Stell dir vor, du läufst einen steilen Kiesweg hinauf. Schafsglocken bimmeln und der Wind streift dich mit einem kühlen Luftzug, den du dir sehnlich wünschst, da der Anstieg und die Kurven kein Ende zu nehmen scheinen. Schließlich findest du den Pfad, der dich über den Berg hinweg führt. Dein Blick fällt auf das endlose Meer und weiter auf einen ziemlich steilen Abhang. Weit unten erahnst du ein gelbes Haus an einem hübschen Sandstrand. Das Rauschen der Wellen kommt immer näher. Dann tauchen zwei weitere Häuser und die Ruine einer Scheune auf. Die letzten Menschen sind 1951 von Vetvika fortgezogen.
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Tückisches Ausflugsziel
In den vergangenen Jahren hat sich Vetvika zu einem beliebten Reiseziel für Einheimische und Menschen aus der Ferne entwickelt, was an einem friedlichen Sommerabend wie diesem leicht nachvollziehbar ist. Niemand aber kann genau sagen, warum. Vetvika wurde niemals irgendwo erwähnt, geschweige denn, in einer Touristenbroschüre als Ausflugsziel beworben. Es steht die Vermutung im Raum, dass all die Bilder in den sozialen Medien aus der wunderschönen Bucht am äußersten Ende von Norwegens Westspitze eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Nach Vetvika führen keine Wege. Entweder wanderst du aus der kleinen Gemeinde Svarstad acht Kilometer querfeldein oder du kommst über das Meer.
Einar Vetvik, 75 Jahre alt, ist der Eigentümer des gelben Gebäudes in der Bucht, das er dann und wann als Ferienhaus nutzt. Er hat bemerkt, dass der Strom von Besuchern, die hierherkommen, wächst und freut sich über neue Gesichter, hat jedoch in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass nicht alle gleichermaßen gut vorbereitet sind auf das, was sie in Vetvika erwartet. »Wenn du keinen Proviant und keine Kraft mehr übrig hast oder du schlecht ausgerüstet bist und ein richtiges Unwetter mit Sturm und Starkregen aufzieht, dann kann es tragisch für dich ausgehen in Vetvika. Das Wetter kann hier schnell umschlagen«, erzählt Einar.
Eines Sommers kamen drei Italiener und fragten Einar und seinen Sohn, wo sie etwas Essbares auftreiben könnten. Er lud sie zu den Resten seines Abendessens in sein Haus ein und am nächsten Tag bekamen die drei ein Frühstück. Als die Touristen nach Hause wollten, kroch der Nebel über den Berg und Einar schaffte es gerade noch, ein Telefonat zu führen, um einen Fischer dazu zu bringen, die Wanderer mit dem Schiff zu holen. »Wenn mein Sohn und ich nicht hier gewesen wären, weiß man nicht, wie das ausgegangen wäre. Vetvika hat zwei Gesichter: ein schönes, idyllisches und ein raues, erbarmungsloses.«
Vetvika hat zwei Gesichter: ein schönes, idyllisches und ein raues, erbarmungsloses.
Wenn das Wetter erst einmal zuschlägt, kennt es kein Erbarmen. Es hat viele Schiffbrüche gegeben und Fischer und andere Menschen, die mit dem Boot unterwegs waren, sind in Vetvika gestrandet und ums Leben gekommen. Die größte Tragödie, von der man weiß, traf eine Gruppe von Leuten, die im Jahr 1810 auf dem Weg nach Vetvika war, um Hochzeit zu feiern. Der Bräutigam aus der Bucht trotzte dem Wetter und fuhr von Vetvika aus mit dem Boot los, um, wie man vermutet, elf Gäste zu seinem Fest abzuholen. Die Gruppe kehrte nie mehr zurück und die schwangere Braut blieb ohne ihren zukünftigen Ehemann zurück.
Harte Arbeit auf den Höfen
Der 82-jährige pensionierte Seemann Kolbjørn Solheim verbrachte seine ersten 14 Lebensjahre in Vetvika. Er wuchs auf dem Bauernhof Solheim auf, der einer der größten auf der Insel Bremangerlandet war. Er weiß noch, dass die Arbeit hart und schwer war. »Wir Kinder mussten mithelfen, sobald wir dazu in der Lage waren. Im Sommer bei der Heuernte. Dann rechten wir und hängten das Gras zum Trocknen auf. Oder wir holten Milchkühe, die weideten. Eine Arbeit, die ich immer gerne gemacht habe, war das Buttern. Wir hatten große Fässer, die auf Schemeln standen, und darin haben wir Butter gemacht. Für einen kleinen Jungen konnte das harte Arbeit sein.«
Als er sieben Jahre alt war, zog er zu seinen Großeltern in Bremanger, um zur Schule zu gehen. Nach vier Jahren, als Vetvika eine Schule bekam, kam er jedoch wieder zurück nach Hause. Es waren vier Schüler und man nutzte die Wohnzimmer der Familien als Klassenzimmer. »In den Jahren, als wir in Vetvika eine Schule hatten, war der Lehrer 14 Tage hier und 14 Tage an einem anderen Ort. Wenn das Wetter es nicht zuließ, dass er mit dem Schiff geholt wurde, musste er zu Fuß über den Berg gehen. Das muss überaus strapaziös für ihn gewesen sein«, sagt Kolbjørn.
Aufgrund seiner versteckten Lage war Vetvika auch ein guter Ausgangspunkt, um im Zweiten Weltkrieg Leute nach Shetland hinüberzubringen. Der Ausreiseverkehr über diese Route lief lange Zeit gut, doch im Herbst 1942 war damit Schluss. Die Gestapo schlug zu und verhaftete zwei Männer: Ole Wilhelmsen Gangsøy und Ivar Matias Korneliusson Solheim, den Vater von Kolbjørn Solheim. »Ich erinnere mich gut daran, dass mein Vater gefangen genommen wurde, damals habe ich aber den Ernst der Situation nicht wirklich erkannt.« Ivar Solheim wurde nach Sachsenhausen gebracht. Dort saß er in einer Todeszelle und sollte hingerichtet werden, wurde jedoch in einer Rettungsaktion befreit. Ole Wilhelmsen Gangsøy, der im Häftlingslager Grini bei Oslo inhaftiert war, kam ebenfalls lebend zurück nach Hause.
Während die Sonne warme Strahlen über den weißen Sandstrand schickt, fällt es schwer, sich all diese Geschehnisse vorzustellen. Es hat Kolbjørn zeitweise große Überwindung gekostet, aber nun fährt er jeden Sommer hierher. Auch seine Söhne nutzen das Gebiet in den Ferien regelmäßig. »Das Haus ist heute in einem besseren Zustand als damals, als wir von hier fortzogen«, sagt er. Und es gibt einige Leute, die sich vorstellen können, in Vetvika ein Haus zu haben, um darin zu leben. »Letztes Jahr, als ich dort draußen war, habe ich mehr als 30 Zelte gezählt, das war irgendwie schön und irgendwie sonderbar.«