Sie kommt stets Anfang Mai auf die Insel. niemals von Menschen in Besitz genommen. Sie kennt sich aus, landet seit 18 Jahren immer am selben Strand. Bahnt sich routiniert einen Weg über Steine, Sand und Grasbüschel und macht schließlich dort halt, wo in jedem Frühsommer ihr Zuhause ist. Sie ist eine Eiderente und sie heißt Mette-Marit. Sie huscht unter die Terrasse, was ihr den Spitznamen »die Verandadame« eingebracht hat, und fängt an, in dem Nest herumzuwirtschaften, das dort unten auf sie wartet. In dem glänzend schwarzen Tang wird sie nun 28 Tage liegen. So lange dauert es, die Eier zu bebrüten, bis die Küken schlüpfen. Dann wird sie mit ihren noch unsicher schwankenden Jungen wieder zum Strand hinuntertrotten. Das heißt natürlich nur, wenn alles gut geht. Denn eine Eiderente muss viele Herausforderungen bewältigen. Auf der kleinen Insel Lånan, die von Weitem aussieht, als würde sie im blaugrünen nordnorwegischen Meer auf- und abschaukeln, verringern sich diese Gefahren erheblich – mithilfe des Menschen.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Im Reich der Eiderenten
»Willkommen im Reich der Eiderenten!«. Es ist Hildegunn Nordum, die uns begrüßt, als wir über den Steg kommen. Sie ist auf Lånan geboren und hat bis zu ihrem 16. Lebensjahr auf der Insel gewohnt. Jetzt hält sie sich hier jedes Jahr für einige Monate auf und folgt dem Rhythmus der Seevögel. Sie bezeichnet sich selbst als Vogelwächterin, genau wie ihre Cousinen Erna Øvergård und Margit Lande.
Die Truppe führt uns über die verschlungenen Pfade der Insel. »Man kann hier nicht einfach so herumlaufen, man muss sich an die Wege halten, damit man nicht auf ein Nest tritt oder einem scheuen Vogel zu nahe kommt«, erklärt Erna. Wegen der Vögel sind auch die Besuchszeiten auf der Insel eingeschränkt. Zweimal in der Woche können Touristen einen Einblick in das außergewöhnliche Zusammenwirken von Vogel und Mensch erhalten, das sich hier abspielt. Allerdings unter streng kontrollierten Bedingungen – man wird in einer kleinen Gruppe über die Insel geführt.
Lånan gehört zum Vega-Archipel, der knapp südlich des Polarkreises liegt und aus mehreren tausend kleinen Inseln und Schären besteht. Türkisfarbenes Wasser, sanft abfallende weiße Strände und weich gerundete Klippen kennzeichnen diesen Schärengarten. Lånan ist ein Eiland, das früher zwar bewohnt war, aber niemals von Menschen in Besitz genommen wurde. Vielmehr gehört es dem kalten norwegischen Meer, von dem es leicht vollständig verschlungen werden könnte. Und dem Wind, der dicht an den sanft geschwungenen Ufern entlangstreicht, und der Sonne, unter der sich die Gesichter der Vogelwächterinnen tiefbraun färben. Doch zuallererst gehört Lånan wohl den weiblichen Eiderenten: 600 von ihnen leben dort zurzeit – und nur etwa zehn Menschen.
Lånan ist ein Eiland, das nie von Menschen in den Besitz genommen wurde.
Dauerhaft bewohnt war die Insel Lånan bis zum Jahr 1980, und zwar seit dem 17. Jahrhundert, vielleicht sogar seit dem 13., glaubt Hildegunn. Schon damals drehte sich hier alles um die Eiderente, deren Eier und Daunen als wertvolle Tauschwährung galten. Im 19. Jahrhundert weideten Kühe das Gras ab und alle Einwohner waren miteinander verwandt. Im Winter fuhren die Männer unter harten Wetterbedingungen hinaus zum Fischen am Lofoten-Archipel, während die Frauen sich um die Eier und Daunen kümmerten. Über viele Generationen war das für die Frauen der Vega-Inseln ein wichtiger Erwerbszweig. Oft verdienten sie mit dem Sammeln der Daunen mehr als die Männer mit der Fischerei.
