Vergebens versucht der Mann aus den Bergen das Tosen des Windes mit seiner Stimme zu übertönen. Die Polarnacht schimmert am westlichen Horizont. Die Landschaft wäre hypnotisierend schön anzusehen, wenn da nicht der »stiv kuling« wäre, ein Wind, der den Schnee an den Hängen des Steinskardstinden aufwirbelt. Eiskristalle stechen ins Gesicht wie feine Nadeln. »Sieh dir mal die Farben an«, wiederholt der Mann, der Torben Rognmo heißt. Vor ein paar Tagen hat es hier geregnet, nun sind die Berge vereist.
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Es ist Mitte Januar, das Ende der norwegischen Dunkelzeit »mørketid«. In Tromsø ist die Sonne im November unter den Horizont gesunken, bald wird sie hier wieder aufgehen. In vielen Fjorddörfern im Schatten der Berge werden die Bewohner auch nach dem offiziellen Ende der Polarnacht ein paar Wochen länger auf das Licht der Sonne warten müssen. Aber wie kommen die Menschen im Norden Norwegens mit der langen Dunkelzeit zurecht? Ganz gut, wenn man den Studien glauben mag: Hier leiden tatsächlich weniger Menschen an Winterdepressionen als im helleren Süden des Landes.
In der Region um Tromsø, auf dem 69. Breitengrad, dauert die Polarnacht fast zwei Monate. Es regnet 240 Tage im Jahr und ist meist so bewölkt, dass im Sommer, trotz der Mitternachtssonne, im Schnitt nur sieben Sonnenstunden am Tag zu verzeichnen sind. Zur Zeit der Wintersonnenwende nicht einmal Sonnensekunden. Anders als in Finnisch-Lappland, das dank des Kontinentalklimas mit langen Frostperioden in eine helle Schneelandschaft verzaubert wird, beschert der Golfstrom Küstenstrichen auf Meereshöhe, wie Tromsø, mildes Klima mit Temperaturen die meist um den Gefrierpunkt schwanken.
Die Regierung Norwegens stuft Tromsø als derart abgelegen ein, dass großzügige Regionalbeihilfen als Anreiz dienen sollen, nicht abzuwandern. Und dennoch: Umfragen zufolge leiden die Tromsøer weniger unter der Dunkelheit als die Menschen in Norwegens Hauptstadt Oslo. Auch Antidepressiva werden im Norden viel seltener verordnet. Was kann das restliche Skandinavien von den Tromsøern lernen, wenn es um den Umgang mit der Dunkelheit geht?
Rezept gegen Polarnachtsyndrom
Das Verhältnis der Tromsøer zur langen, finsteren Jahreszeit wurde mehrfach wissenschaftlich beleuchtet. Über knapp anderthalb Jahre wurden 13 000 Einwohner von Tromsø befragt, die angaben, zur Polarnacht zwar vermehrt unter Einschlafstörungen, jedoch nicht an melancholischen Verstimmungen zu leiden wie die Menschen im Süden Norwegens. Nur 7,4 Prozent der Befragten nannten in diesem Zusammenhang psychische Probleme, bei einem nationalen Durchschnitt von 11,4 Prozent. Die Forscher hielten es daher für wahrscheinlich, dass sich Klima, Erbgut und Kultur stärker auf das Polarnachtsyndrom auswirken als der bewohnte Breitengrad.
Torben Rognmo ist hauptberuflich Feuerwehrmann und arbeitet nebenbei für das Lawinenzentrum. Im Monat hat er sieben 24-Stunden-Schichten, die ihm viel Zeit lassen, um im Winter rauszugehen. »Zur Polarnacht sollte man zwei bis drei Stunden länger schlafen als sonst«, erklärt er. Viel Zeit an der frischen Luft und viel Schlaf sind Torbens Rezept, um gut durch den Winter zu kommen. Am einfachsten ist das im Kindesalter zu verinnerlichen, aber auch Erwachsene können es erlernen.
»Es geht darum, sich auf das Schöne da draußen zu konzentrieren.« Im Spätwinter wird jedoch selbst der optimistischste Tromsøer auf die Probe gestellt: Ende Januar endet die Polarnacht, aber erst etwa zwei Monate später schmilzt das Eis. Ohne Neuschnee.
Schaurig schön
Schon lange bevor die Winterdepression in den 1980er Jahren als medizinischer Begriff geprägt wurde, war die Winterdunkelheit für Menschen im Norden ein Thema. Mystik und Schauergeschichten rund um die Polarnacht finden sich in den Erzählungen der Nachtschatten der Tunturis des nordfinnischen Autors Samuli Paulaharju von 1934 wieder: »Heikun Piettar läuft auf seinen Skiern wie ums nackte Leben. Grimmig stößt er mit den Stöcken in den Harsch, krümmt den Rücken und schlittert vorwärts.«
In den auf samischer Volksdichtung basierenden Kurzgeschichten halluzinieren die Einwohner der Finnmark nachts von einem unsichtbaren Wesen, das sie auf ihren Skiern verfolgt, und Fischer ziehen liebeskranke Sirenengeister aus dem Nordpolarmeer. Wenn es in Finnland auf den November zugeht, flammt insbesondere im Süden des Landes die Furcht vor der Polarnacht und der damit verbundenen Schwere auf – und das, obwohl die Sonne dort noch nicht einmal in Rovaniemi, auf Höhe des Polarkreises, unter den Horizont sinkt. Selbst in Muonio im fast äußersten Norden Lapplands bleibt die Sonne für nur zwei Wochen unterhalb des Horizonts.
