Schneefreiheit: Sommer in skandinavischen Skigebieten
Ist die letzte Flocke getaut, sind Skandinaviens Skigebiete bereit für Sommerabenteurer. Was kann man zwischen den nordischen Gipfeln in der Zeit nach dem Schnee erleben und warum sind ganzjährige Aktivitäten wichtig für einen nachhaltigen Tourismus? NORR hat sich in den Bergen umgesehen.
Reihen von verschwitzen Wanderstiefeln schmiegen sich vor der Fjällstuga aneinander, in der gerade noch vereiste Snowboardboots vor dem Ofen trockneten. Auf den bis vor einigen Wochen noch mit Puderschnee überzogenen Abfahrten fegen Mountainbiker ins Tal. Und wo kürzlich Langläufer über die verschneite Weite des Fjälls glitten, scharen sich jetzt mit Ferngläsern bewaffnete Gruppen in der Hoffnung, eine grasende Moschusochsenherde zu erspähen. Alle Indizien sprechen dafür: Der Sommer ist in den skandinavischen Skiregionen angekommen. Noch vor ein paar Wochen mochte man kaum glauben, dass es hier überhaupt ein Leben nach dem Winter gibt, dass zwischen den verwaisten Pisten und Liftanlagen, Stugas und Fjällresorts Tourismus auch ohne Schnee stattfinden kann.
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Schneereiche Tourismusmagnete
118 Skigebiete gibt es offiziell in Schweden, 111 sind es in Norwegen und 82 in Finnland. Wie in den Alpen hat man hier einiges in den Wintersport investiert und große Kapazitäten aufgebaut, um die anspruchsvollen Bedürfnisse der Skienthusiasten zu bedienen. Und wie dort ist man hier ebenfalls bemüht, diese Kapazitäten nun auch während der wärmeren Monate besser auszulasten und mehr Gäste in Sommergarderobe in die schneefreie Fjällwelt zu locken. Dabei scheint es fast ein bisschen ungerecht, dass Skier, Snowboards und Co den Wanderschuhen den Rang streitig machen – schließlich waren Letztere zuerst da.
Bestes Beispiel ist das Fjälldorf Åre in Jämtland, heute Schwedens wichtigste Bergsportdestination (31 Lifte, 93 Pistenkilometer) und auch international bekannt als Austragungsort für die alpine Ski-WM (1954, 2007, 2019). 400 000 Besucher kommen jährlich in den 3 000-Seelen-Ort am Ufer des Indalsälven – die allermeisten im Winter, um den legendären Hausberg Åreskutan (1 420 Meter) herunterzujagen, der Abfahrten auf Alpenniveau verspricht.
Da vergisst man leicht, dass der Wintersport eigentlich nur einen ganz kleinen Part in der Tourismusgeschichte Åres einnimmt, die bis in das 12. Jahrhundert zurückreicht. Zu der Zeit waren es Pilger, die auf ihrem Weg zum Grab des heiligen Sankt Olav in Trondheim (damals Nidaros) im jämtländischen Bergdorf Halt machten. Mit der Fertigstellung der Bahnstrecke »Mittbanan« 1882 kam dann endgültig der Tourismus nach Åre. Es war vor allem die gebildete Oberschicht, die es ins Fjäll trieb, die auf Bauernhöfen wohnte und oft auf ihren Naturexpeditionen nach seltenen Pflanzen für ihre Herbarien suchte. Die Wintersportepoche wurde mit dem Bau der »Bergbanan« (Eröffnung 1910) auf das Ostplateau der Åreskutan eingeläutet und mit dem »Lundgårdslift« entstand hier 1940 Schwedens erster Skilift. Den Wendepunkt markiert schließlich die alpine Ski-WM im Jahr 1954. Seitdem kommen mehr Winter- als Sommertouristen nach Åre, die noch dazu ganz andere Bedürfnisse mitbringen: Statt Ruhe und Stille suchen sie in der Natur des Fjälls Spaß und sportliche Herausforderung.
Bikend zur Ganzjahresdestination
Zum Höhepunkt des Ski-Booms Anfang der neunziger Jahre war der Anteil der Sommerbesucher in Åre verschwindend gering. Dass er heute immerhin wieder bei gut fünfzehn Prozent liegt, hat unter anderem mit einer weiteren Weltmeisterschaft zu tun: Bei der Mountainbike-WM 1999 in Åre radelte die Spitzenklasse der Welt in der schneefreien Bergwelt um die Wette. In Folge entwickelte sich der Ort zum skandinavischen MTB-Mekka. Heute ist es Åres Mountainbikezentrum, das die Saison der Skianlage um ein halbes Jahr verlängert. Die Lifte sind auch im Sommer geöffnet und chauffieren Downhillbiker auf die Gipfel, die anschließend auf den felsigen Pisten mit Blick auf den Åresjön ins Tal jagen. Aber es sind nicht nur die Möglichkeiten auf zwei Rädern, die neue Fjällbesucher anlocken. Die Ausläufer des Åresjön und der Vålån mit reißenden Stromschnellen versprechen den Besuchern einen weiteren Adrenalinkick – beim Wildwasser-Rafting.