Die Insel im Blut
Hildegunn erzählt uns, dass sie und ihre Cousinen die Insel im Blut haben. Im Winter macht sich das als brennende Sehnsucht in der Brust bemerkbar. Es ist ihr wahres Zuhause, auch wenn sie jedes Jahr nur ein paar Monate hier verbringen können. »In meiner Kindheit war das Leben auf der Insel sehr einfach und naturnah. Ich erinnere mich, dass das hier ein fantastischer Ort zum Aufwachsen war. Unser Alltag wurde auf vielfältige Weise vom Lebenszyklus der Eiderenten bestimmt. Wenn die Entenweibchen sich ihre Nistplätze suchten, mussten wir im Haus bleiben und ganz leise spielen«, berichtet sie. »Wir waren hier damals 45 Personen. In den Siebzigerjahren wollte die Regierung die Insulaner aus praktischen Gründen aufs Festland umsiedeln und wir mussten eine Vereinbarung unterschreiben, in der wir versicherten, dass wir nicht mehr auf der Insel wohnen würden.« Die Frauen konnten die Vögel jedoch nicht vergessen. »Unsere Mütter begründeten die Tradition, sich jeden Sommer hier draußen aufzuhalten und sich weiter um die Eiderenten zu kümmern.«
Aus der wuchernden Pflanzenwelt von Lånan erheben sich merkwürdige Holzkonstruktionen. Es sind die Vogelhäuser, in denen die Entenweibchen wohnen, während sie brüten. Diejenigen, die von Natur aus gesellig sind, entscheiden sich für diese Quartiere, in denen jeweils mehrere Enten nebeneinander Platz finden. Andere wohnen einzeln in kleinen Steinbauten und dann gibt es noch solche, die Zu ucht im hohen Gras suchen. Um sie sorgt sich Hildegunn am meisten, weil sie leichte Beute für Raubvögel sind.
Die kleinen Holzhäuser, von Sonne und Salz mit einer Patina überzogen, ragen wie ein Miniaturdorf aus dem Gelände hervor. Vorsichtig bahnt Hildegunn sich ihren Weg durch das Gras, um nach den Eiderenten zu sehen, die sich draußen niedergelassen haben. »Da ist eine«, üstert sie und zeigt auf eine schöne Ente, die uns aus dunklen Augen ruhig betrachtet. Ihr Gefieder glänzt in der Sonne. Als wir uns leise entfernen, bleibt Hildegunn stehen und schaut beunruhigt zum Himmel. Dann läuft sie plötzlich los, rennt durch das Gras und winkt mit erhobenen Armen. Ein schwarzer Vogel segelt im Tie ug über die Insel. Hildegunns heftige Armbewegungen bewirken, dass er abdreht und schließlich am Horizont verschwindet.
»Das war eine Schmarotzerraubmöwe, eine der gefährlichsten Feindinnen, weil sie ganz plötzlich herabstößt und die Eier stiehlt«, erklärt Hildegunn atemlos. Auf Norwegisch heißt der dunkle, spitzflügelige Vogel »tjuvhjo«, auf Schwedisch »kustlabb«. Wenn er seine großen Schwingen ausbreitet, erinnert er an einen Falken. Wenn das Unglück tatsächlich passiert und Eier geraubt werden, legen die Inselbewohner polierte Holzeier ins Nest, denn bei zu wenig Eiern besteht die Gefahr, dass die Ente ihr Gelege verlässt.
Die Arbeit, die die Frauen – und auch ein paar Männer – auf der Insel leisten, wird von der Unesco hoch geschätzt. Im Jahr 2004 erhielt der Vega-Archipel den Status des Weltkultur- und Weltnaturerbes. Die Inseln repräsentieren eine nachhaltige Lebensform, die Generationen von Fischern und Bauern in einem unwirtlichen maritimen Milieu über 1 500 Jahre aufrechterhalten haben, auf der Grundlage einer mittlerweile weltweit einzigartigen Produktionsmethode für die kostbaren Eiderdaunen.
