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Plötzlich interessieren sich alle für das stille Leben der Bäume, nicht nur in Deutschland und Schweden. Gabriel Arthur, Chefredakteur von NORR, hat sich nach seinem Besuch im Naturreservat Iglekärr in die neuesten, aufregendsten Forschungsergebnisse zu Ur- und Altwäldern vertieft.
Am 12. September 2016, einem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Montag, besuchte die NORR-Redaktion das Altwaldreservat Iglekärr nördlich von Göteborg. Wir wanderten mit dem Naturführer Leif Danielsson durch den lichten, hügeligen Kiefernwald und bauten unser Zelt am Waldsee Lilla Iglekärr auf. (Mehr über den Ausflug findet ihr in NORR Nr. 1/2017.)
Es war ein großer Tag für uns. Sechs Jahre lang hatten wir über unser Projekt NORR Green Partner die Stiftung Naturarvet unterstützt, um dieses kostbare Biotop vor der Abholzung zu retten. Einen Monat vor unserem Besuch war Iglekärr als Naturreservat ausgewiesen worden und das feierten wir, indem wir am Lagerfeuer mit einem rauchigen schottischen Malt-Whisky anstießen.
Iglekärrs Gammelskog ist etwa 75 Hektar groß – das entspricht ungefähr hundert Fußballfeldern. Hört sich vielleicht beeindruckend an, aber auf das ganze Land umgerechnet ist es fast gar nichts. Ein Wassertropfen im Ozean der schwedischen Wälder.
Warum ist es dann so wichtig, einen alten Wald wie diesen vor der Abholzung zu bewahren?
Hätte mir jemand damals am Lagerfeuer diese Frage gestellt, hätte ich vermutlich dasselbe geantwortet wie die meisten umweltbewussten Schweden, die gern ihre Freizeit im Wald verbringen: Weil es nur noch so wenige Altwälder gibt, die unter Naturschutz stehen. Sie machen gerade mal 3,5 Prozent der produktiv genutzten Waldfläche Schwedens aus. Sie sind die Heimat kostbarer bedrohter Pflanzen, Pilze und Tiere. Und sie müssen geschützt werden, weil es das physische und psychische Wohlbefinden des Menschen steigert, wenn er sich in der unberührten Natur dieser Wälder aufhält – das ist wissenschaftlich bewiesen.
Wenn jemand mir heute diese Frage stellt, dann kann ich gar nicht mehr aufhören zu reden.
Ein bahnbrechendes Buch
Genau am Tag unserer Fahrt nach Iglekärr wurde die schwedische Übersetzung von Peter Wohllebens Buch Das geheime Leben der Bäume veröffentlicht. Das Original war im Mai 2015 erschienen und, so der deutsche Verlag, überraschend zu einem Sensationserfolg geworden. Damit nicht genug: 2016 landete es auf der Spiegel-Bestsellerliste und war das meistverkaufte deutschsprachige Sachbuch, über das alle wichtigen Medien berichteten. Mittlerweile liegt die Anzahl der verkauften Exemplare, kaum zu glauben, bei 275 000.
Auch in Schweden ist das Buch ein großer Erfolg. Peter Wohlleben war zu Gast in der populärsten Talkshow des schwedischen Fernsehens, Skavlan, und wurde im Radio interviewt. Die größten Tageszeitungen schrieben ausführlich über den Autor und sein Werk und lobten es in höchsten Tönen. Auch bei uns ist es eines der meistverkauften Sachbücher.
Nach Stockholm zurückgekehrt, las ich das Buch mit leichten Schwindelgefühlen. Ich unterstrich Sätze, knickte Eselsohren in die Seiten und erzählte meinen Kindern so viele Details, dass sie anfingen, mich den »Baumliebhaber« zu nennen.
