Zurück zu den Wurzeln: Überlebens-Kurs in Sjövik
Die Kenntnisse und Fertigkeiten, die in den Wäldern rund um die Heimvolkshochschule Sjövik von den Lehrern an die Schüler weitergegeben werden, sind uralt. Trotzdem sind sie heute aktueller denn je.
Der Überlebensexperte und Schriftsteller Lars Fält hat die jungen Kursteilnehmer um sich versammelt. Er zeigt auf einen riesigen Ameisenhaufen neben einer schmächtigen Kiefer. »In einer eiskalten Winternacht vor fünfzig Jahren habe ich mich in so einen Haufen eingegraben und darin geschlafen«, sagt er mit einer Stimme, die gewohnt ist, zu Hundertschaften von Soldaten zu sprechen. Sollte jemand in der Gruppe irritiert sein, kann er es gut verbergen. Es gibt keine Nachfragen, niemand kichert, stattdessen hängt gespannte Erwartung in der Luft – was kommt jetzt?
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Für Lars Fält ist das normal, er veranstaltet diesen Kurs in Sjövik schon seit vielen Jahren. Er geht zu den praktischen Instruktionen über und erzählt, dass man, wenn man ganz tief gräbt, die essbaren Ameiseneier findet. Er schließt mit einem Ameisen-Tipp, der auch im Herbst funktioniert: »Das Hinterteil der Ameise kann man essen, und es ist gut für den Magen, wenn man zum Beispiel im Gefängnis sitzt und sich einseitig ernähren muss.« Nun hört man doch hier und da ein leises Kichern. Was befremdet, ist aber wohl vor allem die Vorstellung, im Gefängnis zu sitzen. Das Hinterteil der Ameise werden mehrere Kursteilnehmer später vermutlich noch probieren.
Natur auf dem Lehrplan
Die einjährige Ausbildung »Friluftsliv-Hantverk-Ledarskap«, was man im heutigen Deutsch am besten mit »Führungskraft Outdoor-Praxis« übersetzen könnte (wörtlich übersetzt bedeutet es »Freiluftleben-Handwerk-Menschenführung«), gibt es an der Volkshochschule Sjövik seit 1981. Aber der Lehrstoff ist bedeutend älter. Bo Weslien, einer der beiden Kursleiter, ist mit uns im Wald unterwegs. »Früher«, sagt er, »war es eine Frage des Überlebens, mit sehr einfachen Werkzeugen und Fertigkeiten in der Natur zurechtzukommen. In Schweden hatten wir im 18. Jahrhundert, bevor die Kultivierung der ländlichen Gebiete so richtig in Gang kam, die Autarkie des Einzelnen auf die Spitze getrieben. Dann gingen die Kenntnisse wieder verloren.« Lars Fält und die Schülergruppe sind unterdessen bei der nächsten Kurslektion angelangt: Aus Fichtenreisig, dünnen Stangen und Zweigen sollen sie, mit Hilfe eines Messers und einer Axt, einen Windschutz bauen.
Die Heimvolkshochschule Sjövik befindet sich etwa zehn Kilometer außerhalb von Avesta in der Provinz Dalarna. Die Schulgebäude liegen idyllisch am Bäsingen-See, der einen Abschnitt des Flusses Dalälven bildet. Für eine Outdoor-Ausbildung ist dies ein strategischer Ort, denn der Dalälven gilt als Grenze zwischen Süd- und Nordschweden, und auf jeder Seite des Flusses ist die Natur anders beschaffen. In der Nähe liegt der Nationalpark Färnebofjärden, und rund um die Schule gibt es ausgedehnte Waldgebiete. »Wir haben natürlich vom Grundstückseigentümer die Erlaubnis, soviel abzuholzen, wie wir für den Windschutzbau benötigen«, erklärt Bo Weslien, als die Kursteilnehmer sich mit ihren Äxten über die Zweige in der Umgebung hermachen.
Der Wald als Heimat
Der Tag mit Lars Fält unter dem Motto »Überleben« ist eine der Lektionen, nach denen die Schüler auf die Frage »Hast du vergessen, dass der Wald deine Heimat ist?«, die auf der Website des Kurses an erster Stelle steht, aus voller Überzeugung antworten können: »Ganz und gar nicht!« Sie lernen hier unter anderem, Fleisch zu trocknen, mit Axt und Messer zu hantieren, Wetterumschwünge zu erklären, Gerätschaften aus Holz herzustellen, Anoraks zu nähen und sogar ihr eigenes Kanu zu bauen. Dazwischen unternehmen sie mehrwöchige Exkursionen in die Natur.
Hast du vergessen, dass der Wald deine Heimat ist?
