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»Urban Exploration« ist eine neue, rasch wachsende Subkultur in Schweden. Ihre Anhänger schleichen zu Tausenden in verlassenen Wohnhäusern, verfallenen Fabriken und unkrautüberwucherten Vergnügungsparks herum. Wegbereiter war der promovierte Wirtschaftshistoriker Jan Jörnmark.
In der Biographie mancher Menschen gibt es ein eindeutiges »Vorher« und »Nachher«. Ein unerwartetes Ereignis – ein Autounfall, ein Lottogewinn, ein auffordernder Blick – hat bewirkt, dass das Leben eine völlig neue Richtung nahm. So war es auch bei dem Historiker Jan Jörnmark. In seinem Fall muss von gleich zwei Ereignissen die Rede sein. Am Anfang des dritten Jahrtausends war er ein angesehener Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg. Seine Doktorarbeit über den Zusammenbruch der westeuropäischen Kohle- und Stahlindustrie war 1993 positiv aufgenommen worden. Anschließend hatte er mehrere Bücher geschrieben, nach denen der Weg zum Professorentitel in mittleren Jahren vorgezeichnet schien. »Ich war ein Berufsakademiker mit einer gesicherten, komfortablen Zukunft«, resümiert Jan Jörnmark.
Ein Telefongespräch und eine Autofahrt sollten die Situation grundlegend verändern. Im Herbst 2002 rief ein guter Freund an, »einer von Schwedens Super-Ingenieuren«, wie Jan Jörnmark sagt, und berichtete, dass die Fabrik für Glasfaseroptik, die er einige Jahre zuvor gegründet hatte, nun schließen müsse. Für den Ingenieur war das keine persönliche Katastrophe. Er hatte nämlich im Mai des Jahres 2000 sein Unternehmen für schwindelerregende 800 Millionen Euro an eine amerikanische Firma verkauft. Die aber war nun so gut wie pleite. Jan Jörnmark, der gründlich erforscht hatte, wie es zugegangen war, als in den Kohle- und Stahlindustrien Europas rund zwei Millionen Arbeitsplätze verschwanden, hatte bei diesem Gespräch ein »Aha-Erlebnis«.
Früher dauerte es Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte, ein Unternehmen aufzubauen, das dann so hoch bewertet wurde wie die Fabrik für Glasfaseroptik im Jahr 2000. Abwärts konnte es natürlich schneller gehen. Aber in der Hysterie um Wachstum und Kollaps der IT-Blase kündigte sich etwas Neues an. »Mir wurde schlagartig klar, dass der Zugang zu neuen Techniken, die immer schneller, besser und billiger werden, unsere Gesellschaft von Grund auf verändern würde. Und dass wir bislang erst den Anfang dieser Veränderung erlebt hatten.« Gemeinsam mit seinem guten Freund, dem Super-Ingenieur, schrieb Jan Jörnmark unter dem Titel »Globala förkastningar (Globale Verwerfungen)« ein Buch zum Thema. Die größte schwedische Tageszeitung erwähnte es in ihren Weihnachtsempfehlungen für das Jahr 2004, aber die Resonanz blieb schwach. Das wiederum änderte sich mit dem zweiten Ereignis. Jan Jörnmark erzählt von dem Tag, der seinem Leben im Ernst eine neue Richtung gab. »Im Mai 2004 fuhr ich mit meiner Frau Carina durch das Gebiet Bergslagen in Värmland. Auf dem Weg nach Molkom erahnten wir aus dem Augenwinkel etwas Geheimnisvolles. Als wir nach einer Vollbremsung aus dem Auto stiegen, sahen wir, dass es keine Halluzination war. Vor uns lag ein verlassener, zugewachsener Volkspark.