Zum Teil ist Das geheime Leben der Bäume einfach eine nützliche Biologielektion, in der man lernt, was bei Laub- und Nadelbäumen tatsächlich abläuft: Wie die Fotosynthese funktioniert, warum die Baumkronen sich zum Licht recken, wie die Fortpflanzung vor sich geht. Dass zum Beispiel eine Buche erst nach etwa 80 Jahren geschlechtsreif wird und ungefähr 1,8 Millionen Bucheckern abwirft, bevor sie im Alter von rund 400 Jahren stirbt. Und dass im Durchschnitt nur eine einzige dieser Bucheckern zu einer neuen, stattlichen Buche heranwächst. Oder dass Altwälder große Mengen Kohlendioxid aufnehmen und dadurch die Folgen des Klimawandels abmildern.
Aber was vor allem fasziniert, ist der Teil des Inhalts, auf den der Titel anspielt – das geheime Leben der Bäume. Das Leben, das wir Menschen nicht wirklich sehen können, weil es sich mit solcher Langsamkeit vollzieht (oder weil wir so gestresst sind): Wie Bäume untereinander Freundschaftsbande knüpfen, wie sie sich gegenseitig vor Gefahren warnen und zusammenarbeiten, damit die gemeinsam produzierte Biomasse so groß wie möglich wird.
Wohlleben schreibt, dass es Nadelwälder seit etwa 270 Millionen Jahren gibt und Laubwälder seit rund 100 Millionen Jahren. Der Mensch ist bedeutend jünger und ohne es direkt auszusprechen, deutet der Autor an, dass die Bäume sich zu einer höheren und intelligenteren Lebensform entwickelt haben als wir. Ein Baum scheint nämlich stets nach dem zu streben, was für den Wald in seiner Gesamtheit das Beste ist, und nicht für das einzelne Individuum. Angesichts der Tatsache, dass die acht reichsten Menschen der Welt genauso viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit, erscheinen solche Gedankengänge nicht ganz abwegig.
Dass das Buch in einem Waldland wie Schweden solchen Erfolg hat, liegt meiner Meinung nach auch daran, dass Wohlleben so liebevoll über den Wald schreibt. Er enthüllt Geheimnisse, die wir schwedischen Waldliebhaber schon intuitiv geahnt haben. Nach meinem Besuch in Iglekärr hatte ich mehrere Tage lang ein ungewöhnliches Gefühl von Harmonie. Inzwischen weiß ich, warum.
Die Welt unter dem Waldboden
Auf der anderen Seite des Atlantiks erregt die Waldforscherin Suzanne Simard ein ähnliches Aufsehen wie Wohlleben in Europa. Sie ist Professorin an der University of British Columbia in Vancouver und die Forschungen, die sie seit 25 Jahren sowohl im Labor als auch in den bis zu tausend Jahre alten Waldgebieten nördlich von Vancouver betreibt, sind in letzter Zeit auf zunehmendes Interesse gestoßen. Auch Peter Wohlleben weist in seinem Buch darauf hin. 2016 gab es eine Art Durchbruch: Im Juni hielt Suzanne Simard eine Ted-Talk-Vorlesung zum Thema »Wie Bäume miteinander reden«. Sie verbreitete sich rasch im Netz und erreichte über zwei Millionen Zuschauer. Am 30. Juli widmete Radiolab, das wichtigste populärwissenschaftliche Radio- und Podcastprogramm der USA mit rund 1,8 Millionen Hörern, der Waldforscherin die Sendung »From tree to shining tree«: Sie war eine der zehn erfolgreichsten des Jahres 2016.
Simard eröffnet keine so breite Perspektive wie Wohlleben, dringt aber dafür tiefer in ihren Gegenstand ein, was ihre Forschungen umso revolutionärer macht. Nach ihrer Auffassung haben Waldforscher sich bislang zu sehr auf das konzentriert, was oberhalb des Bodens passiert – also das, was für uns Menschen sichtbar ist – und dabei vernachlässigt, dass die interessantesten Dinge sich unter der Erdoberfläche abspielen, im Wurzelsystem. Beziehungsweise im Mycel, dem Vegetationssystem der Pilze (der Fruchtkörper, den wir pflücken und essen, macht ja nur einen kleinen Teil des Pilzes aus).
