Gerade habe ich die Baumgrenze auf dem Fjäll Otsamotunturi überquert, als mir Rentiere entgegenkommen.Später werden mir Rentierzüchter erzählen, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen sollte, jetzt in der Brunstzeit. Die Männchen können aggressiv werden. Zum Glück weiß ich das noch nicht, als ich an ihnen vorbeihusche und mich ein schneeweißer Rentierbulle beäugt. Mein Ziel ist der Nationalpark Lemmenjoki. Einen Abstecher auf den 418 Meter hohen Otsamotunturi, vom dem aus ich den See Inarijärvi und die Insel Ukonsaari erspähen kann, hatte ich mir ebenfalls vorgenommen. Auf dem Eiland mitten im Insarisee, das auch Anwärter für die Unesco-Weltkulturerbe- Liste ist, wurde aus Respekt vor dem alten samischen Glauben, nach dem es eine heilige Opferstätte, eine »Seita«, war, entschieden, Anlegestellen und Treppen abzubauen. Auch das größte Touristikunternehmen in Inari hat seine Katamarantouren zum Eiland eingestellt.
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Meine unbedarfte Rentierbegegnung sollte nicht das erste tölpelhafte Erlebnis während meiner Herbsttour bleiben. Im Sámi-Museum Siida in Inari hatte ich mich eifrig erkundigt, welche Highlights der samischen Kultur ich während meiner Zeit hier nicht verpassen sollte. »Alles hier sind samische Stätten. Die ganze Natur hier ist das kulturelle Umfeld der Sámi«, hatte mir Minna Väisänen vom Sámi-Museum geantwortet. Die Natur ist keineswegs als unberührte Wildnis zu begreifen, wie es der gemeine Wanderer wie ich gerne tut. Auch die Seitas sind keine Sehenswürdigkeiten, die von neugierigen Besucherströmen erobert werden möchten. Die Ukonsaari ist eine bekannte heilige Stätte und als solche eine Rarität. Normalerweise sind Seitas heilige Orte einzelner Familien und werden nicht öffentlich gekennzeichnet.
Mehr als staatliche Nationalparks
Am nächsten Morgen kann ich noch einen Platz auf dem letzten Flussboot für diesen Herbst vom Dorf Lemmenjoki aus ergattern. Bootsfahrten zum Lemmenjoki-Nationalpark dürfen nur die Einwohner aus umliegenden Dörfern durchführen. Das von der Sámi- Familie Paltto geführte Unternehmen Paltto Elämysretket bietet seit den 1970er Jahren Bootstouren an und betreibt eine Rentierfarm. »Viele Wanderer begreifen nicht, dass das hier mehr als staatliche Nationalparks sind, dass die Natur unser Zuhause ist. Zum Teil glauben die Leute sogar, dass wir örtliche Saisonarbeiter seien«, sagt Kaija Paltto, der bedauert, dass hier vor allem Fjälltouren und Polarlichtertrips vermarktet werden. Deshalb möchte die Familie Paltto Gästen Wissenswertes über die Rentierzucht und das Leben der Sámi vermitteln.
Kaijas Sohn Nils-Heikki steuert heute das Flussboot. Je länger wir fahren, desto höher steigen die Berge auf beiden Seiten des Ufers empor. An der Anlegestelle angekommen, serviert Nils-Heikki den Gästen Rentiersuppe und Pfannenkaffee, erzählt von dem Leben auf der Rentierfarm und gibt eine Kostprobe des traditionellen Joik-Gesangs. Ich wandere zu Fuß weiter entlang des Flusses und passiere Kultahamina, das in den 1950er Jahren einen Goldgräberboom erlebte. Das Ende des Gold- abbaus in Lemmenjoki war letzten Sommer das zweite große Thema in der Region. Die Sámi mussten lernen, sich mit zahlreichen Besuchern und deren Spuren zu arrangieren. Während ich weiter gehe, spüre ich, wie ich die Natur mit anderen Augen sehe – ein Gebiet, das den Sámi seit Jahrtausenden gehört.
Gibt man sich der Natur hin, spürt man selbst, welche Orte heilig sein könnten.
Zurück im Dorf Lemmenjoki erzählt mir die Familie Paltto von ihrem Blick auf die Beziehung zwischen Tourismus und ihren heiligen Stätten. Rentierzüchter Heikki ist dankbar, dass man auf Ukonsaari nicht mehr anlegen darf. »Das war die Opferstelle meiner Vor- fahren«, sagt er. In der Familie wird Nord- samisch gesprochen, Heikki selbst ist Inari- same. Kaija sagt, dass Seitas sehr persönliche Plätze sind, über die meist nicht gesprochen wird. »Gibt man sich der Natur hin, spürt man selbst, welche Orte heilig sein könnten«, sagt er. Ich erzähle ihnen von dem weißen Rentier in Otsamo. Von den Palttos erfahre ich, dass weiße Rentiere äußerst selten sind. Für samische Rentierzüchter bedeuten sie Glück.
Keine To-Do-Listen
Am Nationalpark Lemmenjoki treffe ich den samischen Rentierzüchter Petri Mattus. Jetzt im Herbst ist es Zeit, die Rentiere in Winterweidegruppen aufzuteilen. Auch Petri befürwortet die touristische Schließung von Ukonsaari, denn heilige Stätten solle man in Ruhe lassen. Petris Frau Kirsi erzählt mir von der Sulaoja-Quelle, eine der heiligsten Stätten der Sámi. »Ein Unternehmer aus Utsjoki hatte den Plan, das Quellwasser abzufüllen, aber sein Vorhaben stieß auf großen Widerstand. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das ganze Dorf dort in traditioneller samischer Tracht versammeln würde«, berichtet Kirsi.
In der Zeitung lese ich später von der Entscheidung des finnischen Forstamts, alle Wasserabfüllprojekte in Utsjoki zu stoppen. Auch eine touristische Vermarktung soll nicht mehr stattfinden. Ich habe mich früher schon viel mit den Nationalparks in Lappland beschäftigt. Mit meiner letzten Tour hat sich meine Sichtweise jedoch verändert. Es ist, als wäre ich früher mit Scheuklappen durch die Natur gewandert. Ich habe verstanden, dass eine To-do-Liste an Sehenswürdigkeiten nicht die richtige Methode ist, die Kultur der Sámi kennenzulernen. Neugier ist eine bessere Haltung als touristischer Übermut. Ich weiß, dass ich in Zukunft mit einer anderen Einstellung in das Land der Sámi zurückkehren werde, aber davor werde ich mir ein paar neue Wörter beibringen – und zwar auf allen samischen Sprachen.