Die letzten Schritte sind die einfachsten und schwersten zugleich. Als John in der Ferne die Umrisse des Leuchtturms von Lindesnes erkennt, wird ihm bewusst, dass sie es geschafft haben. Noch einmal sammeln er und seine Hündin Kayla ihre Kräfte, um die finalen Meter ihrer langen, beschwerlichen Reise zurückzulegen. Die Wanderstiefel knirschen auf den massiven Steinstufen, die hinauf zu dem großen, weißen Turm führen, der der älteste seiner Art in ganz Norwegen ist. Doch hören tut man seine Schritte nicht – zu laut ist der begeisterte Jubel seiner Freunde und Familie, die seit Stunden hier auf John und Kayla gewartet haben.
Genau 130 Tage waren die beiden unterwegs, um vom Nordkap zum Kap Lindesnes – dem südlichsten Festlandpunkt Norwegens – zu wandern. Mehr als 2 700 Kilometer im Fjell, durch den Sommer hinein in den Herbst. »Und plötzlich sollte alles vorbei sein. Einerseits war ich sehr glücklich, aber irgendwie auch super traurig«, erinnert sich John an das Ende seines bisher größten Abenteuers.
Durch Norwegen zu wandern, ist ein Traum, den der heute 26-Jährige seit vielen Jahren hegt. John wächst in Jæren auf, einem Küstenort in Südnorwegen, der als die flachste Region des eigentlich für seine steilen Gebirgszüge und tiefen Fjorde bekannten Landes gilt. Auf einem Familienurlaub im Jotunheimen Nationalpark entdeckt er schon als Kind seine Liebe für die Berge. »So ist dann im Laufe der Zeit die Idee entstanden, Norwegen zu entdecken. Und was eignet sich dafür besser als eine Wanderung durch das ganze Land«, schmunzelt er. »Mein Arbeitgeber, der norwegische Outdoor-Ausrüster Bergans, hat mir dann die Rahmenbedingungen für dieses Abenteuer geschaffen – und so habe ich mit den Vorbereitungen begonnen.«
Einerseits war ich sehr glücklich, aber irgendwie auch super traurig.
Achterbahn der Gefühle
Der Startschuss fällt schließlich am 1. Juni 2021. Der Plan ist, jeden Tag 25 bis 30 Kilometer zu Fuß zu gehen – für vier Monate. Allein, auf Bergpfaden, über Ebenen und durch Wälder. Meist schlafen John und Kayla im Zelt, ab und zu eine Nacht in einer Wanderhütte, um zu duschen und Ausrüstung aufzufüllen.
Doch bereits auf den ersten Kilometern muss John erkennen, dass Abenteuer nicht immer geplant werden können. Sobald er den touristischen Trubel des Nordkaps hinter sich gelassen hat, fängt ihn die raue Wildnis Nord- norwegens mit ihrer gesamten Härte ein. Was zuerst romantisch wirkt, entpuppt sich als die erste große Herausforderung: Die Vegetation ist spärlich, die Distanzen zwischen den einzelnen Ortschaften sind riesig, Handyempfang gibt es nur selten. Die Einsamkeit – sie macht John zu schaffen. »Als ich am Nordkap anfing, war ich am meisten gespannt, ob ich körperlich stark genug für diese Reise bin. Im Laufe des Trips stellte sich allerdings heraus, dass die Wanderung viel mehr ein Kampf gegen den eigenen Kopf werden würde«, erinnert er sich.
John ist gerade eine Woche unterwegs, als er sich eines Abends schluchzend in seinem Zelt wiederfindet – und ans Aufgeben denkt. »Es klingt paradox, aber an einem Punkt habe ich sogar daran gedacht, eine Verletzung vorzutäuschen – nur um einen Grund zu haben, wieder heimzufahren«, sagt er. »Ich bin froh, dass ich es nicht gemacht habe.«
Ich hätte keine bessere Begleitung haben können als meinen Hund.
