Zwischen zwei Gletschern, unweit einer brodelnden Quelle, steht eine Truppe junger Menschen auf dem Kopf. Es sind die Akrobaten des Sirkus Íslands bei ihrem täglichen Training. Ein Anblick, der vor noch nicht allzu langer Zeit wohl kaum mehr als eine Illusion hätte sein können, auf der Vulkaninsel knapp südlich des Polarkreises.
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»Vor 30 Jahren gastierte ein dänischer Zirkus regelmäßig in Reykjavík. Irgendwann kam er dann nicht mehr«, erzählt Daníel Hauksson, der seit der ersten Geburtsstunde des Sirkus Íslands Teil der Artistentruppe ist. »Seitdem traf man keine Akrobaten, Clowns und Jongleure mehr bei uns auf der Insel.« Daníel hat sich als Teenager selbst das Jonglieren beigebracht. Als er sich 2007 ein Einrad in Reykjavík kaufen wollte, hörte er davon, dass ein Clown aus Australien neuerdings Handstandklassen in der Stadt anbietet. Bei dem Clown handelte es sich um den australischen Strassenkünstler Lee Nelson, der sich während seiner Performancetour um die ganze Welt in eine Bar in Reykjavík verirrt hatte, wo er sich in eine Isländerin verliebte und nun mit ihr auf der Insel lebte.
Im Laufe der Zeit besuchten immer mehr junge Erwachsene, wie auch Daníel, die sich für die subkulturelle Stra.enkünstlerszene interessierten, die Akrobatiklektionen. Der Kurs von Lee wurde zum familiären Zufluchtsort und zur Keimzelle für ein alternatives Lebensmodell, aus dem Islands erster und einziger Zirkus hervorging.
Exponiert abgeschieden
»Im Jahr 2014 gingen wir mit Sirkus Íslands und 20 Artisten zum ersten Mal auf Tournee«, erinnert sich Daníel. »Bei unserer Premiere waren wir so nervös, dass alles schief lief. Ich sollte einen Zylinder mit dem Kopf fangen und habe es einfach nicht hinbekommen. Der Hut ist immer wieder zu Boden gefallen. Aber den Zuschauern hat es trotzdem gefallen. Sie haben bei jedem noch so misslungenen Trick applaudiert. Viele hatten eben noch nie zuvor eine Zirkusvorstellung besucht.«
Der Zirkus ist für viele eine große Bereicherung für das – vor allem außerhalb der Hauptstadt – kulturell recht begrenzte Angebot. Die Menschen besuchen die gleiche Vorstellung häufig mehrmals und legen dafür teilweise Hunderte an Kilometern zurück. Die Saison, in der es möglich ist, das große Zelt aufzustellen, ist kurz. Die Insel ist Sturm und Kälte in vielen Monaten schonungslos ausgesetzt. Ein einziges Mal hat der Sirkus Íslands es gewagt, das Zelt im Dezember in Reykjavík zu errichten. »Das war eine absolute Katastrophe. Der Wind wehte so heftig, dass wir es kaum verankern konnten. Während der Vorstellungen hatten wir manches Mal Angst, dass es von den Sturmböen davongerissen wird. Die Knoten an den Seilen waren nach ein paar Tagen so vereist, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Zehn Heizstrahler hatten wir aufgestellt, aber wir haben das Zelt einfach nicht warm bekommen, sodass Zuschauer und Artisten gleichermaßen froren«, erinnert sich Daníel.
Bei unserer Premiere waren wir so nervös, dass alles schief lief.
Im Juli und August, den hellsten und trockensten Monaten, tourt der Sirkus Íslands durchs Land und macht in den größten Städten der Insel, die in alle Himmelsrichtungen verstreut liegen, Station. Neben Reykjavík, Ísaör›ur, Akureyri, Selfoss und Keflavík möchte die Truppe in diesem Jahr auch kleinere Orte ansteuern und Menschen, für die eine größere Stadt in zu weiter Entfernung liegt, die Möglichkeit geben, ihre Shows zu besuchen. Da es in den winzigen, von Lava durchzogenen Ortschaften oft keine geeigneten Stellflächen gibt, werden dort Gemeindehäuser für die Vorstellungen genutzt. Auf Nummern, bei denen eine hohe Decke benötigt wird, müssen Zuschauer und Artisten dann verzichten.
Zweifel und Wandel
»Wir sind hier wahnsinning isoliert. Es ist schwierig, ein richtig gutes Training zu bekommen. Die meisten Länder haben eigene Akrobatikschulen. Ein paar von uns trainieren regelmäßig in der Zirkusschule in Rotterdam und bringen dann neue Tricks mit«, sagt Daníel. Die Truppe probt an jedem Wochentag für drei Stunden gemeinsam. Während der Hochsaison ganztägig. Einige erscheinen häufiger zum Training, andere seltener. Manchmal fehlt die Motivation. »Das isländische Wetter beeinflusst unsere Stimmung extrem. Ist es kalt und dunkel, dann sind auch wir steifer und unbeweglicher. Und wir fühlen uns oft niedergeschlagen und deprimiert. Dann fehlt die Energie zum Trainieren.«
Einige Künstler haben den Zirkus nach ei paar Jahren verlassen. Andere bleiben nur für eine Saison, dann zieht es sie weiter, um ihre eigenen Ideen zu verwirklichen und woanders ihr Glück zu finden. Wie die Tänzerin Nadja, die nach New York gegangen ist, um zu studieren. Oder die Akrobatin Unnur, die sich im Norden etwas Eigenes aufgebaut hat. »Oft dauert es Monate, bis ein bestimmter Trick sitzt. Manchmal kommen mir auch Zweifel und ich frage mich, was ich hier eigentlich tue. Dann habe ich daran gedacht, aufzuhören«, sagt Daníel. »Aber wenn du fühlst, dass du etwas kannst, was die meisten nicht können, und du dein Talent nutzt, dann gibt das unglaublich Kraft. Der Zirkus lehrt einen, dass die meisten Dinge möglich sind, wenn du nicht aufhörst, sie zu probieren.« Es sind die jungen Erwachsenen, die kopfstehen, Dinge hinterfragen, an sich glauben und auf der kollektiven Suche nach ihrem eigenen Weg sind. Und, vielleicht genau damit, die Zirkuswelt auf Island so hell zum Leuchten bringen.