Licht ist in Skandinavien ein kostbares Gut. Besonders, wenn die Tage kurz und die Sonnenstunden rar sind. So ist es mehr als plausibel, dass die Stadt Stockholm den Auftrag, das schwedische Nationalmuseum im 19. Jahrhundert zu entwerfen, an einen Architekten vergab, der überaus bekannt für seine lichtdurchfluteten Bauweisen war: Der Preuße Friedrich August Stüler, einer der größten Baumeister seiner Epoche, schuf in Stockholm, direkt am Ufer des Norrströms, mit Blick auf die Altstadt und den imposanten Königspalast, ein Großkunstwerk. Nicht weniger prunkvoll als das Schloss auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht plante er ein Museum, das im Stile eines venezianischen Palazzos nicht nur eine Hommage an die Kunst, sondern auch an das natürliche Licht war: Großzügige Fenster und helle, farbenfrohe Säle sollten die Werke auch in den damals ohne Elektrizität noch dunkleren Wintern erstrahlen lassen – und das Museum weit über die schwedischen Grenzen hinaus bekannt machen.
Verblasste Ideen
»Sollten« deshalb, weil der Architekt die Eröffnung des Gebäudes im Jahr 1866 nicht mehr erlebte. Vielleicht wäre ihm die weitere Entwicklung auch gar nicht so lieb gewesen: Denn während sich das Nationalmuseum bald zum größten Kunstmuseum der nordischen Länder entwickelte, verlor sein einst erhelltes Innenleben im Laufe der Jahrzehnte an Leuchtkraft. Das lag nicht an seiner Sammlung mit Werken der größten skandinavischen Maler und vieler internationaler Künstler, sondern am Zeitgeist des 20. Jahrhunderts, der elektrischen Strom und künstliche Beleuchtung über natürliche Sonneneinstrahlung stellte. Die großen Fenster wurden verschlossen, bunte Wände geweißelt und neue eingezogen – und dem Museum damit zugunsten einer leeren Optik das natürliche Licht geraubt. Die ursprünglichen Ideen – sie waren verblasst.
Es mag daher fast wie ein Wink des Schicksals gewirkt haben, als das Nationalmuseum eine aus technischen Gründen notwendige Renovierung als Chance für einen Neustart begriff. Im Jahr 2013 wurde das Gebäude für fünf Jahre geschlossen und durch die Architekten Gert Wingårdh und Erik Wikerstål für die stolze Summe von 120 Millionen Euro von Grund auf restauriert. Seit der Wiedereröffnung im Oktober 2018 haben die Ausstellungssäle ihr natürliches Licht wieder: Die über 300 Fenster ermöglichen, wie früher, den Blick auf die malerische Altstadtkulisse. Die Innenhöfe wurden mit Glasdächern zu lichtdurchfluteten Atrien umgestaltet. Die Säle leuchten in kräftigem Goldgelb, Königsblau oder sanften Pastelltönen. So, wie es einst schon Friedrich August Stüler geplant hatte.
Doch nicht nur das Licht sorgt für mehr Raum. Dank besserer Flächennutzung können nun mehr als 5 000 Kunstwerke präsentiert werden. Vor der Renovierung waren es 1 700. Von einem imaginären Zeitstrahl, der durch die unterschiedlichen Raumfarben transportiert wird, werden die Besucher durch die Räumlichkeiten geführt. Angefangen beim 15. Jahrhundert am höchsten Punkt des prachtvollen Treppenhauses bis hin zum Jetzt im 21. Jahrhundert unten. Die Säle sind thematisch aufeinander abgestimmt und wirken mit ihren Arrangements aus Gemälden, Möbelstücken, Schmuck oder Skulpturen wie in sich abgeschlossene und dennoch sinnvoll zusammenhängende Kapitel in einer Reise durch die Zeitgeschichte.
Falunrote Heimat
Eine Reise, in der neben bedeutenden internationalen Kunstwerken, etwa die Sammlung des einstigen schwedischen Botschafters in Paris, Carl Gustaf Tessin, vor allem die heimische Kunst eine entscheidende Rolle spielt. Das Nationalmuseum in Stockholm erzählt seinen Besuchern auch die Entstehungsgeschichte einer Nation. Die Gemälde des Künstlers Carl Larsson zählen beispielsweise zu den bedeutendsten Schmuckstücken im ganzen Gebäude. Besonders eindrucksvoll: Gustav Wasas Einzug in Stockholm am Mittsommerabend 1523 und Midvinterblot (dt. Mittwinteropfer). Beide zieren meterhoch die Wände des Treppenhauses. Das eine porträtiert einen der imposantesten Momente der schwedischen Geschichte, das andere eine blutige Episode aus der altskandinavischen Dichtung. Bis heute ist Midvinterblot und seine brutale Darstellung des sich selbst opfernden Königs eines der meistdiskutierten Werke der schwedischen Kunstgeschichte.
Eine Historie, die auch durch die typisch nordische romantische Landschaftsmalerei geprägt ist. Maler wie Bruno Andreas Liljefors widmeten sich zeit ihres Schaffens dem Porträtieren ruhiger, melancholischer Landschaften, schimmernder Nordlichter, der wilden nordischen Fauna und der heimischen falunroten Sommerhäuser. Bis heute sind es die Werke der Nationalromantik, die als die typisch skandinavische Kunst gelten. Dabei gehört es zum Konzept, unterschiedliche Motive und Kunststile zu vereinen. Verschwimmende Grenzen, die einen Rundgang durch das Museum ungewöhnlich machen. Besonders deutlich wird dies am Ende der modernen Zeitreise, in der auch Kunstwerke des 20. und 21. Jahrhunderts ihren Platz finden – wie das Design der Scandinavian-Airlines-Flugzeuge der 1950er mit ihrer an die einstigen Drachenboote der Wikinger angelehnten Optik – oder das bis heute weltweit verehrte, typisch reduziert gehaltene schwedische Möbeldesign.
Glücklicher Baumeister
Dass sich die jahrelange, kostspielige Renovierung gelohnt hat – dafür sprechen auch die Besucherzahlen: Im vergangenen Jahr fanden rund 850 000 Menschen ihren Weg in das renovierte Nationalmuseum, das sich auf einen farbenfrohen Auftritt seiner alten Werte besonnen hat. Zuvor waren es nur rund 300 000 bis 400 000 Besucher jährlich. Diese Entwicklung hätte Friedrich August Stüler mit Sicherheit gefallen.