Direkt vor der Haustür beginnt die wilde Schärenwelt. Einsam, unberührt, verträumt. Nicht viel höher als die Wellen selbst erheben sich die kleinen Steineilande aus dem Meer. Manche felsig und schroff, fast wild. Andere bucklig und grün. Dazwischen prägt das tiefe Blau des Atlantiks das Landschaftsbild. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Region Trøndelag an der Küste Mit-telnorwegens mit ihren Tausenden von Schären als eine der schönsten Gegenden des ganzen Landes gilt.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Stokkøya, eine kleine Insel rund 120 Kilometer nördlich der Stadt Trondheim, ist ein Symbol für diese malerische, nordische Romantik. Der Großteil der Natur ist hier unberührt. Die für Skandinavien so typischen, eiszeitlich geprägten, felsigen Küstenabschnitte treffen auf einen der schönsten Sandstrände Norwegens. Auf den saftig grünen Wiesen grasen im Sommer Schafe, am Himmel kann man nicht selten Adler beobachten.
Ausbesserung einer Narbe
»Es ist hier unglaublich schön. Dementsprechend schmerzhaft ist es, wenn dieser wundervollen Natur eine Narbe zugefügt wird«, sagt Ingrid Langklopp. Die Norwegerin wohnt seit 2005 auf Stokkøya und hat seitdem hautnah erlebt, wie schwierig der Balanceakt ist, wenn der Fortschritt der Zivilisation plötzlich in die Natur eingreift.
Anfang der 2000er Jahre beschließt die Regierung, die gute wirtschaftliche Lage der Region dazu zu nutzen, die lokale Infrastruktur auszubauen. Eines der Projekte: eine Brücke auf die bis dato nur per Fähre erreichbare, einige hundert Meter von Stokkøya entfernte Nachbarinsel Linesøya. »Auf der einen Seite war es gut für die lokale Bevölkerung, dass man diese Initiative gezeigt hat. Auf der anderen Seite wurde die Straße mitten durch den Fels gesprengt – und man hat sich nicht groß gekümmert, diese Narbe in der Landschaft auszubessern«, erinnert sich Ingrid und verweist auf das Asphaltband, das sich wie eine dunkle Grenzmarkierung zwischen Strand und Felsklippen am Meer entlangzieht. »Das wollten wir so nicht hinnehmen. Also haben wir uns überlegt, wie wir die Narbe ausbessern und gleichzeitig die lokale Infrastruktur fördern können. Das Ergebnis ist unser Projekt Bygda 2.0.«
Lebensmittelpunkt abseits der Stadt
Bygda – das bedeutet im Norwegischen so viel wie Dorf. 2.0 steht für den modernen Ansatz, den Ingrid und ihre Mitstreiter verfolgen: Einerseits einen Zivilisationsmittelpunkt schaffen, der sich mithilfe einer naturaffinen Architektur und der Nutzung nachhaltiger Technologien in das Landschaftsbild einfügt, andererseits aber all das bietet, was man zum täglichen Leben braucht. Ein Mikrokosmos, der Natur und Einwohner gleichermaßen wertschätzt. »Wie im Rest der Welt schreitet die Urbanisierung auch in Norwegen stark voran. Seit 2008 leben hier mehr Menschen in den Städten als auf dem Land – dieser Trend setzt sich rasend schnell fort. Langfristig wird das für ländliche Regionen zum Problem«, sagt sie.
Auch Stokkøya ist von dieser Entwicklung betroffen und kämpft mit Abwanderung und rückläufigen Kinderzahlen. Zusammen mit ihrem Mann Niels, ihrer Schwester Torild und deren Mann Roar, will sie sich diesem Trend entgegenstellen. 2011 kaufen die vier aus diesem Grund das Land an der durch den Bau der Linesøya-Brücke gesprengten Straße – und beginnen damit, ihre Vision eines modernen Dorfes, das sich nahtlos in die fast unberührte Natur der Insel einfügen soll, umzusetzen.
