Am Anfang kann ich nur schwer ermessen, wie einzigartig, faszinierend und komplex der alte Wald, den wir besichtigen wollen, tatsächlich ist. In Skepplanda, nordwestlich von Göteborg, holen wir den Naturführer Leif Danielsson ab. Er ist pensionierter Postbeamter und passionierter Hobbybiologe, aktiv für die schwedische Naturschutzbehörde in der Ortsgruppe Risveden.
Der Urwald von Iglekärr – ein Waldstück in der Größe von ungefähr hundert Fußballfeldern –gehört zum Risveden, der mit seinen etwa 200 Quadratkilometern eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Schwedens bildet. Obwohl im Risveden schon seit der Steinzeit Menschen wohnen, war die Gegend nie besonders dicht besiedelt. Die Landschaft ist zu hügelig und der Boden zu mager für Land- oder Forstwirtschaft in größerem Maßstab. In den Fünfzigerjahren, als Leif ein kleiner Junge war, hatten seine Eltern sich hier ein Sommerhaus gekauft. »In meiner Kindheit war Risveden eigentlich nur ein einziger großer Wald«, erzählt er.
Das sieht inzwischen etwas anders aus. Villen, Werkstätten, Lastwagen und andere menschliche Spuren sind nie weit entfernt. Aber trotzdem bilden die Bäume im Risveden noch immer die überlegene Mehrheit – das sehe ich, als wir auf der Landstraße nach Osten in Richtung Kvarnabo weiterfahren. »Die Risveden-Gruppe hat einen Traum und mehrere Etappenziele«, berichtet Leif. Der Traum ist, dass der schwedische Staat den Risveden zum Nationalpark erklärt. Die Etappenziele bestehen darin, die wichtigsten Biotope der Gegend in Naturreservate umzuwandeln.
Hier verzeichnet man bereits Erfolge: Elf Reservate gibt es inzwischen in Risveden. Während im Landesdurchschnitt gerade einmal 3,5 Prozent der produktiven Waldfläche (jene 60 Prozent der schwedischen Oberfläche, auf denen es sich lohnt, Forstwirtschaft zu betreiben) unter Schutz stehen, ist hier mit etwa sieben Prozent die Quote doppelt so hoch. Auch dank der Überzeugungsarbeit von Leifs Naturschutzgruppe.
Unser Wald
Nun bin ich mit meinen Redaktionskollegen Karen, Nicolas und Philipp unterwegs nach Iglekärr, das jüngste Naturschutzgebiet der Gegend. Das Waldstück gehörte früher einem privaten Besitzer, der sich einfach nicht darum kümmerte. Was aus der Perspektive der Risveden-Gruppe gut war, denn hier hatte man um die vierzig seltene Arten von Pflanzen, Flechten und Moosen gefunden, die nur in richtig alten Wäldern vorkommen. Schon 2004 stellte die Risveden-Gruppe bei der Provinzregierung den Antrag, aus Iglekärr ein Naturreservat zu machen, doch der Vorschlag wurde abgelehnt.
Als die Eigentümer um 2010 das Waldstück verkaufen wollten, schaltete sich die Stiftung Naturarvet ein, eine gemeinnützige Organisation, die Geld sammelt, um kleinere Altwaldgebiete in ganz Schweden zu kaufen und sie dadurch vor der Abholzung zu schützen. Iglekärr war ihre dritte Erwerbung und der Preis betrug rund fünf Millionen schwedische Kronen. Naturarvet ist keine große Organisation – in der Praxis besteht sie nur aus ein paar enthusiastischen Waldliebhabern, mit dem Geschäftsführer Lo Jarl und seiner Frau Yvonne an der Spitze. Nach Unterzeichnung der Vereinbarung machten sie sich auf die Suche nach Geld, um die Raten abzahlen zu können.
Leser von NORR kennen die Namen Iglekärrs Gammelskog und Naturarvet. Im Jahr 2011 starteten wir unser Kooperationsprojekt Green Partner und bestimmten, fünf Prozent der jährlichen Einnahmen aus dem Projekt dem Naturschutz in Skandinavien zukommen zu lassen. Hier erfüllte Naturarvet als konkretes, gut greifbares Umwelt-Engagement genau unsere Kriterien. Später führten wir auch das Waldabo ein, mit dem unsere Leser sich an der Aktion beteiligen konnten.