UNWIDERRUFLICH VERSCHWUNDEN
Lindfors Folkets Park war in den sechziger Jahren einer der bekanntesten Vergnügungsparks in Schweden. In jener Zeit wurde das Vergnügen von diversen Behörden streng reglementiert. Die Tanzpaläste in den Großstädten erhielten nur selten die Genehmigung, Alkohol auszuschenken. Aber auf den Parkplätzen der ländlichen »Folkparkerna« floss der Schnaps aus mitgebrachten Flaschen. Der Automobilismus hatte sich auf breiter Front durchgesetzt, und junge Leute fuhren kreuz und quer durch Schweden auf der Jagd nach den besten Amüsierlandschaften. Trotz der zunehmenden Verstädterung und einer liberaleren Alkoholpolitik lockten die Volksparks auch in den achtziger Jahren noch Publikum an. Doch als Jan Jörnmark mit seiner Frau zwischen den verfallenen Bauten in Lindfors Folkets Park herumlief, begriff er, dass etwas typisch Schwedisches unwiderruflich verschwunden war. Ihm sollte bald klar werden, dass die Volksparks nicht die einzigen modernen Ruinen im ländlichen Schweden waren. Im Gegenteil. Mit der Digitalkamera seiner Frau ausgerüstet, machte er sich auf eine Entdeckungsreise, die bis heute andauert. Die erste Station war ein halb gesprengter Dammbau zwischen Göteborg und Malmö. »Wenn die Leute die Fotos sahen, glaubten sie, es seien Inka-Ruinen.« Es folgten aufgegebene Papierfabriken, die einst der Stolz ihrer Standorte gewesen waren, verlassene Landgasthöfe, die den Bau neuer Autobahnen nicht überlebt hatten, und Feriendörfer, die schließen mussten, als die schwedischen Urlauber ans Mittelmeer reisten. Für Jan Jörnmark wurde es zu einer regelrechten Obsession, dieses vergessene Schweden zu dokumentieren.
EINE SUBKULTUR ENTSTEHT
»Der Herbst 2005 und das folgende Jahr waren eine ganz unglaubliche Phase in meinem Leben. Es konnte passieren, dass ich ein paar verschwommene Bilder im Internet entdeckte, fünfhundert Kilometer quer durch Schweden fuhr und dann in einen zwanzig Meter hohen, kathedralenähnlichen Gasometer einstieg, den seit Jahrzehnten niemand mehr betreten hatte. Mir kommen fast die Tränen, wenn ich daran zurückdenke«, sagt Jan Jörnmark. Aber damals war er längst nicht mehr der einzige, den Schwedens moderne Ruinen anlockten. Die Subkultur, die »Urban Exploration« heißt, hatte sich in Detroit und in Belgien, wo es längst mehr geschlossene als neue Fabriken gab, bereits in den achtziger Jahren formiert. Der Sieg des Internets machte es möglich, dass die Enthusiasten untereinander Kontakt aufnahmen und Tipps über neue Entdeckungen austauschten. Schon vor der Reise nach Lindfors hatte Jan Jörnmark einige Zeit in der schwedischen Sektion dieses Internetforums verbracht. Aber im Unterschied zu anderen, die er »Ruinenromantiker« nennt, sah er die verfallenden Bauten im Licht seiner wirtschaftshistorischen Untersuchungen. Er erkannte, dass all diese untergegangenen Projekte nur Teile eines globalen Musters waren, in das sich auch die Firma seines Freundes, des Super-Ingenieurs, einfügte. Jan Jörnmark hatte seine sichere akademische Bücherwelt verlassen und sich in eine Realität begeben, deren Wände buchstäblich aufeinander zurasten.
KREATIVE ZERSTÖRUNG
Er richtete seine Website »Övergivna platser« (Verlassene Orte) ein, deren Besucher die Fotos der Ruinen betrachten, aber auch nachlesen konnten, was deren Zustand herbeigeführt hatte. Sie konnten Kommentare schreiben und sich gegenseitig weitere Orte empfehlen. Bald war »Övergivna platser« nicht nur in Schweden, sondern weltweit die meistbesuchte Website für Urban Exploration. (Jan Jörnmark ist übrigens mit dem Begriff nicht ganz glücklich, weil er sich seiner Meinung nach vor allem auf die Erforschung stillgelegter Tunnelsysteme und anderer Relikte in Großstädten bezieht.) Den großen Durchbruch erlebte Jan Jörnmark, als er kurz hintereinander zwei Bücher veröffentlichte: » Övergivna platser«, Band 1 und 2. Darin hatte er Aufstieg und Niedergang von etwa dreißig Orten gründlich recherchiert und künstlerische Fotos hinzugefügt, die Phantasie anregten.
