Weiter zum Inhalt

Leben mit dem Berg

Das Dorf Åre in Jämtlands Fjäll gilt als Skandinaviens Skihochburg Nummer eins. Doch wie ist es, hier dauerhaft zu leben? Ein Porträt aus drei Perspektiven.

Wie die meisten Stockholmer komme ich in der Regel während der Sportferien nach Åre. Woche neun. Der Nachtzug Richtung Jämtland ist gefüllt bis zum letzten Platz. Familien sitzen zwischen Funktionskleidung und großen Taschen in ihren Abteilen, Kinder laufen in Skiunterwäsche durch die Gänge und in den Gepäckräumen herrscht ein buntes Chaos aus Brettern aller Farben und Formen. Ab Östersund fließt vor den Fenstern der Indalsälven vorbei, hinter dem die schneebedeckten Hügel mit jedem Kilometer zu richtigen Bergen heranwachsen. 

Weiterlesen mit NORR+

Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.

Irgendwann breitet sich der Fluss zum Åresjön aus, im Winter eine riesige Eisfläche, durchzogen von unzähligen Ski- und Scooterspuren. Hier, zwischen dem Nordufer des Sees und dem Fuß des markanten Berges Åreskutan, liegt das Ziel: der 1 400-Seelen-Ort, der sich selbst auf dem großen Werbeplakat am Bahnhof als »Världens bästa by« (dt. weltbestes Dorf) bezeichnet, mit dem Zusatz »Bondby, turistort, hem« (dt. Bauerndorf, Touristenort, Heimat).  

Das 3.500-Einwohner-Dorf Åre liegt in der Nordschwedischen Provinz Åre am Fuß des 1.420 Meter hohen Berges Åreskutan und gilt als eines der besten Skigebiete Skandinaviens. aresweden.com

Persönlich kenne ich Åre natürlich vor allem als »Touristenort« – genau wie ein Großteil meiner Mitreisenden, die nun aus dem modernen Stationsgebäude in alle Richtungen strömen, zu ihren Hotels und Ferienwohnungen rund ums Zentrum, zu den wartenden Taxis, ins Infocenter oder direkt zur Gondel hinauf auf den Skutan. 

Seit über tausend Jahren kommen Besucher hierher: Zuerst gläubige Pilgerer auf dem Weg nach Trondheim zum Grab des heiligen Olaf, seit Fertigstellung der Eisenbahnstrecke »Mittbanan« (1882) dann wohlhabende Kurgäste auf der Suche nach frischer Fjällluft, schließlich heute Bergsportfans wie ich, die während der Hochsaison das Dorf in eine größere Kleinstadt von bis zu 35 000 Einwohnern verwandeln können. Mit rund hundert Pistenkilometern und knapp neunhundert Metern Fallhöhe gilt Åre heute als Skandinaviens Wintersportdestination Nummer eins. Im Februar 2019 fanden hier zum dritten Mal nach 1954 und 2007 die alpinen Weltmeisterschaften statt, die den Ort auch international auf die Pistenkarte setzten. 

Åre Dorfplatz. Wo jeder jeden kennt.

Was Åre allerdings als »Bauerndorf« und »Heimat« bedeutet, wissen dagegen die wenigsten. Auch wenn viele vielleicht das Gefühl haben mögen – weil es sich nach dem zehnten Mal Sportferien immer mehr wie zu Hause anfühlt oder weil man sich kennt und trifft: den Nachbarn aus dem Stockholmer Vorort in der Gondel, die Arbeitskollegin beim »Efter-Ski« im Hotel Granen oder den Bekannten, der sein Großstadtdasein hinter sich gelassen hat und nun hier lebt. 

Was aber steckt hinter der Kulisse? Warum wählen Menschen heute den abgelegenen Skiort als Heimat, wo die Bevölkerung aller Landflucht zum trotz stetig wächst? Und wie lebt es sich eigentlich im »besten Dorf der Welt«?

400 Skitage im Jahr

Am besten fragt man David Kantermo. Der ehemalige Freeride-Profi und Trainer der norwegischen Buckelpistennationalmannschaft ist im Dorf geboren und aufgewachsen. Heute lebt er dort mit seiner Familie – nur einen Steinwurf entfernt von dem Hof, auf dem sein Opa in den 30er Jahren als Knecht arbeitete, nachdem er aus einer noch einsameren Fjällgemeinde nach Åre gezogen war. »Vor ein paar Jahren hat ein Freund von mir den Hof gekauft und renoviert. Schön, dass die Geschichte so irgendwie weiterlebt«, erzählt der 38-Jährige. 