Åres kleine Schwester, das Skigebiet Idre Fjäll in Dalarna mit seinen 41 Pistenkilometern und 22 Liften, ist eines der wenigen Resorts, das schon von Anfang an rund ums Jahr geöffnet hatte. Idres 10 000 Betten sind im Winter meist komplett belegt. »Zur Hochsaison im Juli und August, in der neben schwedischen Gästen auch Touristen aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden zu uns kommen, gibt es zwar noch immer viele freie Schlafplätze, aber wir arbeiten intensiv daran, eine gleichmäßige Auslastung zu schaffen«, sagt Mats Lennartsson von der Tourismusregion Idre Fjäll. »In den vergangenen Jahren sind immer mehr Leute zu uns in die Berge gekommen und probieren neue Sommeraktivitäten aus.« Auch Idres Fokus liegt auf dem Zweiradabenteuer und die Region investiert in den Mountainbikesport. Eine Pause für die Beine gibt es für Idres Urlauber bei einer Paddeltour oder einer Bibersafari mit dem Kanu auf Dalarnas Wasserwegen inmitten artenreicher Natur.
Dritter im Bunde der Bikeparks und mit dem Ziel, ganzjährige Reisedestination zu werden, ist Norwegens größter Wintersportort Trysil in der Hedmark. Furchtlose können hier auf zwei Rädern schweißtreibende Technik-Trails mit Namen wie Green Fox, Happy Rabbit oder Sweet Dreams meistern. Aber die Bike-Arena in der familienfreundlichen Destination Trysil hat auch für Nachwuchs, Angsthasen oder Gemütlichfahrer Routen parat. Canyoning ist eine weitere beliebte Aktivität unter den Sommerurlaubern, die sich tollkühn in Trysils engen Schluchten und an gurgelnden Wasserfällen in die Tiefe abseilen.
Furchtlose können hier auf zwei Rädern schweißtreibende Technik-Trails meistern.
Leichtgewicht und Laufschuhe
Neben dem Biken und Wasserabenteuern steht aber Wandern nach wie vor an ungeschlagener Spitze der Sommeraktivitäten im Fjäll, das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts seine eingefleischten Fans fand. Blättert man durch das Jahresmagazin des STF (Schwedischer Tourismusverband) aus dem Jahr 1886, wird schnell klar, dass das Wandern damals ausschließlich Freizeitbeschäftigung überdurchschnittlich reicher schwedischer Akademiker war. In den antiken Tipps für einen gelungenen Trip wird empfohlen, sich auf Tagestouren eine Person, auf Mehrtagesstrecken gar ein Pferd oder Rentier für den Transport seiner Übernachtungsutensilien und der Verköstigung zu mieten. Die Oberschicht Schwedens war damals offensichtlich weder daran interessiert, sich tapfer mit dem eigenen Gepäck auf dem Rücken voranzukämpfen noch, sich mit einer asketischen Stulle zum Abendessen zufriedenzugeben.
»Ganz so weit entfernt, wie man annehmen möchte, liegt die damalige Wanderphilosophie von dem heutigen Trend allerdings überhaupt nicht«, erzählt Anna Wilhén vom STF. »Nachdem das Wandern im Fjäll von einer Luxusbetätigung der Reichen zu einem Trendsport für Jedermann wurde, gehörte es lange Zeit zur Etikette,seinen schwer bepackten Rucksack selbst zu tragen. Interessanterweise zeigt sich seit circa drei Jahren eine Umkehrtendenz. Viele ziehen es vor, tagsüber ohne Zelt und nur mit extrem leichtem Gepäck unterwegs zu sein und abends in den Bergstationen und Fjällstugas zu speisen und in gemachten Betten zu nächtigen.«
Eine weitere gepäcklose und seit einigen Jahren sehr populäre Fitnessbewegung im Fjäll ist das Trailrunning. Immer mehr Langstreckenläufer trainieren auf den unbefestigten Pfaden mit unterschiedlichen Bodenverhältnissen, Koordination, Reaktionsvermögen und neue Körperabläufe. Auch sie kehren nachts in den Hütten des STF ein, um nach dem Frühstück rennend Kurs auf die nächste Herberge zu nehmen. Teil dieser Laufbewegung ist die steigende Anzahl an entsprechenden Events – wie zum Beispiel der Åre Fjällmaraton, bei dem jährlich über 500 Teilnehmer durch die Bergwelt rund um die Åreskutan sprinten.