Bo Weslien war von 1983 bis 1984 einer der ersten Kursteilnehmer in Sjövik. Im Prinzip sah die Ausbildung damals schon so aus wie heute, auch wenn sie ein wenig theoretischer war, um nicht zu sagen: philosophischer. »Wir waren stark von den norwegischen Ökosophen beeinflusst, mit Arne Næss an der Spitze. Das war eine dieser Wellen nach den Siebzigerjahren, wir wollten draußen im Freien sein ohne Motoren und Skilifte, mit einfachster Ausrüstung. Der Natur begegnen unter den Bedingungen der Natur, lautete eine unserer Devisen«, erzählt Bo Weslien. Und er fügt hinzu: »Wir legten damals viel mehr Wert auf Definitionen. Aber in der Praxis halten wir heute immer noch an denselben Idealen fest.« Nach der Ausbildung reiste er in die USA, um zu lernen, wie man Holzkanus baut. Als er nach Schweden zurückkehrte, bekam er in Sjövik eine Teilzeitstelle und seit 1989 hat er eine volle Stelle als Lehrer an der Heimvolkshochschule.
Seine Kollegin Katharina Blank kommt aus Rathenau bei Berlin. Sie absolvierte die Ausbildung von 1999 bis 2001 und entschloss sich zum Bleiben. Jetzt wohnt sie mit ihrem Lebensgefährten, der Kanubauer ist und an einem Gymnasium arbeitet, das ein spezielles Wildnis- und Naturprofil hat, auf einem Bauernhof. Die beiden halten Schweine und Schafe und versuchen, so weit wie möglich als Selbstversorger zu leben. Katharina Blank ist verantwortlich für mehrere Kursabschnitte, bei denen es um Ernährung geht – um das Pflücken, Sammeln, Trocknen und Zubereiten dessen, was die Natur in der nächsten Umgebung zu bieten hat. »Der große Unterschied zwischen der deutschen und der schwedischen Volkshochschule«, sagt sie, »besteht darin, dass es sich in Schweden um eine ganzheitliche Ausbildung handelt, bei der die Schüler für ein oder zwei Jahre in der Schule wohnen.« Bei unserem Treffen ist sie sehr in Eile, denn sie muss noch die Kurslektion für morgen vorbereiten: Preiselbeeren sammeln, einkochen und entsaften, Fleisch räuchern.
Vergangenheit und Zukunft
Als Außenstehender fühlt man sich in Sjövik manchmal wie in einem kleinen, interaktiven Freilichtmuseum. Die Kenntnisse und Fertigkeiten, die hier weitergegeben werden, sind Jahrhunderte alt, und doch glaubt Bo Weslien, dass sie heute noch höchst aktuell sind. Die Heimvolkshochschule Sjövik hat die Zukunft genauso im Blick wie die Vergangenheit. Im Grunde geht es darum, die Menschen zu lehren, wie sie – wieder – im Einklang mit der Natur leben können. »Heute reden alle von Nachhaltigkeit. In Sjövik sind wir seit dreißig Jahren damit beschäftigt«, sagt Weslien. »Aber in den letzten vier, fünf Jahren ist das Interesse an unseren Kursen bemerkenswert gestiegen.«
Wenn man mit den Kursteilnehmern redet, wird deutlich, dass es nicht Nostalgie ist, die sie hierhergelockt hat. In der Gruppe sind Frauen und Männer etwa gleich stark vertreten. Die Hälfte stammt aus Schweden, der Rest aus anderen Ländern. Darunter sind beispielsweise ein Programmierer aus Åland (Finnland) und ein Illustrator aus Florenz. Trotz ihres kunterbunten Hintergrunds verbindet alle ein echtes Interesse für Natur und Umwelt und obendrein – so scheint es jedenfalls – die Suche nach etwas, das abseits des gesellschaftlichen Mainstreams liegt.
Im Grunde geht es darum, die Menschen zu lehren, wie sie – wieder – im Einklang mit der Natur leben können.
»Ich hatte es so satt, rund um die Uhr zu arbeiten, nur um den Kredit für das Haus zu bezahlen und mir alle zwei Jahre ein neues Mobiltelefon zu kaufen«, sagt Henrik Johnsson, der früher Mitarbeiter an der Sicherheitskontrolle des Stockholmer Flughafens Arlanda war. »Vor zwei Jahren war ich eine Woche auf Spitzbergen, und da ist meine Entscheidung für die Natur gefallen. Jetzt habe ich das Haus verkauft und will sehen, wo das hier hinführt. Ich sehne mich nach einem ruhigeren Leben.«
Joan Jensen ist beim Landwirtschaftsamt Jönköping unter der etwas rätselhaften Bezeichnung »A-jour-Halterin« tätig: »Man kann sagen, dass ich eine Datenbank für Landwirte und EUSubventionen betreue.« Sie hat sich beurlauben lassen, um herauszufinden, ob die Ausbildung in Sjövik zu einer beruflichen Zukunft führen kann, die ihr mehr Spielraum für ihr intensives Interesse an der Natur bietet. »Als Teenager war ich beim Lotta-Korps (einer Freiwilligen- Einheit für Frauen, die Teil des schwedischen Heimwehrs ist, Anm. d. Red.) und wollte immer nur draußen sein. Aber mein Berufsberater am Gymnasium behauptete, in der Outdoor-Branche gäbe es keine Jobs.« In Sjövik gefällt ihr außerdem das gemeinsame Nachdenken über Themen wie Umwelt und Ökosophie.
