Eine japanische Apnoe-Muscheltaucherin, die ohne Atemgerät nach Meeresfrüchten, Perlen und Seegras sucht – normalerweise würde man dieses Motiv wohl nicht inmitten der Schärenlandschaft an der schwedischen Westküste erwarten. Und doch ist die Meerfrau aus Fernost seit diesem Frühsommer für viele Besucher der Insel Tjörn, rund 50 Kilometer nördlich von Göteborg, zum nicht wegzudenkenden Blickfang geworden. In einer mehrtägigen Aktion hat die österreichische Künstlerin Isabella Toman die meterhohe Fassade einer alten Fischfabrik am Südhafen des Hauptortes Skärhamn bemalt.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Dort, wo früher weißes Wellblech schimmerte, strahlt heute das pastellfarbene Bild, das die Taucherin inmitten einer sagenhaften Unterwasserwelt zeigt. »Um japanische Meerfrauen ranken sich viele Mythen. Das Motiv passt deshalb sehr gut in dieses verwunschene Fischerdorf«, sagt Isabella, die als Künstlerin unter dem Pseudonym »Frau Isa« bekannt ist.
Wände erzählen Märchen
Insgesamt 34 Wandgemälde wurden im Rahmen des Street-Art-Projekts Artscape Saga in zwölf Gemeinden in der Region Göteborg erschaffen. Neben Industriegebäuden wurden vor allem mehrstöckige Wohnhäuser mit Sagenmotiven bemalt, denn das Thema der Kunstwerke lautet »Folksagor« (dt. Volksmärchen).
»Märchen aus aller Welt sind ein für alle Kulturen universelles Erzählformat. Artscape Saga ist eine Hommage an den Reichtum unserer Geschichten, Mythen und Volkssagen«, erzählt Tor Hedendahl, einer der Gründer von Artscape. Gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Wakeham hat er das Projekt vor fünf Jahren ins Leben gerufen, seitdem hat sich das Street-Art-Festival zum größten seiner Art in ganz Schweden entwickelt. Eine Non-Profit-Organisation steckt hinter dem Festival, dessen Ziel es ist, durch großflächige Kunstwerke an Wänden – Murals, wie sie in der Street-Art-Szene genannt werden – mehr Lebensqualität in die Städte zu bringen.
Im Gegensatz zum illegalen, reviermarkierenden Graffiti handelt es sich dabei um genehmigte Auftragsarbeiten, die ein Gebäude verschönern sollen. In tagelanger, aufwendiger Arbeit werden diese von den teilnehmenden Künstlern erschaffen – und sind als Teil des jeweiligen Ortsbildes jederzeit zugänglich. »Wir sind der Überzeugung, dass Kunst nicht nur etwas für Galerien und Museen ist, sondern ein Teil der Öffentlichkeit sein sollte. Mit den großen Wandmotiven haben wir aber noch ein zweites Ziel: Wir wollen die Menschen glücklicher machen«, sagt Tor.
Schwerer Beginn
Das Konzept, graue Fassaden in farbenfrohe Kunstwerke zu verwandeln kommt an: Nach Malmö in den Jahren 2014 und 2015, Göteborg 2016 und Värmland 2017 ist nun die Region um Göteborg mit Artscape Saga bereits die fünfte Auflage des Street-Art-Festivals.
Eine Künstlerin, die den Weg von Artscape von Anfang an begleitet hat, ist Elina Metso. Die Schwedin half bereits bei der ersten Ausgabe 2014 organisatorisch mit, 2016 und 2019 war sie selbst mit Motiven vertreten. Gerade zu Beginn sei der Weg für das Street-Art-Festival alles andere als einfach gewesen, erinnert sich Elina. »Die schwedischen Städte und Kommunen waren Street-Art gegenüber immer sehr konservativ eingestellt. Es gab strikte Regeln und für Künstler kaum Möglichkeiten, ihre Kunst auszuleben«, erzählt sie. Erst in den vergangenen Jahren hat sich das geändert – unter anderem wegen Initiativen wie Artscape. »Die Leute sehen nun, dass unsere Kunst die Städte bereichert. Entsprechend hat sich in Schweden in letzter Zeit viel zum Positiven verändert. Murals zeigen keine schockierenden Szenen. Vielmehr geht es darum, Menschen zu inspirieren, sie vom täglichen Leben abzulenken und ihre Fantasie anzuregen.«
Landkarte der Sagen
Im Rahmen von Artscape Saga malte Elina auf eine 14 Meter lange Wand in der Nähe der Schule von Hindås das Märchen einer alten Dame, deren Haus im Wald in Flammen aufgeht. »Jeder hat seinen eigenen Stil – dadurch, dass wir bei Artscape nicht nur lokale, sondern auch internationale Künstler einladen, entsteht so ein sehr fruchtbarer, inspirierender Mix. Normalerweise muss man nach Berlin oder London fahren, um diese internationalen Künstler zu sehen – aber wir bringen sie in die kleinen schwedischen Kommunen«, sagt Daniel. So wie die Werke der Südafrikanerin »Faith47«, die 2014 und 2017 bei Artscape teilgenommen hat. »Faith47 fing kurz nach dem Ende der Apartheid an, Züge in Südafrika zu bemalen. Diese Lebensgeschichte drückt sich natürlich in ihrer Kunst aus«, sagt Daniel.
Die verschiedenen Wandgemälde liegen in den jeweiligen Städten und Regionen großflächig verstreut und bieten damit auch Touristen die Möglichkeit, eine Gegend ganz neu zu entdecken. »Zu jedem Artscape gibt es eine eigene Landkarte, auf der die Werke eingezeichnet sind. So kommen Besucher an Orte, die sie vielleicht nie gesehen hätten«, sagt Daniel.
Kollektive Kreativität
Neben der zu bewundernden Street-Art werden im Rahmen der Festivals auch Workshops angeboten, bei denen Künstler wie Elina Metso den Umgang mit Sprayfarben erklären oder gemeinsam mit Interessierten neue Kunstwerke erstellen. »Der direkte Kontakt mit den Menschen ist ein wesentlicher Bestandteil der bei Artscape gezeigten Kunst«, sagt Isabella. Als sie die alte Fischfabrik am Hafen Skärhamns bemalte, war der ganze Ort auf den Beinen. »Am Anfang waren die Menschen noch sehr skeptisch, doch das hat sich sehr schnell geändert. Früher war dieses Gebäude ein lebloser Fleck in dieser schönen Landschaft. Heute ist es auch für Touristen interessant und sogar Reisebusse fahren daran vorbei«, sagt sie.
Aufgrund des hohen Zuspruchs in den jeweiligen Kommunen kommt es nicht überraschend, dass die Macher von Artscape bereits an neuen Ideen für die Zukunft des heute bekanntesten schwedischen Street-Art-Festivals tüfteln – auch wenn sich Daniel und Tor noch nicht so richtig in die Karten schauen lassen wollen. Was auch immer kommen mag, der Ansatz soll der gleiche bleiben: mit Kunst bis dato grauen Gebäuden ein neues Leben zu verleihen, Orte in magische Plätze zu verwandeln und Menschen damit vielleicht ein kleines bisschen glücklicher zu machen.