Bis 2016 konnten wir etwa 16 000 Euro spenden und außerdem mit unserer Nominierung dazu beitragen, dass Naturarvet 30 000 Euro aus der internationalen Naturschutzstiftung EOCA erhielt. Auch andere Unternehmen und viele Privatpersonen engagierten sich mit Spenden. Allmählich wurde die Provinzregierung auf den Stellenwert von Iglekärr aufmerksam: Im Winter 2015/16 beschloss man, einen finanziellen Zuschuss zu gewähren – und Iglekärr in den Status des Naturreservats zu erheben. Ein großer Sieg für Naturarvet und die Risveden-Gruppe.
Kein schwedischer Dschungel
Nach unserer Zugfahrt von Stockholm nach Göteborg haben wir die letzten fünfzig Kilometer im Fahrgemeinschaftsauto zurückgelegt und kommen jetzt am Eingang dieses langjährig betriebenen Naturschutzprojekts an: einem kleinen Kiesparkplatz für maximal zwei Autos, neben einem ganz normalen gepflanzten Fichtenwald.
»Wir werden noch ein Schild aufstellen, das auf das Naturreservat hinweist«, sagt Leif wie zur Entschuldigung. Ein schmaler, überwucherter Fahrweg führt durch den steil ansteigenden Fichtenwald. Nach ein paar hundert Metern hört der Weg auf und wird zu einem kaum sichtbaren Pfad, der alle zehn Meter mit blauem Plastikband markiert ist. Hier verlassen wir den angepflanzten Wald und betreten den Urwald. »Wir haben das ganze Gebiet inventarisiert«, berichtet Leif. »Außer einer kleinen Hütte am Großen Iglekärrsee gibt es keine Spuren menschlicher Tätigkeit. Wir haben keinen einzigen Stumpf eines abgesägten Baums gefunden.«
Es wäre falsch, meine erste Begegnung mit Iglekärr eine Enttäuschung zu nennen. Was uns umgibt, ist ganz eindeutig ein schöner, stiller Wald. Überwiegend eher spärlicher Fichten- und Kiefernbewuchs, aber auch Wacholderbüsche, Ebereschen, Birken und einzelne Eichen. Der Boden ist hügelig, mit kleinen Höhenrücken, Felsplatten und großen Steinen, die mit dichtem, weichem Moos bedeckt sind. Aber in meiner Fantasie hatte ich mir unter Iglekärrs Gammelskog so etwas wie die schwedische Entsprechung zu den Regenwäldern am Amazonas vorgestellt: ein fast undurchdringliches Gewimmel von Baumgiganten mit enormem Astwerk, viel Windbruch und üppiger Vegetation. So ist es hier nicht.
Für einen Laien wie mich sieht Iglekärr aus wie ein ganz gewöhnlicher schwedischer Nadelwald, auch wenn man sofort sieht, dass er nicht angepflanzt ist. Ich atme die frische Waldluft ein, genieße es, der Stadt entkommen zu sein und mit meinen netten Kollegen auf einem gewundenen Waldpfad wandern zu dürfen. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass ich überwältigt bin. Das wiederum sagt mehr über mich aus als über Iglekärr. Es wird sich zeigen, dass ich ganz einfach keine Ahnung habe.
Oft ist die Rede davon, wie wichtig es sei, den Urwald zu schützen. Aber in Schweden wird dieses Wort immer seltener benutzt. Denn weder hier noch im übrigen Europa gibt es noch einen richtigen Urwald, wenn man ihn so definiert, dass er vollkommen unberührt von Menschenhand sein muss. In Schweden verwendet man stattdessen immer häufiger den Begriff »gammelskog«, wörtlich: Altwald, bei dem man vom Durchschnittsalter des Waldbestandes ausgeht (einzelne Bäume können demnach viel älter oder viel jünger sein). Die schwedische Naturschutzbehörde zählt Waldgebiete in Nordschweden zum Gammelskog, wenn sie über 150 Jahre alt sind, in Südschweden genügen 130 Jahre.
Nachdem wir ein wenig gewandert sind, bleibt Leif stehen und deutet auf eine Kiefer. Der Stamm ist etwa fünfzehn Zentimeter breit, mit einer ziemlich kleinen Baumkrone in sechs bis sieben Metern Höhe. Leif fragt uns, für wie alt wir den Baum halten und ich tippe auf fünfzehn Jahre. Als Jugendlicher habe ich zeitweise auf Waldplantagen gearbeitet, deshalb glaubte ich immer, mich mit dem Wachstumstempo von Kiefern ziemlich gut auszukennen.
