Traditionelle Formen feiern in Schweden ein Revival. NORR stellt Künstler vor, die alte Scheunen, klassische Möbel und andere schöne Schätze aus der Vergangenheit zukunftstauglich machen.
DIE MEISTEN KENNEN das Dalapferd (Dalahäst) als holzgewordenes Wahrzeichen. In der Regel steht es einfach so da auf seinen keilförmigen Beinen, im roten Dress mit türkis-weißem Muster, und starrt stur geradeaus. Auf Shai Dahans Bildern jedoch verwandelt es sich in einen kraftvollen Mustang, auf dessen Rücken schwedische Könige oder Hofgardisten reiten, mitunter sogar Cowboys. Den Hintergrund bilden statt Postkartenlandschaften grobe Pinselstriche, verlaufende Farbkleckse und wilde Signaturen. »Ich will etwas malen, das die Leute kennen«, sagt der Graffiti-Künstler aus New York, der 2010 mit seiner schwedischen Frau ins Städtchen Borås östlich von Göteborg zog. Hier, wo »Straßenkunst in etwa so gewöhnlich ist wie ein Reh mitten in Manhattan«, hilft ihm das Dalapferd, seine Art von Kunst zu etablieren. Ein erfolgreiches Konzept, wie die fünf Einzelausstellungen in Borås, Göteborg und Stockholm beweisen.
Auch Anders »Lagombra« Jakobsen hat ein traditionelles Pferd aus Holz reanimiert. »Das ist die Neuinterpretation von Carl von Linnés berühmtem Plugghäst (Lernpferd) aus dem 18. Jahrhundert«, sagt er und zeigt auf die grellgelbe Kombination aus Hocker und Tisch. Anders baut gerade an seinem »Obstacle Course«, im »Satellit« der Kunsthalle Gustavsberg. Das ist eine Art Indoor-Abenteuerspielplatz für Kunstbegeisterte mit Leitern und Podesten, auf denen das Lernpferd und andere Objekte thronen. Lagombra ist bekannt für Holzskulpturen zwischen Kunst und Design, darunter auch seine Ikea-Mutationen, in denen er Möbel des schwedischen Herstellers zersägte und neu kombinierte. Außerdem hat er in Hede in Härjedalen nahe der norwegischen Grenze das »Institut für radikales Kunsthandwerk« (Hede Institut för Radikalslöjd, HIR) gegründet, wo er Workshops anbietet und neue Methoden in der Arbeit mit Holz erforscht.
RADIKAL HEISST FÜR Anders vor allem, sich nicht durch althergebrachte Handwerksregeln und -normen einschränken zu lassen. »Ich habe keine festen Formen im Kopf. Sie entstehen im Laufe des Prozesses. Und natürlich arbeite ich mit elektrischen Maschinen und Materialien, die mich kreativ voranbringen.« Er will sich klar abgrenzen von jenen Traditionalisten, »die irgendwo in einer Hütte im Wald sitzen und ewig mit dem gleichen Messer die gleichen Figuren schnitzen.« Ein bisschen Bewegung tut der Tradition offensichtlich ganz gut. Das haben nicht nur Shai und Lagombra verstanden, sondern auch der schwedische Kunsthandwerksverband SHR. Der feierte just mit Ausstellungen im ganzen Land sein 100-jähriges Bestehen und präsentierte sich als Institution, die Tradition und Moderne verbinden will.
Logo und Plakate zum Jubiläum wurden von der hippen Stockholmer Designagentur »Snask« produziert – in echter Handarbeit. Zukunftsweisender Programmpunkt war die Ausstellung »Undantag som bekräftar regeln« (dt. Ausnahmen, die die Regel bestätigen) in der Stockholmer Kunsthalle Liljevalchs, wo experimentelles Kunsthandwerk präsentiert wurde, darunter Kajsa Willners Teppich aus recycelten T-Shirts, Kristinn Peturssons Handtasche aus Drahtgeflecht oder das Sofa von Tomas Lundberg aus klassisch schwedischen Holzstühlen mit verwobenem Trikotstoff.
»Wenn Kunsthandwerk mit der Zeit gehen will, muss es sich auch zeitgemäß ausdrücken«, stellt SHR-Generalsekretärin Kerstin Andersson fest. »Und es muss Werkzeuge und Materialien anwenden, die zu diesem Ausdruck passen.«
UM DIESE ENTWICKLUNG zu fördern und jüngere Zielgruppen zu erreichen, lancierte der SHR passend zum Jubiläumsjahr auch die Internetseite »Zickermans Värld«. Namensgeberin ist Lilly Zickerman (1858-1949), schwedische Textilikone und mit ihrer 24 000 Bilder umfassenden Dokumentation der damaligen Kunsthandwerksszene quasi eine der ersten Modebloggerinnen der schwedischen Geschichte und Initiatorin einer Handarbeitsvereinigung. Ziel der Seite ist es, Do-it-yourself-Lifestyle und Handwerkskunst zu verbinden. Hier findet man neben innovativen Stickereien und geschreinerten Objekten auch kreative Recyclinglösungen.
Zur Freude von Shai Dahan und anderen Graffiti-Künstlern hat auch die Rubrik »Straßenkunst« ihren Weg auf die Internetseite gefunden. Hier stößt man auf Projekte wie Helena Barts »Schablonlåda«: Die Textilstudentin bemalte eine alte Scheune an der Landstraße zwischen Bollnäs und Söderhamn mit einem klassischen Tapetenmuster aus dem 19. Jahrhundert. »Ich will mehr Menschen in Kontakt mit der Kunsthand-werkskultur meiner Heimat bringen«, so Helena. Die Chancen dafür sind hervorragend: Mehr als 3 000 Autos passieren täglich die bunt bemalte Scheune.