Wir spazieren weiter über die kleine Insel. Mädesüß wächst hier wild und säumt zwischen Juni und August die Pfade mit sahnig weißen Blüten. Sie duften nach Mandeln und die Bewohner stellen aus der Pflanze sowohl Saft als auch Likör her. Jenseits der üppigen Vegetation sieht man in jeder Himmelsrichtung das Meeresblau. Das Sonnenlicht ist zitronenfrisch, der Wind zerzaust Hildegunns kurzes Haar. Hier ist man den Elementen völlig ausgeliefert. Nur im Westen liegt ein Riff, das gegen die heftigsten Windböen schützt. »Da draußen liegt das o ene Meer«, sagt Hildegunn, den Blick auf den Horizont gerichtet. »Bei Sturm erhebt es sich wie eine blaue, undurchdringliche Wand.«
Anspruchsvolle Entendamen
Jetzt, im Juni, haben alle Eiderenten ihre Nester bezogen. »Dieses Jahr sind sie etwas spät dran«, erklärt Hildegunn. Die weiblichen Enten bleiben dem Ort treu, an dem sie geschlüpft sind, und kehren gern zum Brüten dorthin zurück. Im Mai und Juni liegen sie auf den Eiern. Die Menschen sind schon im April auf die Insel gekommen, haben die Häuser ihrer Kindheit vom Seewind durchlüften lassen und die Unterkünfte der Eiderenten repariert.
Während der Brutzeit ist das Leben auf der Insel gedämpft und still.
»Eiderenten bauen selbst keine Nester, weshalb wir ihnen Behausungen zur Verfügung stellen, die sie vor Feinden wie Raubvögeln und Madern schützen«, erklärt Hildegunn. Die Häuschen legen sie mit Tang aus, den sie aus dem Meer geholt und getrocknet haben. In jedem Frühjahr versorgen sie sämtliche tausend Nester. Der Tang muss gut getrocknet sein, denn Eiderenten sind durchaus anspruchsvoll. Sobald die Entenweibchen ihren Unterschlupf gefunden haben – am liebsten wählen sie dabei den vom vorigen Jahr –, machen die Vogelwächterinnen zwei Rundgänge am Tag, um zu kontrollieren, ob alle in Sicherheit sind. Um das Gelege in dem rauen Klima warmzuhalten, polstern die Enten ihre Nester nun mit ihren Unterfedern, den kostbaren Daunen.
»Wenn man Daunen an wilden Brutplätzen einsammelt, sind sie stark verunreinigt mit Sand, P anzen und Eierschalen«, sagt Hildegunn. »Deshalb legen wir Tang in die Nester. Das macht es einfacher, die Daunen dann gründlich zu säubern.«
Wir verlassen die Vogelhäuser und suchen eines der Insulanerhäuser auf, um mit den drei norwegischen Cousinen auf der Veranda Platz zu nehmen. Hier demonstrieren uns Hildegunn, Erna und Margit, wie die Reinigung der Daunen vor sich geht. Sie sitzen nebeneinander und arbeiten mit inken Fingern. Es ist eine meditative Tätigkeit, die Zeit schenkt für Gedanken und Gespräche. »Es ist die reine Therapie«, sagt Hildegunn und hält einen weichen Daunenball an ihre Wange. Margit benutzt ein Werkzeug, das einer Harfe ähnelt. »Die Daunenharfe«, erklärt sie. Sie breitet die Daunen auf den straffgespannten Nylonsaiten aus und fährt mit einem Holzstock darüber. Durch die Vibrationen fällt sämtlicher Dreck zu Boden, während nur die Daunen an den Saiten haften bleiben. Man hört nichts als das Geräusch ihrer geübten Finger, den Wind und das unablässige Rauschen des Meeres.
Abschied vom Nest
Während der Brutzeit ist das Leben auf der Insel gedämpft und still. Die menschlichen Bewohner sind in Wartestellung, bewegen sich leise und
gewähren den Enten den Schutz und die Ruhe, die sie brauchen. Die Zeit des Daunensammelns beginnt für Hildegunn und ihre Cousinen, sobald die Vogelmütter mit ihren Jungen das Nest für diese Saison verlassen.
