Vor zehn Jahren war die Londonerin Anette Harris schon einmal in Røros. Jetzt ist sie mit ihrem Mann Neil hergekommen. In den vergangenen Tagen haben die beiden das Eisangeln auf einem kleinen See ausprobiert, sind mit dem Schneescooter gefahren, haben das Grubenmuseum besucht und die Altstadt mit ihrer Bausubstanz aus dem 17. Jahrhundert erkundet. Das einzig Negative, was ihnen zu Røros und Norwegen im Allgemeinen einfällt, ist wenn überhaupt das Preisniveau.
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Aber heute ist eine Hundeschlittenfahrt durch die Winterlandschaft angesagt. Das darf gerne etwas kosten. Der Veranstalter Alaskan Husky Tours hat seinen Sitz in den Wäldern bei Os, eine halbe Stunde Autofahrt von Røros. Fünfzig gut trainierte Arbeitskollegen jaulen und kläffen erwartungsvoll, weil sie hoffen, für eines der insgesamt vier Schlittengespanne ausgewählt zu werden, die gleich starten sollen. An den Hundehütten hängen kleine Holzschilder mit den Namen der Sprinter und Nummern, die ihren jeweiligen Platz im Gespann verraten. »Wolf« freut sich, als Guide Ken Öien ihn aus seinem Hüttengeschirr befreit.
Ein paar Minuten später ziehen sechs vor Adrenalin strotzende Muskelpakete unser Gespann auf der Schlittenspur durch den Birkenwald. Das Einzige, was man hört, ist das Geräusch des Holzschlittens, der den Schnee durchschneidet, das Keuchen der Hunde und die Bremsen, die aus Gleisketten schneetauglicher Kettenfahrzeuge hergestellt sind.
Wir sind nach Røros gefahren, weil wir verstehen möchten, warum diese alte Grubenstadt und die Natur, die sie umgibt, immer mehr Besucher anlocken. In der Theorie ist der Ökotourismus, seit dieser Begriff Ende der Achtzigerjahre erfunden wurde, »everybody’s darling«: ökologisches Essen, unverfälschte Naturerlebnisse und Reiseformen, von denen die Bevölkerung vor Ort profitiert – was kann es Besseres geben?
In der Realität mussten die Veranstalter, die auf Ökotourismus setzten, lange gegen Widerstände ankämpfen. Im Wettbewerb mit Charterriesen und Billigfliegern, die in Schwärmen die Großstädte ansteuern, nimmt sich das kleine Hundeschlitten-Unternehmen, das Lunchboxen mit Rentierfleisch aus der Zucht des Nachbarn an seine Gäste verteilt, allzu bescheiden aus. Aber seit einigen Jahren dreht sich der Wind. Und eines der überzeugendsten Beispiele dafür liefert Norwegen mit der Kupferminen- und Weltkulturerbe-Stadt Røros.
Während viele norwegische Urlaubsorte um Gäste kämpfen müssen, verzeichnete Røros im vorigen Jahr einen Anstieg der Übernachtungszahlen um sechs Prozent, was insgesamt 300 000 Besuchern entspricht. Am stärksten hat das Interesse im Ausland zugenommen. Der Zustrom ausländischer Reisender wuchs um stolze achtzehn Prozent. Alles in allem wird Røros jährlich von etwa einer Million Menschen besucht, wenn man Tagestouristen und Ferienhausurlauber mitrechnet. Und doch hat man hier das authentische Gefühl, dass alles in einem überschaubaren Maßstab bleibt.
Wir machen Halt an einem zugefrorenen See, der mit einer feinen Puderschicht bedeckt ist. Die weite, flache Hochebene, die sich als Winterlandschaft vor uns ausbreitet, reflektiert glitzernd die Sonnenstrahlen. »Ich bin gern an der frischen Luft«, sagt Ken Öien, der sich nicht vorstellen könnte, an irgendeinem anderen Ort der Welt zu wohnen als in Røros. Ken arbeitet mit den Hunden, weil er Lust dazu hat, nicht um die anschwellenden Touristenströme zu bedienen, die nach Røros kommen. »Ich möchte den Rest meines Lebens so verbringen!«, sagt er.