Mitternachtssonne und Moschusochsen
Aber was macht das skandinavische Fjäll so speziell im Unterschied zu seinem imposanten Pendant im Süden, den Alpen? Im Vergleich zu den alpinen Gebirgsriesen sind die nordeuropäischen Berge kleine Maulwurfshügel. Sie sind viel niedriger, die Aufstiege nicht so steil und die Flüsse tosen ein bisschen weniger laut. Durch seine flache Statur ist das Fjäll jedoch auch leichter zugänglich. Wanderrouten verlaufen oft oberhalb der Baumgrenze und bescheren einen weiten Horizont. Die Alpen sind dichter besiedelt als das Fjäll, in dem einem außer einem Elch, Rentier oder Schneehuhn häufig keine Seele begegnet. Noch ein Privileg der nordischen Berglandschaft ist das »Allemansrätt« – man kann nicht nur nahezu überall wandern, sondern auch dort, wo es beliebt, einfach sein Zelt aufschlagen.
In Nordskandinavien sind die Winter sehr kalt und die Sommer mild. Während sich die Sonne in den Polarnächten in den Wintermonaten an knapp 50 Tagen gänzlich hinter dem Horizont versteckt, geht sie im Sommer an 73 Tagen im Jahr gar nicht erst unter. Wie auch im Skigebiet Levi in Finnisch Lappland, in dem man unter der Mitternachtssonne inmitten wilder nordfinnischer Natur wandern oder eine Partie Discgolf spielen kann. Wer mag, kann sich auf den Rücken eines Pferdes schwingen und die welligen Weiten des Fjälls reitend erkunden. Eine außergewöhnliche Sommeraktivität bietet auch das Skigebiet Oppdal in der mittelnorwegischen Provinz Trøndelag. 240 Moschusochsen, die es sonst nur in Alaska, Kanada, Westgrönland und Sibirien gibt, leben im Dovreell, in den Gemeinden Oppdal, Dovre und Lesja. In Oppdal kann man entlang eines eigens dafür eingerichteten Moschuspfades einen Blick auf die majestätischen Paarhufer erhaschen oder sich einer Ochsensafari mit Guide anschließen.
Nachhaltige Sommermonate
Eine gleichmäßige Auslastung während des gesamten Jahres ist nicht zuletzt ein wichtiges Kriterium für einen nachhaltigen Tourismus. Schließlich ist es weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll, die existierenden Anlagen einen Großteil des Jahres leer stehen zu lassen. Auch ohne Gäste brauchen sie Energie und Aufmerksamkeit. Für die Gemeinschaft in den Dörfern ist es ebenso wichtig, dass diese nicht allein auf Saisonarbeit baut, sondern dass es das ganze Jahr Arbeit gibt und es sich lohnt, hierher zu ziehen und zu bleiben. In der Weite und Einsamkeit der skandinavischen Wildnis ist dieser soziale Nachhaltigkeitsaspekt vielleicht noch wichtiger als in der dicht besiedelten Alpenregion.
Wanderrouten verlaufen oft oberhalb der Baumgrenze und bescheren einen weiten Horizont.
Für die Destination Trysil, einer Vorreiterin in Sachen Nachhaltigkeit, ist die Förderung des Sommertourismus deshalb Teil einer ganzheitlichen Zukunftsstrategie, die der Ort als zertifiziertes »Bærekraftig reisemål« (dt. nachhaltiges Reiseziel) verfolgt: »Wir sind zwar Norwegens größtes Wintersportgebiet, Ziel ist es jedoch, das nachhaltigste ganzjährige Reiseziel des Landes zu sein«, sagt Gro Svarstad, Leiterin des Wirtschaftsausschusses der Gemeinde Trysil. »Egal ob es darum geht, effektiv mit Ressourcen umzugehen oder darum, die kulturelle Vielfalt des Ortes und seine Lebensqualität zu bewahren. Für alle diese Teilziele ist ein gesunder Sommertourismus enorm wichtig.«
Wer erleben will, was sie damit meint, sollte Trysils populärer Skihütte Knettsetra im Sommer einfach mal einen Besuch abstatten. Wo in der kalten Jahreszeit täglich Hunderte Skifahrer Elchburger und lokal produzierten Naturkartoffelpommes essen und bei Livekonzerten feiern, grasen in den Sommermonaten Ziegen und sitzen junge wie alte Wanderer und Biker auf Holzbänken in der Sonne.
Der Ganzjahresbetrieb ist nicht nur wichtig für den Wirt, sondern auch für seine lokalen Lieferanten, für die es sich durch die wandernden und radelnden Sommergäste ebenfalls lohnt, auch in der schneefreien Zeit ihr Handwerk zu betreiben. Ein schönes Beispiel für eine lebendige Fjällkultur zu allen Jahreszeiten.