Eine Stütze in diesen Momenten ist für ihn Kayla. Die Border-Collie-Hündin hat nach einer Beinverletzung ein halbes Jahr zuvor selbst nicht den einfachsten Start, doch läuft tapfer jeden Tag weiter – und ist mit ihrer natürlichen Begeisterung fürs Draußensein ein Vorbild für John. Um Gewicht zu sparen, teilen sich die beiden den gleichen Teller. Später trägt Kayla sogar ihr eigenes Gepäck. »Eines ist sicher: Ich hätte keine bessere Begleitung haben können als meinen Hund«, sagt John. »Sie hat es immer wieder geschafft, mich zum Lachen zu brin- gen. Da war zum Beispiel dieses eine Mal: Kayla rannte vor mir her – und plötzlich konnte ich sie nicht mehr sehen. Ich habe versucht, nach ihr zu rufen, aber sie war weg. Nach kurzer Zeit hörte ich von irgendwo ein Winseln, konnte aber nicht sehen, woher es kam. Ich fing an zu suchen und fand sie auf dem Rücken liegend in einem Busch. Sie war hingefallen und konnte nicht wieder auf alle Viere zurückfinden, da ihr Rucksack zu groß und schwer war, um sich umzudrehen. Als verantwortungsvoller Papa musste ich erstmal ein Video machen, dann konnte ich ihr helfen«, schmunzelt John.
Auch die atemberaubende Landschaft macht schnell vieles wett: John hat in den ersten Wochen Glück mit dem Wetter, so gut wie jeden Morgen scheint die Sonne in sein Zelt. Er passiert Fjorde, Rentiere grasen friedlich auf den endlosen, von einem dünnen Grasteppich überzogenen Hügeln. John überwindet den Kampf mit sich selbst und geht weiter, gewöhnt sich an sein neues Leben als Nomade. 900 Kilometer legen er und Kayla im ersten Monat zurück – und erreichen bald die Lofoten.
John ist längst angekommen auf seiner Tour. Er fühlt sich frei, legt ab und zu sogar den ein oder anderen Umweg ein und erklimmt einige, der hier so zahlreichen schroffen Berge. Nicht selten schlägt er sein Zelt auf einem Gipfel auf, trinkt ein im Tal gekauftes Bier, isst Schokolade und genießt die endlosen Abende unter der Mitternachtssonne, an denen nie so ganz klar ist, wann der Sonnenuntergang endet und der Sonnenaufgang beginnt.
»Das war wohl die verrückteste Zeit der Tour: Manchmal habe ich in meinem Zelt unter tropischen Regengüssen geschlafen, an anderen Tagen saß ich bei strahlender Mitternachtssonne davor – so oder so sind es Erinnerungen fürs Leben«, berichtet er und bemerkt auch körperliche und geistige Veränderungen. »Ich habe an Gewicht verloren, obwohl ich viel mehr gegessen habe als sonst. Mein Gesicht sah aufgrund der starken Sonne oft aus wie ein roter Hummer. Auch der Rucksack war wahrscheinlich ein paar Kilo zu schwer. Aber ich bin frei – und Norwegen zeigt mir einige seiner besten Seiten.«
Auf den Spuren der Bären
Johns nächste Stationen sind Saltfjellet und Børgefjell, zwei der größten Nationalparks des Landes, bekannt für ihre unberührte Bergwelt. Erneut trifft er tagelang keine Menschenseele, doch dieses Mal empfindet er die Einsamkeit nicht als Last, sondern als Geschenk. »Ich habe gemerkt, dass ich auf dem Weg nicht nur immer besser mit den äußeren Umständen zurechtgekommen bin, sondern auch mit meinen Ängsten und Sorgen«, erzählt er.