Suzanne Simard konnte nachweisen, dass die Bäume über ihr Wurzelsystem mit dem Pilzmycel zusammenarbeiten. Zwischen Bäumen und Pilzen findet eine Art Tauschhandel statt, bei dem Kohlenhydrate unter anderem gegen Wasser und Nährstoffe eingetauscht werden. Bäume, die unter besonders günstigen Bedingungen wachsen, können über das Mycel anderen, bedürftigen Bäumen Nährstoffe schenken. So versorgen und pflegen vor allem die richtig hochgewachsenen Exemplare, die über ihre großen Kronen besonders viel Kohlendioxid aufnehmen, die kleineren, die sich näher am Boden und im Schatten befinden. Suzanne Simard spricht von »Mutterbäumen«. Und zu guter Letzt: Über das Mycel kommunizieren die Bäume miteinander. Diesen Informationsaustausch nennt Simard ziemlich clever das »wood wide web«.
Ihre Forschungen lassen mich auf meinen Besuch im Altwald Iglekärr mit anderen Augen zurückblicken. Vielleicht ist die 250 Jahre alte Riesenfichte ein Mutterbaum für die strebsame, schlanke 130 Jahre alte Kiefer gleich daneben? Und über das Mycel des Riesen-Ritterlings gibt die Fichte womöglich Nährstoffe an die Kiefer weiter?
Haben Bäume eine Seele?
Weder Peter Wohlleben noch Suzanne Simard erwähnen, dass es auch Kritik gibt an ihrem Verfahren, durch Begriffe wie Intelligenz, Gedächtnis oder Mutterschaft den Wald zu »vermenschlichen«. Viele Forscher bestehen darauf, zwischen dem Pflanzen- und dem Tierreich eine klare Grenze zu ziehen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass einer der Sachbuchbestseller der Siebzigerjahre, Das geheime Leben der Pflanzen, im Nachhinein als eine Art New-Age- Mischmasch entlarvt wurde. Die Verfasser Peter Tompkins und Christopher Bird berichteten darin zum Beispiel, dass Pflanzen Musik genießen können (vor allem Mozart) und dass man mit ihnen sprechen kann.
Ich selbst besitze nicht die Kompetenz, um mich auf die Diskussion darüber einzulassen, ob Bäume intelligente und fühlende Wesen sind oder nicht. Aber ich finde, dass es sich lohnt, über folgende Frage nachzudenken: Sind Bäume wertvoller, wenn wir wissen, dass sie uns Menschen ähneln? Oder haben sie einen Wert an sich?
Nachdem ich das Buch gelesen, Artikel im Netz durchgeackert, mir Podcasts angehört und Dokumentarfilme angeschaut habe, trage ich vor allem eine Erkenntnis mit mir herum: Wenn Peter Wohlleben, Suzanne Simard und andere Experten von den faszinierenden Eigenschaften der Bäume erzählen, sprechen sie nicht von gewöhnlichen Wäldern. Sondern von den Resten der Ur- und Altwälder, die sich in der industrialisierten Welt noch erhalten haben.
In den angepflanzten Nutz- oder Wirtschaftswäldern werden die Bäume verstümmelt und leiden, meint Peter Wohlleben, und er vergleicht das mit der industriellen Tierhaltung. Umgekehrt, schreibt er, geht es einem Wald richtig gut, wenn er »freigelassen« wird. Die geschützten schwedischen Altwälder sind also für die Bäume das, was die großen Nationalparks in Afrika für bedrohte Tierarten sind. In Iglekärr und anderen Altwaldreservaten dürfen die Bäume ihr geheimes Leben voll ausleben.