So hätte dieser Artikel eigentlich beginnen sollen: Es ist Winter und ich stapfe in meinen Schneeschuhen durch den Nationalpark Pallas-Yllästunturi im Norden Finnlands. Im dichten Schnee spreche ich leise mit Eeva Määkinen, eine von Finnlands bekanntesten Outdoorfotografinnen. Wir bewundern die schneeweißen Baumkronen und lauschen der Stille des dunklen Waldes. Über die Baumgrenze wandern wir bis zur Hütte am Tuomikuru-Pfad, von wo aus sich eine atemberaubende weite Landschaft gen Süden erstreckt. Polarlichter sehe ich heute zum ersten Mal. Eeva hingegen, die in Finnisch-Lappland wohnt, hat sie schon unzählige Male beobachtet. Als der Himmel über uns grün auflodert, verstummen wir aber dennoch kollektiv.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
So oder so ähnlich hätte es sich Ende März 2020 zugetragen, wenn uns Corona nicht lahmgelegt hätte. Unsere Reisepläne wurden mehrfach über den Haufen geworfen. Zuerst wurden die Flüge der Touristen aus dem Ausland und die Programmangebote gestrichen. Ich hatte die Idee, Schneeschuhe gegen Ski und Steigfell zu tauschen und mich auf eigene Faust auf Skiwanderung zu begeben. Doch dann waren die Grenzen um den Großraum Helsinki dicht und ich saß fest. Wie so viele andere musste ich meinen Rucksack wieder auspacken und meinen kleinen Traum in eine ungewisse Zukunft vertagen.
Ungewollte Jungfräulichkeit
Es ärgert mich schon, dass ich noch nie Polarlichter gesehen habe. Seit meiner Kindheit bin ich in der finnischen Natur unterwegs: Wandern, Orientierungslauf und Abfahrtsski zählen zu meinen Hobbies. Doch am vertrautesten ist mir immer noch die Natur Südfinnlands, wo Aurora Borealis im wahrsten Sinne ein Fremdwort ist. In meinem Bekanntenkreis bin ich nicht die einzige, der es so geht. Ich habe leidenschaftliche Wanderer im Freundeskreis, die mindestens einmal im Jahr eine ausgiebige Tour nach Lappland unternehmen. Aber auch viele von ihnen hatten noch nie das Glück, dieses mystische Lichtphänomen mit eigenen Augen zu sehen. Vielleicht sind wir alle zur falschen Zeit in den Norden gereist oder haben nachts immer zu fest geschlafen und sie deshalb verpasst?
Es ärgert mich schon, dass ich noch nie Polarlichter gesehen habe.
Seit ein paar Jahren wurmt mich meine Jungfräulichkeit auf diesem Gebiet. In den Feeds von Instagram und Konsorten werden Tag für Tag die beeindruckendsten Outdoor-Bilder gepostet. Immer öfter sind Polarlichtfotos in den grellsten Farbsättigungen darunter, die gekonnt mit den exotischsten Orten unserer Erde mithalten können. Outdoor-Blogger weltweit setzen die Nordlichter ganz oben auf ihre Bucket List als das ultimative Ereignis, das man auf jeden Fall einmal miterlebt haben sollte. Auch ich wollte endlich einen Haken dahinter setzen können.
Die Fotografin Eeva Mäkinen aus Nordfinnland weiß, dass sie sich glücklich schätzen kann, in dieser Gegend zu wohnen. An einem Ort, an dem sie zuhauf die Chance hat, Polarlichter zu erleben. »Dennoch muss ich gestehen, dass ich sie verhältnismäßig selten sehe. Die imposantesten Lichtphänomene verblassen am Himmel, bevor ich wach werde. Gigantische Polarlichtphänomene sind aktuell zudem eher selten, denn im Sonnenfleckenzyklus wurde das solare Maximum bereits passiert. Auch durch den Klimawandel sind Polarlichter heute seltener auszumachen als früher. Der Grund: mehr Wolken, mehr Niederschläge, weniger klare Abende. Zu sehen gibt es aber trotzdem etwas, wenn man nur zur rechten Zeit am rechten Ort ist.«
Der Hauptgrund, weswegen die Polarlichtjagd für viele in Lappland erfolglos bleibt, könnte oft auch am bequemen Kopfkissen und zu tiefen Schlaf liegen. Heute aber, hat Eeva sich (ohne mich) ins nordfinnischen Fjell Kiilopää bei Saariselkä aufgemacht. Polarlichter sind dort eher die Regel als die Ausnahme. Genau hier hat sie damals die beeindruckendsten Polarlichter ihres Lebens gesehen. Zusammen mit ihrer Mutter, bei tiefen Minusgraden im Urho-Kekkonen-Nationalpark. »Unter der grünen Polarlichtdecke stand ich da auf meinen Skiern und war sicher, dass ich träumen musste. In diesem Fjell habe ich bestimmt schon tausende Male den Auslöser meiner Kamera betätigt. In diesem Moment sehne ich mich nach den Nächten von damals, als ich mit meiner Mutter zusammen den sechststündigen Tanz der Lichter am lappländischen Himmel bewundern durfte. Wird heute wieder so eine Nacht sein?«, fragt sich Eeva.