Auch die Möglichkeit, sich in der schwedischen Natur aufhalten zu können, lockt die Schüler aus dem Ausland an. »Belgien ist zu dicht besiedelt, und dort wäre es vollkommen unmöglich, sich seinen eigenen Windschutz aus Holz zu basteln«, sagt Matthias Crommelink, der den Ausführungen von Lars Fält sehr aufmerksam lauscht. »Ich kannte Lars aus dem Fernsehen, aus seinen gemeinsamen Sendungen mit Ray Mears bei der BBC.« Als Lars von einem Kanu aus Birkenrinde erzählt, das er im vorigen Sommer gebaut hat, will Matthias Crommelink wissen, wie dick die Rinde war, und schätzt selbst: vier Millimeter. »Eher dreieinhalb«, lautet die Antwort, die Matthias sich gewissenhaft einprägt.
Mit Humor und Respekt
Lars Fält ist so etwas wie Schwedens nationale Berühmtheit in Sachen Outdoor und Survival, dank seiner Mitwirkung in der erfolgreichen BBC-Serie des Engländers Ray Mears zum Thema »Überleben in der Natur«. Zu seinen Meriten gehören außerdem einige Jahre beim Jägerbataillon der schwedischen Armee in Kiruna und bei den Fallschirmjägern in Karlsborg. Dort baute Lars Fält in den späten Siebzigerjahren die Survival-Schule der schwedischen Streitkräfte auf. Außerdem hat er mehrere Bücher geschrieben, unter anderem gemeinsam mit Bo Weslien den Titel Skogsliv – återupptäck kunskaper för naturnära liv och färder i skogslandet, zu deutsch etwa »Leben im Wald – wiederentdeckte Kenntnisse für ein naturnahes Leben und Ausflüge in die Waldlandschaft«.
Aber wer jetzt einen hartgesottenen Kämpfertypen erwartet, wird sich wundern. Lars Fält ist ein begnadeter Anekdoten-Erzähler und lacht gern. Vor allem aber begegnet er der Natur mit echter Liebe, um nicht zu sagen: Ehrfurcht. Diese Einstellung teilt er mit den Schülern der Heimvolkshochschule Sjövik. In seiner tarnfarbenen Kluft und dem breitkrempigen Stetson- Hut plaudert er ungezwungen mit Heidi Jonsson, die in Boston geboren wurde, aber seit Jahren in einem halb-anarchistischen Wohnwagendorf in Ostdeutschland lebt. »Mein Wohnwagen ist aus Eichenholz gebaut und hat einen kleinen Turm mit Fenstern in alle Richtungen«, erzählt sie.
Die Lust der Langsamkeit
Der Bau des Windschutzes nimmt den ganzen Tag in Anspruch. Die Schüler sind danach verschwitzt und hungrig, und einer hat sich mit der Axt kräftig an der Hand verletzt. Gegenwartsphänomene wie Apps, Nespresso-Maschinen oder die neuesten Diättrends sind hier im Wald bei Avesta, zwischen Axthieben und alten Strickjacken, sehr weit entfernt. »Und das ist auch der Sinn des Ganzen«, sagt Bo Weslien. »Eine unserer wichtigsten Botschaften ist die, dass wir keine Eile haben. Das wiederhole ich so oft, bis es ihnen wieder zu den Ohren raus kommt. Klar, manchmal muss man sich ein bisschen sputen. Aber wenn wir an einem Tag nicht so weit kommen, wie wir gedacht hatten, dann ist das auch in Ordnung.«
Die Nacht ist sternenklar und kühl. Hinter jedem Windschutz brennt ein Feuer, und der Rauch kringelt sich zwischen den Fichten. Die Schüler sitzen auf den Pritschen, die sie selbst gebaut haben, um die Feuerstellen herum. Sie unterhalten sich leise, mit vielen Pausen, und irgendwann beginnt einer, ein altes Volkslied zu singen. Der Fotograf Henrik Witt und ich durften uns einen handgenähten Windschutz aus kräftigem Baumwollgewebe ausleihen, den wir zwischen zwei Bäumen aufgespannt haben. Nachdem ich in den Schlafsack gekrochen bin, lausche ich dem Gemurmel der anderen, schaue zu den Sternen hinauf und grüble über die Frage nach: »Hast du vergessen, dass der Wald deine Heimat ist?«