Gleiche Wellenlänge: Kreativ in Klitmøller
Das Fischerdörfchen Klitmøller im Nationalpark Thy wurde wegen seiner perfekten Surfbedingungen auch als Cold Hawaii bekannt. Einstige Pioniere wohnen hier heute mit ihren Familien und sorgen für neues Leben im Ort. NORR besucht die kreative Outdoor Gemeinde in Nordjütland.
Vom Dach des Hummerhuset hat man den besten Blick auf Klitmøllers Dorfleben. Am Strand und in der Brandung wimmelt es von Menschen in Neoprenanzügen und von Surfbrettern aller Art. Bunte Segel und Kites tanzen über den Himmel mit seinen mächtigen grau-weißen Wolken. Rechts führt die Strandpromenade vorbei an Fischerhütten, Räuchereien und parkenden Campingbusse hinab in den Sand. Weiter hinten in der Bucht kämpfen Surfschüler in neonfarbenden Shirts mit ihren ersten Wellen. Und das alles vor dem heftigen, unablässigen Rauschen des Windes und des Meeres.
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Das 2012 errichtete Hummerhuset heißt so, weil sich an seiner Stelle einst das Lager befand, in dem die frisch gefangenen Hummer auf ihre Auktion warteten. Der Name ist eine von vielen Referenzen an die Vergangenheit Klitmøllers als Fischerdorf. Genau wie die malerischen Kutter, die hier noch immer einsatzbereit im Sand liegen, jedoch schon seit den siebziger Jahren keinen Einheimischen mehr wirklich mit Einkommen versorgen.
In dem Sinne ist das moderne Gebäude, in dessen Inneren sich statt Hummern nun Surfbretter stapeln und statt Hummerauktionen Surf-World-Cups organisiert werden, ein Symbol der neuen Zeit. Denn die Küste entlang des Nationalparks Thy, von Agger im Süden bis Hanstholm im Norden, ist heute unter dem Namen »Cold Hawaii« als eines der besten Surfgebiete Nordeuropas bekannt – und Klitmøller als sein Zentrum. Vom Hotspot für Windsurfer hat sich der Küstenabschnitt mehr und mehr zum nordischen Mekka für Wellenreiter, ambitionierte Stand Up-Paddler und Kitesurfer entwickelt. Ein fünf Kilometer ins Meer ragendes Kalksteinplateau lässt die Wellen hier bis zu sechs Meter hoch werden und gleichmäßig brechen. Perfekt, um auf ihnen zu reiten oder über sie in den Himmel zu springen.
Mit Gleichgesinnten in der Natur
Es ist schwer zu sagen, was aus dem 800-Seelen-Dorf Klitmøller, das wie eine einsame Insel im weiten Nationalpark liegt, nach dem Ende der Fischerei wohl geworden wäre, hätten nicht die Surfer irgendwann die Vorzüge seiner rauen Natur für sich entdeckt. Im Vergleich zu anderen Ferienorten an der Küste Jütlands bläst der Wind hier härter, ist der Strand steiniger und das Meer gewaltiger. Das muss man schon lieben, um sich hier wohlzufühlen. Dennoch, oder vielleicht auch deshalb, hat sich Klitmøller zu einem beliebten Wohn- und Ferienort entwickelt. Während überall in Dänemark die Provinzen mit Abwanderungen in die Metropolen zu kämpfen haben, ist das zügige Fischerdorf gerade unter großstadtmüden Dänen populär. Hier lebt es sich günstig inmitten der Natur und trotzdem gibt es eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die einen vor der sozialen Isolation bewahrt.
Während überall in Dänemark die Provinzen mit Abwanderungen in die Metropolen zu kämpfen haben, ist das zügige Fischerdorf gerade unter großstadtmüden Dänen populär.
Einfach den Laptop und die junge Familie einpacken und statt der teureren Wohnung in Kopenhagens Zentrum ein Häuschen in Thys Dünen mieten: weniger arbeiten, mehr surfen. Und mit Menschen abhängen, die den gleichen Traum – und die gleiche Flexibilität – haben. Am Ørhagevej, der recht schmucklosen Hauptstraße, die durch den Ort Richtung Strand führt, liegt neben der Einfahrt zu einer ehemaligen Autowerkstatt das Haus des Bürokollektivs Cowork Klitmøller. Hier treffe ich die Fotografin Mette Johnsen und ihren Mann Rasmus, Kommunikationsstratege, Projektmanager und einer der Köpfe hinter dem Erfolgskonzept »Cold Hawaii«.
Unter diesem medienwirksamen Titel hatte Rasmus in den Jahren 2006 und 2007 zusammen mit dem lokalen Surfclub NASA und der Gemeinde Thisted einen Masterplan für das nordjütländische Küstengebiet entwickelt. Auslöser war damals der geplante Ausbau des Hafens in Hanstholm, der eines der besten Surfgebiete hier gefährdet hätte. »Wir wollten nicht den Hafen an sich verhindern, sondern die Verantwortlichen dazu bewegen, den Platz zu überdenken«, so der passionierte Surfer Rasmus.