Gemeinsam mit regionalen Förderern werden so in den folgenden Jahren Schritt für Schritt moderne Wohnhäuser an der Küste errichtet. Dazu entsteht ein Co-Working-Space mit Arbeitsplätzen für all diejenigen, die nicht nach Trondheim pendeln wollen. Die Idee findet schnell Zuspruch und so dauert es nicht lange, bis die Wohnhäuser verkauft sind und sich auch eine Bäckerei, ein Café und sogar eine kleine, lokale Brauerei im Dorf 2.0 ansiedeln. »Die Brauerei ist mittlerweile wieder aus-gezogen, weil sie zu schnell gewachsen ist«, schmunzelt Ingrid. »Aber die schnelle Entwicklung zeigt, dass die Leute hier nur darauf gewartet haben, dass es einen lebendigen Lebensmittelpunkt auf Stokkøya gibt.«
Das größte Gebäude der Siedlung ist die Bygdebox, eine wie ein hohes Dreieck spitz nach oben zulaufende, 300 Quadratmeter große Mehrzweckhalle und zugleich das Herz von Bygda 2.0. »Es gibt dort Arbeitsplätze und Konferenzräume und genauso finden hier auch Feste und kul-turelle Veranstaltungen statt«, erzählt Ingrid. »Im Prinzip gibt es alles, was man zum Leben braucht, ohne, dass man sich dafür in der Großstadt befinden muss. Man kann sich zum kulturellen Austausch treffen, arbeiten und kreativ sein – im Einklang mit der Natur. Das ist unsere Interpretation des norwegischen Dorfes der Zukunft.«
Internationale Aufmerksamkeit
Besonders stolz ist Ingrid auf den modernen und zugleich natürlichen Charakter der Bauwerke. Jedes entsteht in Zusammenarbeit mit renommierten Architekturbüros der Region. Die Bygdebox hat es aufgrund ihres besonderen Designs sogar in die Finalauswahl für den norwegischen Architekturpreis geschafft.
Sich nahtlos in die steinige Küstenlinie einfügende Betonfundamente treffen bei der großen Halle auf knorrige, baumähnliche Holzsäulen. Lichtspendende Glasfassaden sorgen im Inneren dafür, dass man einen atemberaubenden Blick auf die verträumte Inselwelt vor Stokkøya und den in der Nähe liegenden, kleinen Hafen genießt. Viele Elemente der Bygdebox wie Fenster und Türen sind aus zum Abriss freigegebenen Projekten der Region wiederverwendet worden. Ein Teil der Inneneinrichtung stammt so von einem alten Gebäude in Trondheim. »Wir arbeiten ausschließlich mit Architekten zusammen, die sehr gut darin sind, nachhaltige und moderne Elemente zu kombinieren, gleichzeitig aber Rücksicht auf das Landschaftsbild nehmen«, sagt Ingrid. Bei den frisch gebauten Wohnhäusern treffen Holzelemente auf moderne Werkstoffe, die eckigen Formen wirken wie die Fortführung der skandinavischen Küstenlandschaft – so, als ob sie selbst kleine Schäreninseln inmitten der Felsformationen am Meeresufer wären.
Dass das Konzept der Siedlung 2.0 ankommt, zeigt nicht nur der Zuzug der regionalen Unternehmen und die damit einhergehende Schaffung von Arbeitsplätzen – auch international bekommt das visionäre Architekturprojekt in Stokkøya, für das Ingrid und ihre Familie den norwegischen Gründerpreis Norges Vels bekommen haben, Aufmerksamkeit. Mit einer Universität in London pflegt man ein Kunstaustauschprogramm, im Rahmen dessen sich Künstler von der Natur der norwegischen Küste inspirieren lassen können. Regelmäßige Konzerte ziehen Menschen aus umliegenden norwegischen Regionen an. Und auch Reisende interessieren sich vermehrt für die lange Zeit weitestgehend unbekannte Insel, die mit ihrer unberührten Natur ein Paradies für Outdoor-Aktivitäten wie Paddeln, Mountainbiken und Wandern ist. »Das ist das Tolle an unserem Projekt. Es spricht sowohl die lokale Bevölkerung als auch Besucher an. Es gibt Arbeitsplätze und Raum, wenn man sich niederlassen will, zugleich kann man aber auch herkommen, um nur für ein paar Monate zu bleiben – oder eben Urlaub zu machen«, sagt Ingrid.
In den nächsten Jahren soll auf Stokkøya weiterer Wohnraum entstehen, um das Modellprojekt eines modernen, nach-haltigen Dorfes auch langfristig erfolgreich werden zu lassen – selbstverständlich im Einklang der malerischen Umgebung Stokkøyas. »Die große Frage, die wir mit Bygda 2.0 beantworten möchten, ist die, wie wir ländlichen Gebieten eine Zukunft geben können – ohne dabei die Schönheit der Natur zu zerstören. Die ist schließlich genau der Grund, warum Menschen auf dem Land leben wollen«, sagt sie. Der Grundstein dafür ist auf Stokkøya, der kleinen, verträumten Insel inmitten der wilden Schärenwelt des Trøndelag an der mittelnorwegschen Küste, jedenfalls gelegt. Aus der einstigen, durch den Bau der Linesøya-Brücke entstandenen Narbe in der felsigen Küstenlandschaft ist ein Symbol mit Strahlkraft weit über die Inselgrenzen hinaus geworden – für die Vision eines Dorfes der Zukunft.