Frischluft-Fitness mit Lagerfeuer
Das Naturreservat Delsjön bei Göteborg ist ein Paradies für Naturliebhaber. Doch auch Sportfans kommen hier voll auf ihre Kosten. Steinbrocken fungieren als Hanteln, matschige Pfade fordern die Bauchmuskeln heraus und umgestürzte Bäume werden zum Hindernisparcours.
Komm, da krabbeln wir auf allen vieren runter!«, sagt Emmy und schaut nach unten auf einen matschigen Abhang voller Steine. Wir haben uns gerade etwas warm gejoggt. Es sind nur ein paar Grad über null im Wald und der Raureif knirscht beim Laufen unter unseren Füssen. Der Pfad sieht steil und glatt aus. Doch Emmy hält an ihrer Idee fest: »Los jetzt, wir krabbeln da runter!« Worauf alle Personen unserer kleinen Gruppe die Hintern in die Luft strecken und mit dem Kopf voran auf allen vieren den Pfad in Angriff nehmen. Unsere Handschuhe rutschen auf dem feuchten Untergrund ab, Bauch- und Rückenmuskeln kommen voll zum Einsatz und die Füsse versuchen, rechtzeitig auf die Steinbrocken zu reagieren. Die Teilnehmer der »Krabbelgruppe« nennen sich »The Persistent Few« (dt. eine kleine Zahl ausdauernder Leute) und besteht aus einigen Freunden, die sich normalerweise dreimal wöchentlich viertel nach sechs in einem Göteborger Park treffen, um gemeinsam Sport zu machen – bei jedem Wetter.
Doch an diesem Wochenende steht Wald statt Park auf dem Programm: 24 Stunden Sport an der frischen Luft inklusive Übernachtung in einer Windschutzhütte. Meistens ist immer einer in der Gruppe für eine Trainingseinheit verantwortlich, aber heute sind gemeinsame Kraftanstrengungen gefragt, wenn es darum geht, Übungen zu finden, die zur Umgebung und zum Untergrund passen. Dort, wo der Abhang endet, stehen einige Holzschilder, die als Wegweiser fungieren. Wir funktionieren sie kurzerhand um und benutzen sie als Hilfsmittel für Liegestützen, Pull-ups und Kniebeugen.
Danach joggen wir auf dem Pfad weiter durch den Wald. An einer Lichtung stehen wir plötzlich vor einem steilen Berg. Erik, unser Fotograf, der die Gegend gut kennt, teilt uns mit, dass rechter Hand ein kleiner Pfad nach oben führt. Doch alle sind sich einig, dass der anstrengendste Weg der beste ist und nehmen den direkten Weg nach oben – im Laufschritt. Das Moos wird unter unseren Schuhen zur Rutschbahn. Es ist steil und glitschig. Immer wieder greifen wir ins Gras, um nicht abzurutschen. Später sagt Emmy, dass solche Herausforderungen der Grund dafür sind, warum Sport in der freien Natur so effektiv ist – man ist gezwungen, mit ganzem Körpereinsatz zu arbeiten, aber auf ganz natürliche Weise.
Wollunterwäsche und Wein
Einige Stunden zuvor haben wir uns am Parkplatz von Delsjön getroffen, einem großen Waldgebiet östlich von Göteborg, das teilweise ein Naturreservat ist. Es ist mit Trimm-Dich-Pfaden und Wanderwegen ausgestattet und liegt so nah an der Stadt, dass man sogar mit der Straßenbahn hierherfahren kann. Wir haben uns für unseren Wochenendtrip den wilderen Teil ausgesucht, wo es unberührte Natur und schmale Pfade gibt. Emmy, Anna, Lotta, Jerker, Anders und Rikard sowie ich selbst und der Fotograf sind mit von der Partie.
Das Training kommt erst an zweiter Stelle, die Gemeinschaft an erster.
Zuerst schleppen wir unsere Rucksäcke, die mit warmer Kleidung gefüllt sind, Tüten mit Feuerholz und Wasserbehälter einige Kilometer durch den Wald zu einer Windschutzhütte – und reichlich leckeres Essen und guten Wein natürlich. Es soll niemand zu kurz kommen. Die Gruppe hat sich aus einem Military-Fitnesskurs heraus entwickelt. Doch nachdem der ursprüngliche Leiter aufgehört hatte und sie feststellten, dass die nachfolgenden nicht an die Qualität des Vorgängers herankamen, machte es nur noch halb so viel Spaß wie am Anfang. Während wir in den Wald hineinlaufen, erklärt mir Lotta, wie es dazu kam, dass sie und die fünf anderen Teilnehmer der Gruppe sich kurzerhand für ein eigenes Trainingsprogramm entschieden haben. »Einige von uns dachten, dass wir die Übungen genauso gut alleine machen könnten – und das kostenlos.«
Keuchend frage ich, ob das Training denn trotzdem genauso effektiv sei, wie in einem Kurs mit professionellem Anleiter. »Ja, das ist es«, lautet die Antwort. »Und es macht so viel mehr Spaß. Wir sind mittlerweile alle miteinander befreundet.« Die Gruppe spielt eine wichtige Rolle. Der soziale Aspekt ist dabei am wichtigsten. Das Training kommt erst an zweiter Stelle, die Gemeinschaft an erster. Ohne die Gruppe würde keiner regelmäßig diese Art von Sport machen. »Der Teamgeist treibt uns an«, sagt Anders. »Wenn ich als Letzter ankomme, stehen sie alle am Ziel und feuern mich an.«
Gemeinsam in einem Fitnessstudio Sport zu machen, kommt für keinen aus der »Persistent Few« in Frage. Emmy findet Sportstudios grundsätzlich eher abstoßend und Anders ist lieber draußen an der frischen Luft, auch wenn es regnet. Jerker findet das Freilufttraining praktisch: »Man kann draußen eigentlich überall Sport machen«, sagt er. »Außerdem kann man kreativ werden. Niemand muss auf einem Weg joggen. Stattdessen kann man einen Berg hochlaufen oder einen Baum zum Sportgerät umfunktionieren«, fügt Anders hinzu.