Einmal lädt ein Rentnerehepaar ihn und Kayla zum Abendessen ein, wäscht seine Kleidung und ermöglicht ihm eine warme Dusche. Menschen jubeln ihm unterwegs zu und schenken ihm Schokolade – purer Luxus auf einer monatelangen Trekkingtour. »Ich habe auf meinem Instagram-Kanal regelmäßig über meine Reise berichtet, sodass mich immer mehr Leute unterwegs erkannt und mich unterstützt haben – auch das hat mir sicherlich irgendwo durch die schweren Momente geholfen«, sagt John.
Der letzte große Abschnitt von Johns und Kaylas Tour ist der Weg durch die Provinz Trøndelag und das Plateaufjell Hardangervidda – zwei Gegenden, in denen es durchaus auch zu Begegnungen mit Bären kommen kann. »Zum ersten Mal hatte ich Angst, im Zelt zu schlafen. Das waren einige unruhige Nächte«, sagt John, der unterwegs meist laut singt, um etwaige streunende Waldbewohner auf Distanz zu halten. »Zum Glück sind wir aber keinem begegnet«, schmunzelt er.
Dankbarkeit für den Moment
Brenzlig wird es von da an nur noch mit dem Wetter: Inzwischen ist es Spätsommer und im Dovrefjell und im Rondane-Nationalpark bekommen es die beiden zum ersten Mal mit Nachtfrost zu tun. Die großen Temperaturunterschiede sind die letzte große Hürde, ehe das Finale wartet: Nach dem Hardangervidda-Nationalpark geht es der flachen Küste entgegen.
Am letzten Samstag ihres Abenteuers erreichen Kayla und John nach 2 700 Kilometern Lindesnes. Es ist der 3. Oktober, als sie in der Ferne die Umrisse des Leuchtturms erkennen. »Ich wusste nicht wirklich, was ich in dem Moment fühlen soll. Auf einmal war alles vorbei. Ich habe gleichzeitig gelacht und geweint. Und Kayla ist einfach vorausgelaufen, um unsere Familie zu begrüßen«, erinnert sich John an den Weg hinauf zum Leuchtturm am Kap Lindesnes. Mehr als vier Monate auf Wanderschaft, einmal quer durch Norwegen – was bleibt von so einem Abenteuer? »Ich denke die Achterbahnfahrt – und letztendlich das beruhi- gende Gefühl, viel mehr meistern zu können, als man sich anfangs zutraut«, meint er. »Wir hatten nasse Tage, kalte Tage, langweilige Tage und frustrierende Tage. Aber das ist ganz normal und irgendwann habe ich begonnen, alles viel entspannter zu sehen, Gegebenheiten einfach anzunehmen und dankbar zu sein für den Moment. Nichtsdestotrotz hatten wir oft großes Glück. Und ich habe mich selbst ganz neu kenngelernt.«
Die schlimmste Nacht der ganzen Reise war übrigens die erste Nacht im heimischen Bett am Abend nach der Ankunft in Lindesnes, fügt John mit einem Augenzwinkern an. Zu sehr waren er und Kayla an das Schlafen im Zelt und das Leben draußen gewöhnt. Es dauert daher nicht lange, ehe sie auf ihre nächste Wande- rung aufbrechen. Der nächste große Trip soll bereits in diesem Sommer stattfinden.
John Hobberstad
Mit 26 Jahren hat John bereits zahlreiche Outdoor- abenteuer gemeistert. Insbesondere in Skandinavien waren er und seine Hündin Kayla in den letzten Jahren in vielen Gegenden unterwegs. Beruflich arbeitet John für den norwegischen Outdoor-Ausrüster Bergans. Auf Instagram berichtet er auf dem Kanal Eventyrgutten regelmäßig über seine Abenteuer. Vor Kurzem veröffentlichte er zudem sein Buch Mat på bål (dt. Essen am Feuer) über Kochrezepte am Lagerfeuer. Mehr zu John erfährst du auf seiner Homepage eventyrgutten.no