Ein junger Elchbulle, der auf der Suche nach Wasser und Nahrung von Eiland zu Eiland schwimmt, schaut gelegentlich auf Idöborg vorbei. Mit Ausnahme dieses vierbeinigen Besuchers sind wir 20 Teilnehmerinnen (doch, ein Mann ist auch dabei) allein auf der Schäre im Stockholmer Archipel, auf der stets ein frisches Lüftchen weht. Auf dieser von Wald bedeckten und schroffen Klippen ummantelten einsamen Insel findet in den kommenden vier Tagen ein Yoga-Retreat statt – The Slow Journey, eine betont langsame Reise, an deren Ende das persönliche Zeitgefühl wieder in ruhigerem Takt verlaufen soll.
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»Der Norden hat für mich eine ganz besondere Schönheit. Er ist schwermütiger und melancholischer – allvarlig (dt. ernst) wäre das richtige schwedische Wort. Der Schärengarten ist an vielen Stellen noch so unberührt und verträumt. Ich liebe das besondere Licht hier oben«, sagt Victoria Larsson. Die gebürtige Schwedin, die das Slow Journey Retreat konzipiert hat und leitet, praktiziert seit 20 Jahren selbst Yoga und hat ihre zertifizierte Ausbildung zur Yogalehrerin in New York abgeschlossen. Danach zog sie nach Stockholm, um dort Kurse zu geben, bevor sie sich vor zehn Jahren in Berlin niederließ. In diesem Jahr hat sie sich dazu entschieden, ein Retreat auf Idöborg im Stockholmer Schärengarten anzubieten.
Die Insel blickt auf eine lange Familiengeschichte zurück und ist heute in privatem Besitz der Buddhistin Annette Kreuger und ihres Sohns Villiam, die in ihren Räumlichkeiten Yoga- und Mindfulness-Lehrende aus aller Welt willkommen heißen – wie nun Victoria mit ihrer Slow-Journey-Auszeit. In einem flachen Holzhaus befindet sich die Yoga-Shala mit Aussicht über glitzerndes Wasser und dem ständigen Plätschern der anrollenden Wellen als akustische Begleitung der Klassen.
Licht und Dunkelheit
»Richte dein Knie mehr nach außen und übers Fußgelenk aus, sonst beschwert es sich später«, rät Victoria mir während einer morgendlichen Yogaklasse, die von den spitzen Schreien der Möwen über dem Meer begleitet wird. Sie unterstützt meine etwas wackelige Position auf der Matte, die ich, immer mit Blick auf den verträumten Schärengarten vor den großen Fensterscheiben, eingenommen habe. Neben mir praktiziert die Finnin Zuvi den Krieger in gänzlicher Perfektion.
»Yoga ist kein Sport. Yoga ist ein Ritual, bei dem es nicht darum geht, sich zu vergleichen, sondern sich selbst nahezukommen. Erwartet das Licht, aber seid jederzeit auch bereit für die Dunkelheit«, lehrt uns Victoria. In den Tagen hier auf Idöborg beschäftigen wir uns mit dem eigenen Körper und über ihn mit unserem Geist. So geschieht es nicht selten, dass eine(r) von uns Begegnungen mit versteckten Emotionen macht. Auf dieser unwirklich anmutenden felsigen Insel umgeben von Wasser fällt es uns aber viel leichter, uns selbst wahrzunehmen, zu öffnen und loszulassen. »Draußen am Meer gelingt vielen der Zugang zur eigenen Spiritualität leichter«, so Victorias Erfahrungen.
Kein wetteifernder Vergleich, sondern mehr und mehr eine Identifikation ist das, was zwischen uns Teilnehmern im Laufe der Zeit zu spüren ist. Wie eine Art liebevoller Zuwendung, die auf unsichtbarer Ebene geschieht.
Um unsere innere Reise hier draußen zu intensivieren und dem oft gestressten Geist eine digitale Auszeit zu gewähren, regt Victoria auf ihren Retreats dazu an, das Handy am besten komplett auszuschalten. Die Entscheidung dafür oder dagegen überlässt sie uns selbst. Aber an den gemeinsamen Orten, beim Essen oder sobald eine weitere Person dabei ist, soll keine Mobiltelefonnutzung stattfinden – nicht mal zum Fotografieren. Das ist ungewohnt, aber bringt jeden von uns dazu, die Beziehung zum Smartphone zu überdenken und die oft automatische, unbewusste Anwendung zu reflektieren.