Aber ich liege völlig daneben. »Wäre sie angepflanzt worden, hätte es gestimmt. Aber diese Kiefer ist sicher 130 Jahre alt«, erklärt Leif. »Wenn man sie absägte, würde man sehen, dass die Jahresringe viel näher beieinander liegen als bei angepflanzten Bäumen. Die Holzdichte sei beträchtlich höher. Eine so alte Kiefer übersteht auch die härtesten Winterstürme.« Gleich daneben wächst eine Fichte, die dagegen riesenhaft wirkt, mit einem Stamm von etwa anderthalb Metern Breite. »Die steht da seit 200 bis 250 Jahren, würde ich sagen. Der älteste Baum, den wir hier im Risveden gefunden haben, ist tatsächlich fast 400 Jahre alt.«
In seiner sympathisch onkelhaften Art berichtet uns Leif ein Detail nach dem anderen, bis wir Iglekärrs Gammelskog mit anderen Augen sehen. Zum Beispiel, dass viele der seltenen Baumarten, nach denen die Risveden-Gruppe sucht, für sich gar nicht so bemerkenswert sind, aber deshalb wichtig, weil sie nur in wirklich alten Wäldern überleben können – das sind die sogenannten »Signalarten.« »Die Leute von der Forstwirtschaft sagen manchmal: ›Ihr Naturfreunde kümmert euch mehr um Käfer als um Menschen.‹ Sie sagen, dass es ja noch Hunderte von anderen Insekten, von Moos- und Flechtenarten gibt und dass es besser wäre, Arbeitsplätzen in dünn besiedelten Gegenden die Priorität einzuräumen. Aber das ist ein Missverständnis. Wir suchen also weiter nach Arten, die auf außergewöhnlich intakte Naturverhältnisse hinweisen.«
Der riesige Mousseron oder Knoblauchschwindling, den Leif uns zeigt, ist dafür ein Beispiel. Das ist ein großer, sehr würzig schmeckender Blätterpilz mit hellbraunem, runzeligem Hut, der offensichtlich nur in älteren Kiefernwäldern und auf magerem Boden wächst. Sein Vorkommen wird in ganz Schweden noch auf etwa 250 Stellen geschätzt, eine Anzahl, die sich ständig verringert. Wäre Leif nicht neben ihm stehen geblieben, hätte ich ihn bloß für irgendeinen ungewöhnlich großen Pilz gehalten.
Ein ungewohntes Gefühl des Friedens
Leif wandert einige Stunden mit uns, bevor er sich auf den Rückweg macht und wir unsere Zelte aufbauen. Es wird ein wunderschöner Abend im neuen Naturreservat. Wir besichtigen die älteste Fichte, machen Feuer an der Feuerstelle, kochen und reden. Es ist Mitte September, aber ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Morgens baden wir im dunklen Waldteich.
Zurück wandern wir durch den Wald, ohne dem markierten Weg zu folgen. Die Sonne scheint durch die Baumkronen, ein lauer Wind weht und in Iglekärrs Gammelskog herrscht eine Stille und eine Ruhe, wie ich sie selten erlebt habe.
Als wir nach Stockholm zurückgekehrt sind, bleibt dieses Gefühl im Köper erhalten – eine für mich ungewohnte Empfindung von Harmonie. Ich habe schon ziemlich viel über Forschungen gelesen, die belegen, was für eine beruhigende Wirkung die Natur haben kann, wie sie den Stresshormonspiegel senkt und so weiter. Aber obwohl ich mehr Zeit in der Natur verbringe als die meisten meiner Bekannten, spüre ich selten einen tiefgreifenden Unterschied. Es geht mir gut dabei, aber es ist keine Wunderkur.
Diesmal habe ich etwas anderes erlebt. Kann das damit zusammenhängen, dass der Wald so alt und so unberührt ist? Ich versuche das Gefühl damit abzutun, dass es nur ein Zufall war oder eine Projektion. Vielleicht bewirkt mein Wissen um die Unberührtheit dieses Waldes, dass ich mir Dinge einbilde, die gar nicht da sind.
Da habe ich allerdings noch nicht den Bestseller Das geheime Leben der Bäume des deutschen Försters und Waldschützers Peter Wohlleben gelesen und mich mit den Forschungsergebnissen der kanadischen Ökologin Suzanne Simard zur Baumkommunikation beschäftigt. Beides wird mein Verständnis von Wald und meinen Blick auf Iglekärr noch einmal verändern. Mehr dazu in Teil 2 Das Waldgeheimnis (NORR 2/2017).