In Åre sagt man, das (David) Kantermosche Jahr habe vierhundert Skitage, und es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, nach dem der erste Puder des Jahres dem Mann mit dem roten Bart gehört. 2019 eröffnete David die Off-Piste-Saison am 4. Oktober – das Beweisbild zeigt ihn und seine frisch gezogenen Spuren im frisch gepuderten Årefjäll. Es gehört wohl zu einem ordentlichen Skidorf, dass es eben solche Gerüchte, Gesetze und Persönlichkeiten hervorbringt, die man einfach kennen muss.

Für David war es trotz aller Alpen- und anderen Abenteuer klar, dass Åre sein Lebensmittelpunkt bleiben würde. »Ich mag die herrliche Stimmung. Jeder kennt jeden und wir können den Schlüssel immer in der Tür stecken lassen. Der perfekte Platz für eine Familie.« Er spricht von der Bergkultur, die die Menschen hier verbindet: Man müsse mit dem Berg und mit der Natur leben, die Jahreszeiten, ihre Eigenheiten und die permanente Veränderung lieben. Es gebe »viel Wetter« in diesem Teil des Fjälls, in dem die Kälte der Hochebene auf die warme Luft des nahen Golfstromes trifft, was ziemlich turbulent werden kann. 

»Ich bin schon ein richtiger Wetter-Nerd und versuche einfach immer, das Beste daraus zu machen«, so David. Die unzähligen Stunden draußen im Fjäll haben ihn im Laufe der letzten 38 Jahre zum wahren Experten gemacht, dessen Tipps selbst unter Einheimischen gefragt sind. Er weiß, wo und wann der beste Puder zum Freeriden zu finden ist oder das schönste Eis zum Schlittschuhlaufen. Oder – bei richtig ordentlichem Wind – sogar Wellen zum Surfen. 

Die Entwicklung Åres verfolgt er zwangsläufig seit seiner Kindheit. Ein anschauliches Beispiel sei die kleine Steinmauer seiner Grundschule, an der damals immer sämtliche Schüler und Lehrer zusammen fotografiert wurden. »Die ist heute kaum mehr groß genug, wenn bei meinen Kindern die Klassenfotos gemacht werden«. 

Man muss mit dem Berg und mit der Natur leben, die Jahreszeiten, ihre Eigenheiten und die permanente Veränderung lieben. 

David Kantermo

Er freut sich über das neue Leben im Dorf, das früher von Mai bis November schlichtweg tot war. Dank Sommertourismus und wachsenden Einwohnerzahlen sei hier inzwischen das ganze Jahr über was los. »Und trotzdem ist die Einsamkeit noch immer nur zehn Minuten entfernt. Selbst in Hochphasen wie den Sportferien kann man in der Nähe Skitouren machen, bei denen man kaum einen Menschen trifft.«

Gerade in den letzten fünf bis zehn Jahren stellt David einen besonderen Åre-Trend fest: »Immer mehr Großstädter, die sich nach mehr Ruhe und Natur sehnen, ziehen hierher. Eine Kombination aus wachsendem Outdoor-Interesse und den Möglichkeiten der Digitalisierung, dank der man auch an abgelegenen Orten wie diesem arbeiten kann.« Er meint, dass das Fjäll ein besonders kreatives Potenzial habe und ein hervorragendes Arbeitsumfeld sei: »Es ist offen für alle – eine endlose Spielwiese. Wenn man erst mal oben ist, kommt der Puls runter und das Herz schlägt höher. Der richtige Ort, um auf neue Gedanken zu kommen.«

David Kantermo
38 Jahre; geboren in Åre; Freerider & Content Creator bei Stellar Equipment

ÅRE-Favoriten
Lift: Gondel nach ganz oben + WM-Abfahrt ins Tal
Off-Piste: Tour auf das Renfjäll auf der anderen Seeseite; Tour: Skutan runt (rund um den Åreskutan)
Einkehren: Grand Hotel Granen, Supper

Familienunternehmen im Fjäll

Wohl auch deshalb hat sich Åre spätestens seit den achtziger Jahren zu einer Keimzelle für junge Outdoor-Marken entwickelt. Ein Schlüsselereignis war dabei ohne Zweifel die Gründung von Peak Performance im Jahr 1986. Ein Skifahrer, ein Skijournalist und ein Designer wollten damals eine schwedische Alternative zur extravaganten Skimode der Alpen schaffen, entwickelt und getestet im Jämtlandsfjäll. Sie legten damit den Grundstein für eines der heute größten skandinavischen Outdoor-Unternehmen. 