Schon lange bevor die Winterdepression in den 1980er Jahren als medizinischer Begriff geprägt wurde, war die Winterdunkelheit für Menschen im Norden ein Thema
Dennoch macht jedem dritten Finnen die Winterdunkelheit zu schaffen und ein Prozent der finnischen Bevölkerung leidet an Winterdepressionen. Der Antrieb reicht zu nicht viel mehr als zum Essen – das dafür aber reichlich. Aus agil wird schlapp und reizbar, träge und dick. Samuli Paulaharjus Sage schließt mit den Worten: »Dann fährt Piettar wieder über ein großes Feld. Dort ist ein schwarzer, bodenloser Wasserfall, eine gewaltige Schlucht, in der ein Mann für alle Ewigkeit verschwinden könnte, wenn er den langen Abhang in voller Fahrt hinuntersauste. Den Läufer erfasst plötzlich eine wilde Lust. Nun mag die elende Wanderung ein für alle Mal ein Ende nehmen.«
Dunkelzeit ist Farbenzeit
Der 421 Meter hohe Storsteinen, der sich über Tromsdalen erhebt, ist ein beliebtes Touristenziel, das viele mit der Seilbahn ansteuern. Die zu Eis gefrorene Schneedecke glitzert, als die Morgendämmerung dem Tageslicht weicht. Die meisten bleiben auf dem Aussichtsplatz stehen, um die auf der Insel ruhende Stadt zu fotografieren. Die Landschaft wird auf Deutsch und anderen mitteleuropäischen Sprachen bewundert.
Ragnhild Tresselt und Torill Gilje Oppistov sind hier, um zu wandern. Die Osloerin Torill besucht Ragnhild, die im Norden studiert. Während die beiden um eine spiegelglatte Fläche herumtänzeln, erzählt Torill von ihrer Tageslichtlampe – eine Errungenschaft, mit der auch Ragnhild liebäugelt. Aus einer anderen Richtung strömen weitere Einheimische ein. Ein Männertrio hoppelt den über 600 Meter hohen Fløya in Trekkingstiefeln hinab. Als nächstes rennt Else Böifot den vereisten Hügel hinunter.
»Dunkelzeit? Das ist für mich die Farbenzeit! Ich liebe die Polarnacht mit ihrem magischen Farbenspiel«, sagt Else, die heute Spikes unter ihren Turnschuhen befestigt hat. Sie ist nicht nur leidenschaftliche Joggerin, sondern fährt auch Ski und erinnert sich gerne zurück an ihre Skitour im vergangenen Dezember auf der im Westen von Tromsø gelegenen Insel Kvaløya.
»Auf dem Skittentinden kurz vor Weihnachten: ein Traum! Wir hatten sogar richtigen Puderschnee«, schwärmt sie. Elses Tipp für den tiefsten Winter ist es, die Dinge langsam angehen zu lassen. Eines ihrer weiteren Hobbys ist das
Eislochschwimmen. Bei einem Sprung in das eisige, dunkle Nordpolarmeer ist die Schwere der Polarnacht vergessen.
Freude auf den Winter
Die kalifornische Psychologie-Doktorandin Kari Leibowitz verabscheute den heimischen Winter und zog deshalb für ein Jahr nach Tromsø. Ihr Forschungsschwerpunkt damals wie heute: Konzepte des psychischen Wohlbefindens und ihre Übertragung auf die Bevölkerung. In der Winterdepressionsforschung war man immer davon ausgegangen, dass die dunkle Jahreszeit verhasst sei. Vor Ort bemerkte sie jedoch schnell, dass die Tromsøer mit ihrer Frage nach den belastenden Folgen der Dunkelheit nicht wirklich etwas anfangen konnten. Die meisten Einheimischen warten im November auf die ersten Schneefälle und den Beginn der Skisaison.
Je weiter nördlich die Teilnehmer lebten, desto positiver waren sie dem Winter gegenüber eingestellt. Die meisten Tromsøer wachsen mit dieser freudigen Haltung zum Winter auf
Kari entwarf daraufhin einen neuen Fragenkatalog, der auf die positive Grundhaltung der Norweger zur Dunkelzeit abzielte. Die Umfrage wurde in Oslo, Tromsø und auf Spitzbergen durchgeführt. Je weiter nördlich die Teilnehmer lebten, desto positiver waren sie dem Winter gegenüber eingestellt. Die meisten Tromsøer wachsen mit dieser freudigen Haltung zum Winter auf, aber Kari ist sich sicher, dass diese auch andernorts gelehrt werden könnte. Zurück in Kalifornien stellte die Forscherin fest, dass das Jahr in Tromsø sogar ihre eigene Einstellung zum Winter drastisch verändert hatte.
In der Nähe der Seilbahnstation sind Skispuren im vereisten Schnee zu sehen. Entstanden sind sie wohl bei Temperaturen um die null Grad und Regen. Die Spuren führen den Berg hinauf. Weiter unten an der Seilbahn wird klar, woher sie stammen. Erik Jaeger und Marin Holmneslet klettern dort auf Skiern bergauf, vor ihnen jeweils ein Alaskan Husky, ein Schlittenhund mit Geschirr. »Unser Haus liegt am Hang. Über den Hügel führt die beste
Strecke. Mit dem Auto müsste man einen Umweg fahren«, sagt Erik. Beide, in Tromsø geboren und aufgewachsen, verstehen die Aufregung um die Polarnacht nicht. Mit leisem Rascheln setzt das Paar seine Heimreise auf Skiern fort.