Herbeigezaubertes Lichtermeer
Einer, der den Polarlichterhype über die letzten Jahrzehnte hautnah mitverfolgt hat, ist der Tourismusunternehmer Jokke Kämäräinen. Er hat viele Menschen bei ihrer ersten Aurora-Borealis-Begegnung begleitet und kann bestätigen, dass die Reaktion immer etwas Kindliches hat: »Das ist wie bei mir, als ich noch klein war: die Fahrten bei Mondschein, die Nächte im Schnee. Polarlichter lassen niemanden kalt. Die Erfahrung kann sogar ein wenig unheimlich sein, wenn der Himmel auf einmal in stiller Nacht grün erleuchtet.«
Wenn es besonders ruhig ist, bittet Jokke seine Gäste, den Geräuschen der Nordlichter zu lauschen. Ist es ein Getöse, wie das Rauschen des Meeres? Jokke erinnert sich, wie er einmal während einer Tour bemerkte, dass die Aussichten schlecht standen, in derselben Nacht noch Polarlichter zu sehen. »Ich sagte aus Spaß, dass wir es mit einem Zauberspruch meiner Großmutter probieren könnten. Sie zeigte mir damals, wie man Schnee zaubern kann«, berichtet er. Jokke sprach einen Zauberspruch aus und die Reisegruppe stimmte langsam mit ein. Im nächsten Moment flammten überwältigende Polarlichter am Himmel auf. »Ich war selbst etwas überrascht, wie wirkungsvoll der Zauber doch war«, erinnert er sich schmunzelnd. Jokke legte sich mit dem Rücken auf die Schneedecke, nahm seine Kamera in die Hand und beobachtete, wie die Lichter über ihm wie eine gewaltige Krone leuchteten. Seitdem geht er behutsamer mit dem Zaubern um. Die Mythen um die Nordlichter fesseln die Menschen. Dabei braucht es keinen Glauben an das Übernatürliche, denn in der Natur allein steckt etwas, das größer ist als der Mensch.
Dieser Meinung ist auch Aino Kämäräinen, die mit ihrem Familiereisenunternehmen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Der Aurora-Borealis-Hype sei durch viele geschickte Marketingmaßnahmen entstanden, wie zum Beispiel Apps, die voraussagen, wann und wo Polarlichter zu sehen sein werden. Ein wichtiger Aspekt sei aber, dass man es nun wagt, über Sagen und Mythen zu sprechen: »Polarlichter faszinieren auch uns Einwohner hier oben nach wie vor. Über den kosmischen Kreislauf berühren sie uns in der tiefsten Seele. Über solche Erlebnisse darf man heutzutage sprechen, und sie werden fleißig geteilt.«
Aino fühlt, wie sie die Polarlichter in Bezug zu ihren Vorfahren setzen. Die Menschen blicken schon seit Jahrtausenden in den Himmel hinauf zu den Nordlichtern, fragen nach ihrer Bedeutung. Wofür wurden sie damals wohl gehalten? Was fühlten die Menschen, was dachten sie? Fanden sie für die Polarlichter dieselbe Erklärung wie für eine Mondfinsternis? Nicht nur Aino, sondern auch viele Touristen stellen sich oft diese Fragen.»Polarlichter sind beruhigend. Der Natur eigene Mindfulness sozusagen. Der Himmel ist so groß und wir selbst so klein«, sinnt Aino nach.
