von Großkonzernen dominierten Fischereiindustrie haben die Menschen hier das Gefühl, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben und viele von ihnen sind stolz darauf, der Welt ihre Heimat zeigen zu können.
Kann vielleicht gerade der Ökotourismus ein goldener Mittelweg sein, stabiles Einkommen mit Naturschutz zu kombinieren?
Naturbewusstsein durch Ökotourismus
Davon sind Sveinn H. Guðmundsson und Hróðmar Bjarnason ebenso überzeugt wie Magnús Jóhannsson, den ich zum Abschluss meiner Reise treffe. Der Biologe hat sich mit seinem Unternehmen Mud Shark auf das Strandfischen von Dornhaien (engl. »mud sharks«) spezialisiert, einer Art, die vor Island reichlich vorkommt. Dazu veranstaltet er geführte Touren im Süden der Insel, stattet die Gäste mit Ausrüstung aus und vermittelt Wissen über die maritime Natur. Die meisten Haie werden nach dem Fang wieder in die Freiheit entlassen. »Wir betreiben eine nachhaltige Form des Fischfangs und wollen gleichzeitig ein Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge schaffen«, so der Biologe.
Auf dem Weg zum breiten schwarzen Strand in der Nähe seines Heimatdorfes Hella berichtet er, dass früher gut ein Drittel der Insel mit Wald bedeckt war. Durch Überweidung sei die Vegetation jedoch weitgehend zerstört worden – heute mache die bewaldete Fläche nur noch knapp zwei Prozent aus. Bislang waren es also eher die einheimischen Schafe als die ausländischen Touristen, die das Ökosystem übernutzten. Hier hat die Regierung mittlerweile reagiert, indem sie restriktivere Regeln für die Tierhaltung geschaffen und Wiederaufforstungsmaßnahmen ins Rollen gebracht hat. Eine Erfahrung, aus der man beim Tourismus lernen könne.
»Wir leben von der Natur und werben mit ihr, aber wir müssen sie auch schützen«, sagt Magnús. »Meine Kunden sollen die Faszination der Natur erleben. Sie sollen aber auch verstehen, welche Auswirkungen menschliche Eingriffe auf den sensiblen Ökohaushalt haben können. Es wäre wunderbar, wenn sie dieses Wissen mit nach Hause nehmen könnten.«