Auf dem Abenteuerspielplatz
Es geht weiter. Derjenige, der an erster Stelle läuft, ist dafür verantwortlich, sich Übungen auszudenken, bis der Nächste übernimmt. Wir laufen im Slalom zwischen den Bäumen hindurch, über dichtbewachsene Waldhügel, durch Preiselbeersträucher und über Felsen, kriechen unter umgestürzten Baumstämmen hindurch und rennen Treppen hinauf. Oben angekommen, machen wir keuchend das Victory-Zeichen. Ich laufe ganz am Schluss und denke während der Übungen, dass sie sich irgendwie gar nicht wie eine Trainingseinheit anfühlen. Die Kälte beißt im Gesicht und ich schwitze, aber eine Kiefer hoch- und runterzuklettern, macht einfach Spaß. Es ist ein bisschen wie früher, als ich klein war und im Wald gespielt habe. Wir beenden die Einheit mit Zirkeltraining unter ein paar kahlen Birken. Jerker gräbt einen Stein aus der Erde hervor. »Jetzt sind die Bizepse dran«, sagt er und hebt den Stein mit einer Hand hoch. Danach zeigt er auf einen Felsbrocken: »Da machen wir Dips.«
Ein weiterer Stein wird über den Kopf in die Luft gestreckt. Mit Stein Nummer vier wird Gewichtheben trainiert. Während der eine Sit-ups macht, macht jemand anderes Liegestützsprünge. Nach zehn Durchgängen werden die Übungen gewechselt. Der Schweiß rinnt mir den Rücken herunter, und unsere Klamotten haben eine ordentliche Ladung Dreck abgekriegt. Eine Sache, die beim Frischlufttraining fehlt, ist die Dusche. Stattdessen gibt es einen kleinen See bei der Windschutzhütte. Die Wassertemperatur liegt bei null Grad. Rikard ist als Erster im Wasser. Es wird ein kurzes Intermezzo: »Alter Falter, das ist richtig kalt.«
Die Haut ist wie betäubt und die Gelenke schmerzen. Die Schwimmzüge werden in Rekordzeit absolviert. Doch als wir aus dem Wasser kommen und der Kreislauf wieder in Gang kommt, fühlen wir uns wie im Rausch. Ein Kick voller Glückshormone und das Gefühl, gesund und stark zu sein, überwältigen uns. Es ist Mittagszeit und wir machen ein Feuer auf der kleinen Halbinsel am See, während das Haar unter der Mütze trocknet. Wir machen Stockbrot und sehen zu, wie es über der Glut knusprig braun wird. Ein paar Stunden später geht der Mond auf, und es fängt an zu dämmern. Es ist eiskalt. »Nur noch sechs Stunden, bis wir ins Bett gehen können«, meint jemand.
Lieder am Lagerfeuer
Es ist eine Herausforderung, 24 Stunden in der Natur zu dieser Jahreszeit so angenehm wie möglich zu machen. Mit Stirnlampen irren wir durch den Wald und suchen feuchtes Feuerholz, um das Lagerfeuer zu vergrößern. Während der Mond über den Himmel wandert und tief in den Tannen landet, friert der See in aller Stille zu. Weit entfernt hört man die Autobahn, aber das Knistern des Feuers ist lauter. Wir trinken Rotwein, singen zusammen und schaufeln Chili con Carne und Schokoladenkuchen in uns hinein. Schließlich verfrachten wir uns eng aneinander gedrängt in die Windschutzhütte und ziehen mehrere Schichten wärmender Thermounterwäsche übereinander an.
Wenn ich als Letzter ankomme, stehen sie alle am Ziel und feuern mich an
Am nächsten Morgen wachen wir fast alle mehr oder weniger steif und zitternd auf. Ich habe Muskelkater, aber mir ist warm. Annas Rücken ist steif, und Anders hat die ganze Nacht gefroren. Er macht Feuer, und kurz darauf stehen wir um die wärmenden Flammen herum und trinken Kaffee. Anna berichtet mir von den Reaktionen ihrer Arbeitskollegen, als sie ihnen von dem bevorstehenden Wochenendausflug erzählte: »Einige meinten, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Andere fanden es total heftig, so was zu machen.