Er und seine Mitstreiter verstanden, dass eine reine Anti-Hafen-Kampagne nur Fronten geschaffen hätte und dass man mit einem kleinen Surfspot keine große Politik machen kann. »Mit dem Masterplan konnten wir zeigen, dass es sich für die Region wirtschaftlich lohnen kann, auf das Surfen zu setzen.« Schließlich wurde nicht nur der Plan für den Hafen geändert, sondern auch ein neues nachhaltiges Tourismuskonzept geschaffen. Rasmus erzählt, wie wichtig es war, neben der Politik auch die Menschen in den Gemeinden mit einzubinden, deren Verhältnis zu den Surfern bis dahin milde gesagt problematisch war: »Es gab gerade unter den Einheimischen, darunter noch viele ehemalige Fischer, wenig Verständnis für unseren Sport und Lebensstil. Vor dem Meer hat man Respekt. Da stürzt man sich nicht einfach rein, wenn die Wellen meterhoch sind.«
Er zeigt Bilder aus den Achtzigern und Neunzigern mit unzähligen Campingbussen, die wild in den Dünen, auf den strandnahen Wegen und Wiesen parken. »Die Surfer kamen am Wochenende, surften und spielten laut Musik, aßen ihr mitgebrachtes Essen und ließen dann noch ihren Müll zurück. Das war der Eindruck.« Heute hat sich das komplett geändert. Die allermeisten Bewohner Klitmøllers freuen sich über das neue Leben im Dorf, über die jungen Familien der reifer gewordenen Surfer, die nicht nur von Freitag bis Sonntag Spaß haben, sondern hier leben und Teil der Gemeinschaft sind. So wie Mette und Rasmus und ihre beiden Kinder.
Kreative Matchmaking-Zone
Während wir in der Küche sitzen und sprechen, klingelt es an der Tür. Draußen steht Hannes, ein Programmierer aus Hamburg, der im Cowork für drei Tage einen Platz gemietet hat. »Ich hatte letzte Woche eine Mail geschrieben«, so Hannes. »Ah ja. Komm rein. Such dir einen Platz aus. WLAN-Passwort ist »cowork« und da ist die Kaffeemaschine«, so Rasmus.
Cowork ist eine offene Bürogemeinschaft. Die beiden Johnsens teilen sich die Räume zur Zeit mit drei Designern und einem Filmemacher aus dem Ort. Darüber hinaus vermietet man Plätze an »Cold Hawaii«-Besucher wie Hannes, die hier für ein paar Tage in Ruhe arbeiten und surfen wollen. Bei großen Events wie dem Surf World Cup in Klitmøller wird das Haus auch mal zur Kommandozentrale der Organisatoren. Nicht zuletzt dient Cowork auch über die Arbeit hinaus als eine Art privates Minikulturzentrum mit Flohmärkten, gemeinsamen Feiern oder Ausstellungen.
In einem so kleinen Ort hinterlassen 25 junge Leute, die auf Skateboards durch die Straßen rollen und am Strand abhängen, schon einen Eindruck
Rasmus beschreibt das Ganze als »Matchmaking«-Zone, in der Menschen aus Klitmøller und »der ganzen Welt« zusammenkommen, arbeiten, sich austauschen und im besten Fall gemeinsame Projekte starten. Zukünftig wird man hier sogar wohnen können: Haus und Werkstatt werden gerade komplett umgebaut und um einen Anbau mit Gästewohnungen ergänzt, damit es noch einfacher wird, Arbeit und Urlaub zu verbinden.
Mehr Kontrolle über die eigene Zeit
Auch die Modedesignerin Benthe Boesen und der Grafiker Troels Schwarz sind Teil der Cowork-Gemeinschaft. In ihrem Ladenlokal, einer Kombination aus Shop, Atelier und Büro, mischt sich Mode mit kleinen Designobjekten, gerahmten Illustrationen, Aquarellen und Collagen, dazwischen zwei Arbeitsplätze mit Zeichnungen, Ordnern und Stiften. Ein charmantes, auf seine Weise wohl geordnetes kreatives Chaos.
Das Paar war vor gut zehn Jahren, kurz nach der Geburt seiner ersten Tochter, von Kopenhagen nach Klitmøller gezogen. Nicht zum Surfen, sondern »um mehr Kontrolle über die eigene Zeit zu gewinnen«. Passend dazu gründeten sie das Modelabel Slow Works, unter dem sie zusammen mit lokalen Lieferanten individuelle, ökologisch nachhaltige Kleidung produzieren. Die meisten Stoffe dafür färben die beiden per Hand in ihrem eigenen Studio zu Hause im Hinterhof. »Wir nehmen uns dafür so viel Zeit, wie wir brauchen«, so Benthe. Ein solcher Idealismus wäre in Kopenhagen, wo Miet- und Wohnpreise um ein Vielfaches höher sind, wohl undenkbar.