Neue, alte Küche
Auch der Küchenchef und Unternehmer Mikael Forselius kann sich nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Dass der Ökogedanke und die lokale Produktion hier im Fokus stehen, ist zu einem großen Teil ihm zu verdanken. Zum Abendessen treffen wir uns im Restaurant des Røros Hotell, das ihm gehört. Der Vierzigjährige hat mehrere Kochbücher herausgegeben, eine eigene Kochsendung im norwegischen Fernsehen und betreibt eine Handvoll Hotels und Restaurants sowie eine Mikrobrauerei. Er hat sein halbes Leben in Røros verbracht und das Slowfood-Konzept hier eingeführt.
»Was die Küche betrifft, sind wir inzwischen ein Vorbild für ganz Skandinavien. Die Leute orientieren sich an dem, was wir in Røros machen«, sagt Mikael Forselius. Achtzig Prozent aller Produkte, die in seinen Restaurants serviert werden, stammen aus der Region. »Die Lämmer und die Kälber laufen frei herum. Wir haben drei Schlachtereien in Røros, was den Tieren lange Transportwege erspart. Wir kaufen viel Rentierfleisch und treiben damit die Preise in die Höhe, was wiederum den Sami zugutekommt«, fügt Mikael hinzu.
Bald schon sollen sämtliche Produkte aus Røros ökologisch erzeugt werden; das ist etwas, woran der Gastronom aktiv mitarbeitet. Er schildert den Gourmet-Tourismus als eine Wachstumsbranche: Zum Beispiel möchten immer mehr Leute die Butter und den Sauerrahm aus der Gegend probieren. Ohne Zweifel liegt er mit seiner Initiative voll im Trend. Inzwischen wird Røros sowohl als »die kulinarische Hauptstadt Norwegens« als auch als »die norwegische Toskana« bezeichnet und lockt Gourmet-Reisende aus aller Welt an.
Die Einheimischen profitieren
Das Rentierfleisch, das im Røros Hotell serviert wird, stammt aus der Gegend an der Reichsstraße 31, Richtung norwegisch-schwedische Grenze. Als wir dort ankommen, ist ein wenig abseits der Straße die Renschlachtung in vollem Gang. »Die Menschen leben heute bewusster, sie wollen gesunde Lebensmittel«, sagt der Same Toamma Dorra, während er einem frisch geschlachteten Ren das Fell abzieht. Die Felle werden für traditionelle Handarbeiten oder im Haus verwendet – oder an Touristen verkauft. Ein paar abgesägte Renköpfe färben den Schnee rot – sie werden gekocht und weiterverarbeitet, genau wie die meisten anderen Körperteile der Tiere. »Aus dem Geweih machen wir Messergriffe und Knöpfe, und ein Teil wird in Asien zermahlen, um zu Potenzmittel weiterverarbeitet zu werden«, erklärt Toamma Dorra lächelnd.
Ein weiteres Beispiel für lokal erzeugte Lebensmittel ist Galåvolden. Der Hof mit seinen 15 000 Legehennen ist ein bedeutender Eierlieferant für ganz Norwegen und produziert auch Speiseeis und Käse. Ingulf Galåen betreibt den Hof in der neunten Generation. Ohrenbetäubendes Gegacker und strenger Ammoniakgeruch schlagen uns entgegen, als wir eine der beiden Hallen betreten, in denen die Hühner frei herumlaufen.