Zwar liegt die Firmenzentrale schon lange in Stockholm, dennoch hat Peak Performance als Pionier hier oben ein fruchtbares Erbe hinterlassen: einerseits den Geist des Möglichen – das Prinzip, im Fjäll die Leidenschaft zum Beruf zu machen und davon leben zu können. Andererseits das Wissen und Können in der Region – ein wiederbelebtes Textilhandwerk, das ohne den boomenden Bergsport keine Existenzgrundlage mehr gehabt hätte.

Sara Rönngren arbeitete in den neunziger Jahren bei Peak Performance. Nach dem Abitur in Östersund zog sie nach Åre, wo sie in der kleinen Wohnung ihrer Schwester wohnte, ihre Karriere als Freestyle-Skiprofi vorantrieb und gleichzeitig Skikleidung designte. »Damals herrschte eine ziemliche Aufbruchsstimmung – sowohl bei Peak als auch im Dorf«, sagt Sara. »Eine intensive Zeit, die uns allen sehr viel gebracht hat.« 

»Es gab gute Gründe, damals als junge Familie aus einem Schweizer in ein schwedisches Dorf zurückzukehren«, erzählt Sara. »Mutter zu werden und sich gleichzeitig selbstständig zu machen, wäre in einer konservativen Alpengemeinde wie Verbier kaum denkbar gewesen. In Åre gibt es da eine ganz andere Offenheit. Ganz zu schweigen von dem Netzwerk aus Freunden und Familie, Elternzeit, Kita und anderer öffentlicher Unterstützung.« Åre war für Sara und Jimmy die Chance, die großen Puzzlestücke ihres Lebens zusammenzufügen: das Elterndasein, ihr Unternehmen und die Leidenschaft, viel draußen in der Natur zu sein. 

Åre war die Chance, die großen Puzzlestücke ihres Lebens zusammenzufügen: das Elterndasein, das Unternehmen und die Leidenschaft, viel draußen in der Natur zu sein. 

Sara Rönngren

Bei Elevenate greift sie zum einen auf Know-how zurück, dessen Grundlagen sie hier als junge Designerin erworben hat, zum anderen auf spezialisierte und engagierte Menschen, die sich bestens in der Branche auskennen: »Die Näherinnen, die damals unsere ersten Prototypen nähten, kannte ich alle noch von Peak Performance. Die können das einfach – wir arbeiten bis heute mit ihnen.« Der Standort selbst habe nicht nur praktische Vorteile, zum Beispiel dass man »einfach aus der Tür und den Berg hochgehen kann, um Produkte zu testen«, er gebe der Marke auch international eine besondere Glaubwürdigkeit: »Was sich hier im Fjäll bewährt, funktioniert überall.«

Wie David Kantermo sieht auch Sara die Veränderungen in Åre grundsätzlich positiv und findet, dass Tourismus und Zuzug enorm wichtig für das Dorf sind. Sie meint aber auch, dass das Wachstum nachhaltig und balanciert sein sollte. »Für alle Bauprojekte und Erweiterungen der Anlagen muss es auch die entsprechende Infrastruktur geben. Man sollte vorher gut darüber nachdenken, wie die Konsequenzen für Menschen und Natur sind.« Beispiele für solche Folgen sind Autoschlangen, die sich in der Hochsaison durch das Dorf zu den Liften ziehen können, oder ein verringerter Fischbestand im Åresjön als Folge der Wasserentnahme für die Kunstschneeproduktion.

