Man muss die Möglichkeiten sehen können, denke ich, und versuche mir vorzustellen, was der schottische Ingenieur James Finlayson wohl gespürt hat, als er Anfang des 19. Jahrhunderts an der gleichen Stelle stand wie ich jetzt. Mit gewaltiger Kraft donnerte das Wasser damals ungezähmt die Tammerkoski-Stromschnelle hinunter, zwischen dem See Näsijärvi und dem 18 Meter tiefer liegenden Pyhäjärvi – der Schotte muss die Energie erkannt haben, mit der er seine Vision einer Baumwollfabrik zum Leben erwecken konnte. Finlaysons Unternehmen sollte zum größten Textilproduzenten Finnlands werden – und die Stadt an der Stromschnelle zu einem der wichtigsten Industriezentren des Nordens.
»Tampere war schon zu Zeiten der Industrialisierung das Innovationszentrum schlechthin«, sagt Heli Jokela von Visit Tampere, »und ist es bis heute geblieben.« Für viele Hightech-Firmen ist die 230 000-Einwohner-Stadt mit ihren drei Universitäten der perfekte Standort. Gleichzeitig hat sie sich zu einer lebendigen Lifestyle-Metropole entwickelt. Die mächtigen Backsteingebäude, die sich rechts und links des Wassers beeindruckend in die Höhe strecken, sind heute Orte der Kreativität und Kultur.
Die Kunstfabrik an der Stromschnelle
»Finlayson« steht noch immer in großen Buchstaben über dem Eingang zum Fabrikkomplex am westlichen Ufer, das sich nach Einstellung der Wollproduktion in den 80er Jahren zu einem urbanen Zentrum entwickelt hat – mit Unternehmen und Künstlerwerkst.tten, Kinos und Galerien, Boutiquen und Gastronomie. Durch abstrakt bemalte Gassen und Höfe spaziere ich von Ausstellung zu Ausstellung in der Finlayson Art Area. Ein gutes Dutzend Künstlerinnen und Künstler präsentiert hier von Anfang Juni bis Ende August seine Werke.
In einer Fabriketage direkt am Wasser ist das spannende Grafikstudio Himmelblau zu Hause, das in einem besonderen Tiefdruckverfahren hochwertige Kunstgrafiken produziert: Zuschauer sind willkommen. Es riecht nach Farbe und Arbeit. Durch die großen Fenster fällt das Licht in die Werkstätten und Ausstellungsräume, die vor industriellem Charme und Kreativität sprühen. Draußen rauscht der Tammerkoski vorbei und über den Strom hinweg blickt man auf eine weitere Industrieikone der Stadt: die Tampella-Schwermaschinenwerkstatt, in der heute das Museumszentrum Vapriikki (dt. Fabrik) untergebracht ist.
Designträume in alten Mauern
Durch die Parks am Ostufer spaziere ich Richtung Süden. Eine Fussgängerbrücke führt über die rauschende Schwelle des Wasserkraftwerkes nach Kehräsaari (dt. Spinneninsel), einem weiteren charmanten Wollfabrikgelände mit Bars und Restaurants sowie Werkstätten und Shops lokaler Designer, zum Beispiel die Schuhmacherei Pihka oder die auf Keramik, Schmuck und Mode spezialisierte Boutique PikkuPutiikit. Im Tampere Design District, nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Uferseite, reihen sich weitere wunderbare kreative Shops aneinander: finnisches Design vom Feinsten – ästhetisch, nachhaltig, natürlich.
Ganz in diesem Geist steht auch der Ort, an dem ich den Abend und die Nacht verbringe: Irgendwo zwischen Bahnhof und Konzerthalle lebt der junge Unternehmer Ville Virkki seinen eigenen Tampere-Traum. Zunächst baute er 2014 mit dem Architekturbüro Puisto die großflächigen Etagen eines Büro- und Fabrikgebäudes zu seinem Dream Hostel um. Design und Raumplanung seiner hippen Herberge sorgten international für Aufmerksamkeit. Im letzten Jahr nahm er dann das Gebäude gegenüber in Angriff und schuf dort eine »urbane Sauna« namens Tullin-Sauna, wo man jetzt in schönster Industrieatmosphäre schwitzen und danach wunderbar essen und lokales Craft-Bier trinken kann. Man muss die Möglichkeiten sehen können, denke ich, betrachte die dicken Holzbalken auf dem Betonboden und gieße noch eine Kelle Wasser auf die heißen Steine des Ofens.