Die Natur gibt keine Versprechen
Wenn die Outdoor-Unternehmerin Lotta Sandvik aus dem lappländischen Kuusamo mit ihrer Reisegruppe im Fjell am Lagerfeuer sitzt, starren oft alle wie gebannt in den klaren Himmel und bewundern die vom Vollmond erleuchtete Schneedecke. Manchmal haben sie Glück und die Polarlichter beginnen vor ihren Augen ihren kleinen Tanz am Firmament. »Auch für mich ist und bleibt es spannend, was uns in diesen vier Stunden draußen erwartet. Die Natur gibt uns das, was sie eben gibt«, meint Lotta.
Egal wie, die Natur hat immer etwas zu geben, auch wenn es etwas anderes sein mag als gedacht.
Als ich mit ihr über Skype spreche, fallen bei Lotta in Kuusamo kleine Schneeflocken vom Himmel. Es hat dort schon 120 Zentimeter geschneit. Auch wenn der Rekordwinter im finnischen Lappland unter anderem für die Rentierfarmen massive Probleme bedeuten, bin ich ein wenig neidisch. Anstelle einer Schneewanderung führe ich mit Lotta und ihrem Mann Jussi Tupasela einen Videoanruf. Das Ehepaar führt ein kleines Unternehmen namens Outdoor Passion. Sie bieten kleine Ausflüge an, bei denen sich die Gäste selbst einbringen. Anstatt mit dem Schlitten geht es mit eigener Körperkraft auf Skiern in die Natur. Ein Kaffee über dem Lagerfeuer kocht sich nicht von selbst, auch hier ist der Einsatz der Reisenden gefragt.
»Wir wollen die Kräftereserven in den Menschen aktivieren. Die Natur heilt und lässt uns zu unserer ursprünglichen Stärke zurückfinden«, erklären die beiden. Manchmal kommen die Gäste von Lotta und Jussi aufgekratzt und voller großer Erwartungen. Zu Beginn der Tour bringen die beiden mit ihrer ruhigen Art die Teilnehmer dazu, einen Gang herunterzuschalten. »Schnell bemerken die Leute selbst, dass hetzen nichts bringt. Die Natur nimmt auch ohne uns ihren Lauf. Das Faszinierendste doch, dass sie für den Moment geschaffen ist« erläutern sie. »Das bedeutet nicht immer schneebedeckte Baumkronen wie auf der Postkarte, perfekte Sternenhimmel oder den Tanz der Polarlichter für den gut gepflegten Social-Media-Account. Egal wie, die Natur hat immer etwas zu geben, auch wenn es etwas anderes sein mag als gedacht.«
Eine Nacht unter dem Polarhimmel
Eeva Mäkinen schläft heute im tiefsten Winter im offenen Fjell im Zelt, damit sie alle Zeit und Energie hat, die magischen Feuer am Himmel zu sehen und mit der Kamera einzufangen. Mucksmäuschenstill liegt sie wohl an diesem Abend ihrem Schlafsack und lauscht dem Rauschen des Windes. Verrät er ihr, ob sich die Wolkendecke schon so weit geöffnet hat, dass sie den Blick auf die Sterne gewährt? Sind vielleicht sogar auch Polarlichter am Himmel zu sehen? Der Halbmond erhellt die Fjell-Landschaft genau so, wie sie es braucht. Alle Nächte mit diesem Mondstand hat sie bereits letztes Jahr in ihrem Kalender markiert und sie für die Shootingtour – in der Hoffnung, dass sich gleichzeitig ein Nordlichtsturm ereignen würde. Solche Ereignisse im perfekten Zusammenspiel abzulichten, wäre großes Glück. Denn selbst wenn es bei Halbmond tatsächlich zum Polarlichtsturm kommt, könnte es doch die ganze Woche lang bewölkt sein.
Eeva späht noch einmal aus ihrer Zelttür und bemerkt einen grünen Schimmer am Firmament. Es sind viele Sterne zu sehen und die Wolken ziehen mit großem Tempo in Richtung Süden. Sie haben ihr einen atemberaubend klaren Winterhimmel geschenkt. Eeva zieht ihre Thermosflasche aus ihrem Schlafsack und gießt sich eine Tasse Kakao ein, für die nötige Energie und Wärme. Dann zieht sie sich alle warme Kleidung und warme Winterhandschuhe über und schlüpfet in ihre großen, warmen Stiefel. »Ich hole dann meine Kamera aus ihrem Koffer und ziehe eine Schutzhülle um das Objektiv, damit es im Wind nicht vereist, schraube meine Kamera auf das Stativ und mache sie bereit für einen guten Blickwinkel. Und dann warte ich.«