Gleichzeitig profitieren auch die »Slow Worker« vom »Matchmaking«-Gedanken. Troel hat unter anderem das Logo und die grafische Identität für die Marke »Cold Hawaii« entworfen, mit denen der Ort sich selbst und lizenzierte Produkte wie etwa das ortseigene Craft-Bier vermarktet. Man arbeitet außerdem sowohl mit anderen heimischen Modelabels wie Klitmøller Collective oder Elsk zusammen als auch mit Designern von außerhalb, die vorübergehend im Cowork Station machen.
Natur als Inspiration und Kulisse
Für die Designer Benthe und Troel genau wie für die Fotografin Mette steht das Surfen an sich eher im Hintergrund. Dafür ist die Natur des Nationalparks Thy als Inspirationsquelle, Motiv und Szenerie umso wichtiger. Auf den Moodboards von Slow Work im Lokal kann man nachvollziehen, wie etwa aus Bildern der Brandung Muster für die Kollektionen werden. Mette dagegen dokumentiert mit ihren Aufnahmen die ganze Vielfalt Thys – von der endlosen Dünenlandschaft über die dunstigen Wiesen mit weidenden Schafen bis zu den dichten Wäldern der »Plantagen« mit ihren klaren, vogelreichen Seen darin, die einen friedsamen Kontrast zum schäumenden Meer bilden. Oder sie nutzt die mächtige Natur als Kulisse für ihre Mode- und Werbefotografien.
Andere dagegen haben in Klitmøller ihre Surfleidenschaft zum Beruf gemacht. So zum Beispiel Rasmus Fejerskov, ehemaliger Windsurfer und langjähriger Weggefährte von Rasmus Johnsen, der seit vielen Jahren den populären Surfshop Westwind inklusive Surfschule in Klitmøllers Bucht betreibt. Oder Vahineura Itchner und Mor Meluka, eine Halb-Dänin und Halb-Tahitianerin und ein Israeli, die an diesem kalten Ort ihr Cold Hawaii Surf Camp aufgebaut haben. Und natürlich ist da noch Caspar Steinfarth, der hier aufgewachsene Weltmeister im Stand-up-Paddling, über dessen Dokumentation Standing on Water wir bereits in NORR (2016/1) berichteten.
Surfen auf dem Stundenplan
Seit 2014 gibt es im Ort sogar ein Surfgymnasium. Das HF Cold Hawaii ist ein zweijähriges Programm, das als besonderer Zweig vom Gymnasium in Thisted angeboten wird und junge Leute für Jobs in der Surfbranche fit machen soll. Gründer und Leiter Claus Jokumsen empfängt mich vor dem Strandgaarden, einem ehemaligen Schmugglerhof und heute das Klitmøller Badehotel. »Unsere Schüler ziehen hier ein, wenn die Hauptsaison vorbei ist«, erklärt Claus, der gerade das Haus für das neue Schuljahr vorbereitet.
25 surfbegeisterte Jugendliche aus ganz Dänemark, vereinzelt auch aus Deutschland, wohnen hier von September bis Anfang Juni. Ein eigener Bus bringt sie zum regulären Unterricht ins siebzehn Kilometer entfernte Thisted und danach zum Surfen an die Spots, an denen die Bedingungen gerade am besten sind. »Bei guten Wellen kann es passieren, dass der Matheunterricht einfach verschoben wird. Das Besondere an unserem Programm ist, dass die Schüler hier wohnen können und der Stundenplan so flexibel ist, dass man ihn den Gegebenheiten der Natur anpassen kann«, so der Surfschulleiter. Darüber hinaus haben die Jugendlichen besondere Lektionen wie Meteorologie oder Materialkunde.
»In einem so kleinen Ort hinterlassen 25 junge Leute, die auf Skateboards durch die Straßen rollen und am Strand abhängen, schon einen Eindruck«, freut sich Claus. Er meint, dass Schule und Schüler Klitmøller gut tun. Denn sie bringen junges Leben in das alte Fischerdorf und locken ihr ganzes soziales Netzwerk hierher – von Freunden aus der Umgebung bis zu Familienmitgliedern, die oft für längere Zeit vor Ort wohnen.
Viele von Claus’ Schülern landen während oder nach ihrer Ausbildung in Rasmus Fejerskovs Team, wo sie im Westwind Shop oder Verleih mithelfen. Manche werden gar direkt vom Surfschüler zum Surfinstrukteur. Dann dürfen sie ihrerseits Anfängern die Surfkunst und -leidenschaft vermitteln. Anfängern wie mir, die sich im besten Lebensalter noch mal ein cooles Hobby zulegen wollen und nun in neonfarbenen Shirts mit Brett und Wellen kämpfen.
Leicht ist es ja nicht gerade. Vielleicht bräuchte ich mehr als ein paar Stunden Übung. Ein paar Monate? Oder Jahre? Mal hören, ob bei Cowork Klitmøller noch ein Platz frei ist.