»Es sieht herzzerreißend aus, wenn sich die Eiderentenmamas mit den Kleinen auf den Weg zum Strand machen. Enten, die keine Küken haben, kommen zu Hilfe und beschützen die Jungen vor den Möwen, die in seltenen Fällen zuschnappen und eines verschlingen. Aber in diese Wanderung mischen wir uns nicht ein, das schaffen sie allein«, sagt Hildegunn. »Wir widmen uns nun dem Restprodukt, also den Daunen. Wir sammeln sie ein, trocknen sie, zupfen den Tang heraus, legen sie auf die Daunenharfe und zum Schluss kommt die Feinsäuberung in Handarbeit.«
Die drei Cousinen sind zusammen nach Island gereist, um sich anzuschauen, wie die Prozedur dort abläuft. Auf Island werden die Daunen schon seit Langem maschinell gesäubert und so war die einheimische Bevölkerung sehr beeindruckt von der Lektion in manueller Reinigung, die ihnen die Frauen von Lånan erteilten. Ein Kilo Daunen zu säubern, dauert auf diese Weise fast zwei Wochen. Um eine fluffige Daunenbettdecke zu füllen, sind bis zu 70 Nester erforderlich. Aber nicht nur deshalb kostet so eine Decke um die 49 000 norwegische Kronen (etwa 4 900 Euro). Dass gerade Eiderdaunen als so wertvoll gelten, hat mit ihrer Konstruktion zu tun.
»Die Daunen der Eiderente sind extrem wärmeisolierend und sehr leicht«, erläutert Hildegunn. »Sie haben keinen Schaft, sondern nur einen festen Mittelpunkt, von dem die Daunenhärchen wie Strahlen ausgehen. Ganz außen an den Strahlen sitzen kleine Kletthaken, von denen die Daunen zusammengehalten werden. Das ist bei Gänsedaunen nicht so.«
Sie zeigt es uns, indem sie die Daunen mit den Fingern spreizt. Eiderdaunen sind außerdem höchst strapazierfähig. »Ich habe eine Decke, die über hundert Jahre alt ist«, sagt Erna. »Das ist eine tolle Sache zum Vererben.« Und trotzdem bleiben für Hildegunn und ihre Verwandten die Eiderenten das Wichtigste, denn die Liebe zu diesen Seevögeln hat sie seit ihrer Kindheit begleitet. Das Einzigartige und Bemerkenswerte an der Eiderdaunenbranche ist, dass sie ihre Grundlage im natürlichen Lebenszyklus der Eiderente hat und dass die Daunen einfach ein Restprodukt sind, ein Geschenk der Natur. »Ich habe noch nie gehört, dass in dieser Branche etwas Mieses vorgefallen wäre, so wie man es beispielsweise vom Geschäft mit Gänsedaunen kennt«, sagt Hildegunn.
»Die Eiderente ist ein Wildvogel. Man kann sie nicht einsperren und ausbeuten – zum Glück.«
Geliebte Tradition
Es fällt den Frauen alles andere als leicht, am Ende des Sommers die Insel wieder zu verlassen. Die kleinen Vogelhäuser werden gereinigt und verschlossen, genau wie die Häuser der Menschen. Alles wird wetterfest gemacht, um in der nächsten Saison wieder bezogen werden zu können. Nun reisen die saisonalen Insulaner in ihre Heimatorte zurück und sie nehmen die feinsten Daunen mit. Zu Hause stellen sie dann eigenhändig die Decken und Kissen her.
»Wenn frühere Generationen das geahnt hätten«, sagt Hildegunn, »dass die Vögel hier immer noch eine sichere Zuflucht für die Brutzeit finden. Mein Vater machte sich solche Sorgen um die Insel und die Zukunft der Enten. Sie sind ein Teil von uns und unserer Geschichte. Ohne die Arbeit hier würden Marder und Adler die Herrschaft übernehmen, das ist auf allen entvölkerten Inseln so. Die Eiderente würde verschwinden und damit auch die Daunentradition. Ich hoffe, dass es nie so kommen wird.«