Ob auf den Felsen sitzend, im Gespräch oder beim Essen – alle sind sich einig, dass sich die Zeit ohne Handy, dafür mit ungetrübter Aufmerksamkeit, viel intensiver anfühlt. Wir sollen uns auf das Hier und Jetzt besinnen. Auf uns selbst und die Menschen, die genau diesen Moment mit uns teilen. Und tatsächlich kommt mir, nun da ich mit meinen Gedanken nicht irgendwo in der Vergangenheit hänge oder bereits dabei bin, Pläne für die Zukunft zu schmieden, sondern mich einfach nur auf das Wesentliche besinne, die blanke Gegenwart auf einmal viel ruhiger und beständiger vor.
Kollektiv einsam
So erfreuen wir Yogis uns an dem kleinen Eiland mit seiner holzbefeuerten Sauna und einer Handvoll verstreuter typischer roter Holzhäuschen, die – neben einer malerischen weißen Jugendstilvilla mit grünem Dach – als unsere Schlafplätze dienen. Den Tag auf der Yogainsel beginnen wir mit selbst gebackenen Brötchen. Zum Mittag gibt es leckere Suppen und Salate, abends schmackhafte vegetarische Küche wie mein Lieblingsgericht: eine Gemüselasagne à la Idöborg. Der Beerensirup, den wir zur Erfrischung in unsere Wassergläser füllen, stammt direkt von der Insel. Zwischen unseren Yogaklassen gehen wir oft schwimmen. Dann und wann steigen wir in ein Kajak und paddeln zwischen den kleinen Schären umher oder unternehmen Spaziergänge auf dem Eiland. Das nordische Milieu zieht uns mit jedem Atemzug stärker in seinen Bann. Viele von uns kommen auf Idöborg zum ersten Mal mit Meditationspraktiken in Berührung. Die Aufforderung von Victoria, mit der vollen Aufmerksamkeit beim eigenen Atem zu bleiben, entpuppt sich als gar nicht so einfach. Doch sie beruhigt uns: »Es gibt kein falsches Meditieren. Solange ihr nicht nur dasitzt und tagträumt, sondern immer wieder zu eurem Atem zurückkommt. Auch wenn ihr eure Grübeleien dafür immer wieder neu einfangen und mit einer freundlichen Abschiedsgeste aufs Meer hinausschicken müsst. Gedanken sollen beobachtet, nicht gedacht werden. So könnt ihr wahrnehmen, welche Gefühle sie in euch auslösen.«
Blaupause für die Seele
Nach vier Tagen ist eine ganz besondere, tief vertraute Stimmung voller Leichtigkeit in unserer Gruppe zu spüren. »Die Ruhe mit mir selbst, aber auch die Möglichkeit zum Austausch mit Menschen in ähnlichen Situationen ist unendlich inspirierend«, resümiert Zuvi, während sie ein letztes Mal ihre Matte zusammenrollt. Und auch ich habe festgestellt, dass die Zeit auf Idöborg mir nicht nur die Chance gegeben hat, mich intensiv mit Yoga und Meditation zu beschäftigen, sondern mein Leben bewusst zu entschleunigen. Ohne Ablenkung von außen haben wir uns gegenseitig eine Form von Aufmerksamkeit geschenkt, die uns am Ende eine tiefe innere Ruhe beschert hat.
Als wir Idöborg am Ende unserer Reise schließlich wieder mit dem Boot verlassen, weiß ich sicher, dass die Praktik, mich auf das Wesentliche zu besinnen, fortan fester Bestandteil meines Alltags sein soll. So, wie es der Elchbulle handhabt, der vielleicht gerade wieder auf der Insel an Land geht. Ich hoffe, dass es mir auch ohne die Magie von Idöborg gelingt – eine Blaupause für diesen ganz speziellen Seelenzustand habe ich in den vier Tagen allemal gewonnen.