Sara Rönngren
45 Jahre; 1997–2003 und seit 2010 in Åre; Gründerin der Skiwear-Marke Elevenate

ÅRE-Favoriten

Lift: Bergbahn/Fjällgårdsexpress + Abfahrt zum Fjällgården
Off-Piste: Östra Ravinen (Schlucht auf der Ostseite des Åreskutans) 
Tour: Älgbergsrunda von Edsåsdalen 
Einkehren: Bäckerei und Eisdiele Grädda 

Es muss was passieren

Für Janne Karlsson sind es dagegen gerade die großen Projekte, die Åre zu dem gemacht haben, was es ist, und die für seine Zukunft wichtig sind. »Es ist eine Katastrophe, dass wir die Olympischen Spiele nicht hierhin bekommen haben«, schimpft er mit Blick auf die missglückte gemeinsame Bewerbung von Stockholm und Åre für das Jahr 2026.

Heute ist er der wohl aktivste Pensionär, den man sich denken kann, mit mehr Pistenkilometern als jeder andere Dorfbewohner, und mehrfacher Großvater mit der Mission, der nächsten Generation die Leidenschaft für das Fjäll zu vermitteln. »Es ist großartig zu sehen, welche Freiheit die Kids hier heute haben, wie gut ausgebildet sie sind und wie sie Verantwortung für sich selbst übernehmen. Als wir damals Off-Piste auf der Rückseite des Skutans gefahren sind, gab es jedes Mal einen Riesenärger mit der Bergwacht. Das ist heute viel entspannter.« 

Wenn Janne von Åre erzählt, dann spürt man seine Freude daran, dass was passiert, dass Entscheidungen zu Realität werden: als etwa der schwedische Staat in den Siebzigern Investitionen in den Fjälltourismus und damit auch in Åres Liftsystem beschloss. Als der Skiverband Åre zum nationalen Stützpunkt erklärte und (auch unter Jannes Mitwirkung) ein Skigymnasium eingerichtet wurde. Oder als das Reisebüro der schwedischen Sozialdemokraten Zugcharterreisen nach Jämtland startete und plötzlich Tausende Genossen am Bahnhof landeten. 

Kein Wunder, dass sein ganz persönliches Wintermärchen bis heute die alpinen Weltmeisterschaften 2007 sind, für die das Dorf extrem aufgerüstet wurde: durch neue Pisten, Lifte, Wege und Unterkünfte, durch den modernen Bahnhof mit Reisezentrum, verbunden mit einem Luxus-Fjäll-Resort direkt am See. »Unbezahlbar, was das für Åre bedeutet hat«, ist Janne sicher. Ob er denn meine, dass sich die hohen Kosten für die Olympiade 2026 – ein Hauptargument der Kritiker – denn ebenfalls rentiert hätten: »Absolut! Da kommt jede Krone doppelt und dreifach zurück!« 

Janne »Professor« Karlsson
78 Jahre; seit 1990 in Åre; pensionierter Sportarzt

ÅRE-Favoriten
Lift: Sadelexpressen und Abfahrt Richtung Björnen
Off-Piste: Rückseite des Åreskutans
Tour: Välliste runt (von Trillevallen um das Vällistefjäll) 
Einkehren: Skirestaurant Timmarstugan, Crêperie & Logi Åre

Abschließend will ich auch vom Professor wissen, was das Leben und die Menschen in Åre denn so besonders macht. Als Antwort erzählt er mir einfach die Geschichte von den Flüchtlingen: Rund 700 Asylsuchende landeten zum Höhepunkt der Krise 2015 in der jämtländischen Gemeinde, gut 500 davon direkt im 1 400-Einwohner-Dorf, wo sie in einem ehemaligen Hotel untergebracht wurden. Man kann sich nur ausmalen, welche Reaktionen das anderswo mit sich gezogen hätte. Aber in Åre:

»Fantastisch, wie die Menschen hier aufgenommen wurden und welches Engagement es gab, um ihnen zu helfen. Nicht nur bei der Ankunft, auch später, als die Unterkunft abgewickelt wurde und ihre Bewohner Arbeit und ein Zuhause brauchten, um bleiben zu können.« Mindestens fünfzig »Neuankömmlinge« arbeiten immer noch in einheimischen Unternehmen und sind, zum Teil mit Familien, inzwischen längst ein Teil der Dorfgemeinschaft. »Wirklich international ist Åre wohl erst dadurch geworden«, sagt Janne. »Eine Heimat für alle.«  

Mehr für dich