Ingulf Galåen hebt einige von ihnen hoch und erklärt uns, dass sie nur pflanzliches Futter ohne Fischmehl erhalten. »Wir geben ihnen Mais, damit das Eigelb diese intensive Farbe bekommt«, sagt er. Auf einem Laufband werden jeden Tag 14 000 Eier transportiert – die Basis der hofeigenen Produktion. Die Eier haben einen ausgezeichneten Ruf und werden an viele Lebensmittelketten geliefert, aber auch an das Grand Hotel in Oslo. Immer häufiger, so erzählt uns Ingulf Galåen, fragen Kunden nach Produkten mit dem »Markenzeichen Røros« – wie zum Beispiel dem hausgemachten Käsekuchen. Man merkt, dass Ingulf noch längst nicht an seinen Ruhestand denkt – er brennt viel zu sehr für seine Arbeit. Für den Hof, der im Jahr 1721 erbaut wurde, gibt es große Erweiterungspläne: Sie umfassen auch eine eigene Schlachterei für die 300 Rinder. »Wir wollen anfangen, unsere Produkte zu exportieren«, berichtet er.
Preisgekrönte Destination
Die Mischung aus Eisangeln, Hundeschlittentouren und Gourmet-Erlebnissen mit Rohwaren aus lokaler Produktion hat sich nicht zufällig ergeben. Das erfahren wir von Hilde Bergebacken, Projektmanagerin bei »Destination Røros«, der lokalen Organisation für Wirtschaft und Tourismus.
Im Jahr 2010 wurde Røros als Pilotprojekt für eine nationale Initiative unter dem Motto »Bærekraftig Reiseliv« (dt. Nachhaltiges Reisen) ausgewählt. Die Initiative zielt darauf, dass ganze Touristenorte sich für Umwelt, Natur und Kultur engagieren, soziale Werte stärken und zugleich ökonomisch rentabel arbeiten sollen. Für Røros beinhaltete das Pilotprojekt staatliche Subventionen in Höhe von einer halben Million norwegischer Kronen im Jahr. Die Mehrheit der lokalen Tourismusunternehmer – vom Hotelbesitzer bis zum Hundeschlittenführer – haben sich dem Projekt angeschlossen. Im vorigen Jahr wurde die Kommune als nachhaltige Reisedestination zertifiziert, zusammen mit drei weiteren Mitstreitern in Norwegen. Dies ist weltweit einmalig.
Die Investition hat sich gelohnt. »Destination Røros« hat bereits zwei internationale Preise gewonnen: den Responsible Tourism Award von Virgin Holidays und den Tourism for Tomorrow Award des World Travel and Tourism Council .»Bis zu diesen Auszeichnungen», sagt Hilde Bergebacken, »hatte im Ausland noch kaum jemand von Røros gehört.«
Ski nicht vergessen
Im Winter kommen die Touristen aber nicht nur nach Røros, um die verschiedenen Zweige des Ökotourismus-Baums wachsen zu sehen. Die Gegend ist auch als Skitourengebiet bekannt und lockt viele Enthusiasten an. Vom Hotel aus kann man in wenigen Minuten das Fjell erreichen. Wir sind also keine Ausnahme. Ausgeruht, nach einem herzhaften Frühstück, fahren wir vierzig Kilometer nach Osten. In Vauldalen befinden wir uns rund tausend Meter über dem Meeresspiegel, und die Schneemenge ist hier beträchtlich größer als in Røros. Wir nehmen die Loipe, die gleich neben dem Parkplatz beginnt, um eine Tour über die Berge des Vauldalsfjells zu machen.
Der Storvigel überragt die Landschaft mit seinen gut 1 500 Metern, gefolgt von den Gipfeln Vigelstöten und Vigelpiken. Das ganze Gebiet steht unter Naturschutz. Wir hören das charakteristische Krächzen eines Raben, und als wir hochschauen, ist der schwarze Vogel direkt über uns. Die Route, die über die Baumgrenze hinaus auf die Hochebene führt, ist mit fünfzig Zentimetern Neuschnee bedeckt. Das Wachs gibt guten Halt, als wir den ersten Hang besteigen, den Kamm erreichen und auf dem flachen Plateau weitergehen. Die Sonne steht im Zenit, der Schnee lastet schwer auf den wenigen Zwergbirken, die hier oben wachsen. Unser Atem mischt Weiß ins Blau, lässt Eiskristalle in der knackig kalten Luft entstehen und füllt unsere Lungen mit reinem Sauerstoff, während wir unsere Skitour durch die norwegische Toskana fortsetzen.