Die Bücher wurden Bestseller. Alle schwedischen Zeitungen schrieben darüber und über das Thema als solches. Das schwedische Fernsehen produzierte eine Serie, in der Jan Jörnmark als Führer durch verlassene Bauten auftrat. Inzwischen widmen sich Tausende von Schweden der Suche nach modernen Ruinen. »Leider hat die öffentliche Aufmerksamkeit bewirkt, dass viele der Ruinen vom Verschwinden bedroht sind. Die Kommunen in ganz Schweden fürchten, dass solche Relikte ihrem Image schaden und die falsche Sorte Touristen anlocken könnten. Zur Zeit wird massenhaft abgerissen«, sagt Jan Jörnmark. In diesem Sommer hat er auf seiner Entdeckungsreise den nächsten großen Schritt gemacht: Er hat eine englischsprachige Website für moderne Ruinen aus aller Welt eingerichtet, die »Creative Destruction« heißt. »Ich hatte eine amerikanische Rankingliste der wichtigsten Wirtschaftsblogs gelesen und gesehen, dass meine schwedische Website unter den fünf besten war«, erklärt er. Denn so sieht er das, was im Jahr 2005 zu seinem Lebenswerk wurde – als eine Art Aufklärungsprojekt in Sachen Ökonomie. Er will erklären, wie der Kapitalismus wirklich funktioniert. »Creative Destruction« klingt für manche vielleicht wie der Name einer Rockband. In Wirklichkeit ist es aber ein Begriff aus der ökonomischen Theorie, der Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von dem österreichischen Volkswirtschaftler Joseph Schumpeter geprägt wurde.
SCHNELLER, GRÖSSER, WEITER
Sie besagt, kurz gefasst, dass der Kapitalismus von Investoren und Unternehmern vorangetrieben wird (auch Großkonzerne können diese Rollen übernehmen), die, sobald sie neue Geschäftschancen, neue Produktionsformen und bessere Vermarktungswege sehen, andere Betriebe unerbittlich verdrängen. »Des einen Brot, des andern Tod«, wie das Sprichwort sagt. Jan Jörnmarks moderne Ruinen erzählen die Geschichte von Unternehmen, Kommunen und Branchen, die zu spät oder unangemessen auf Ereignisse in ihrer Umgebung reagiert haben. Jörnmark meint, dass Globalisierung und Deregulierung, leichterer Zugang zu Risikokapital und immer schnellere Technik diese Prozesse beschleunigen: Der Kapitalismus werde in zunehmendem Tempo Betriebe entstehen lassen und wieder zugrunde richten.
WOHLSTAND FÜR ALLE?
Das steht im Gegensatz zu dem, was die etablierteste aller volkswirtschaftlichen Theorien behauptet – die neoklassische Schule (im alltäglichen Sprachgebrauch heißen ihre Anhänger die Neoliberalen). Nach dieser Theorie beinhaltet der Kapitalismus eine viel gemächlichere Entwicklung, die zu wirtschaftlichem Wohlstand für alle führt. Würde man alle hemmenden Gesetze, Regulierungen und Subventionen abschaffen und den Kapitalismus sich völlig frei entfalten lassen, so wird behauptet, könnte eine Art harmonisches Gleichgewicht entstehen, in dem Menschen und Unternehmen rationale Entscheidungen treffen, die ihnen selbst nützen – und zugleich dem Kollektiv.
Diese Theorie, zu deren bekanntesten Vertretern der Amerikaner Milton Friedman zählt, bildete in den letzten Jahrzehnten die Grundlage für viele politische Entscheidungen, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Joseph Schumpeter war kein Gegner des Kapitalismus, im Gegenteil. Aber in seinem Szenario sind die Verlierer weitaus in der Mehrheit, jedenfalls auf kürzere Sicht. Seit der jüngsten globalen Finanzkrise finden die Neo-Schumpeterianer, zu denen man Jan Jörnmark rechnen kann, zunehmend Gehör. »Wenn ich mit meinen Forschungen, meinen Büchern und meinen Websites dazu beitragen kann, dass die Menschen besser verstehen, was um sie herum passiert und was sie in Zukunft erwartet, bin ich sehr froh. Ich möchte die Entfremdung abbauen. Dafür tue ich das alles. Nicht, weil ich unbedingt über Zäune klettern und in verlassenen Gebäuden herumschleichen will. Auch wenn das manchmal so spannend ist, dass ich Gänsehaut bekomme«, sagt Jan Jörnmark und lächelt.